Entscheidungsstichwort (Thema)
Abmahnung eines Betriebsratsmitglieds
Normenkette
BetrVG 1972 § 37 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 10. Januar 1996 – 3 Sa 566/95 – wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, eine dem Kläger erteilte Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen.
Der Kläger ist bei der Beklagten als Betriebsschlosser und Einrichter beschäftigt und Mitglied des siebenköpfigen Betriebsrats. Am Freitag, dem 11. November 1994, wurden die Betriebsratsmitglieder zu einer am Montag, dem 14. November 1994, ab 10.00 Uhr stattfindenden Betriebsversammlung geladen, bei der es sich um die von Donnerstag vorverlegte turnusmäßige Sitzung handelte. Am Montagmorgen, kurz nach Schichtbeginn um 6.00 Uhr, wies der Kläger seinen Schichtmeister darauf hin, daß er ab 10.00 Uhr an der Betriebsratssitzung teilnehmen werde. Daraufhin versuchte der Abteilungsleiter vergeblich, den Kläger von der Teilnahme an der Sitzung mit der Begründung abzuhalten, er müsse wegen einer Einweisung des Herstellers in die neue Schweißanlage in Halle 1 den dortigen Vorarbeiter, den Einrichter und ihn vertreten, da sie alle von 11.00 Uhr bis 13.00 Uhr an der Einweisung teilnehmen würden. Um 8.15 Uhr versuchte daraufhin der Abteilungsleiter, den Betriebsratsvorsitzenden von der Dringlichkeit der Anwesenheit des Klägers in Halle 1 zu überzeugen. Der Betriebsratsvorsitzende beschied jedoch den Abteilungsleiter dahin, daß er dieses gar nicht hören wolle und der Kläger um 10.00 Uhr in der Sitzung sei; alles andere sei vertane Zeit.
Der Kläger nahm an der Betriebsratssitzung teil, die von 10.00 Uhr bis 13.50 Uhr dauerte. Am 15. November 1994 fand ein Personalgespräch statt, an dem auch der Betriebsratsvorsitzende teilnahm und das Verhalten des Klägers billigte. Mit Datum vom 21. November 1994 erhielt der Kläger von der Beklagten folgendes Schreiben:
„Ihr Arbeitsverhältnis/Abmahnung
Sehr geehrter Herr S.,
wir kommen auf das mit Ihnen am 15.11.94 in der Personalabteilung geführte Gespräch zurück. Anlaß dieses Gespräches war die Tatsache, daß Sie am 14.11.94 in der Zeit von 11.00–13.00 Uhr nicht an Ihrem Arbeitsplatz waren, obwohl Sie für diesen Zeitraum nicht abkömmlich waren.
Zum Hintergrund:
Am 10.11.94 und 11.11.94 wurde in der Abteilung „Mittel- und Großserie”, in der Sie beschäftigt sind, eine neue Schweißanlage installiert.
Am 14.11.94 war in der Zeit von 11.00 bis 13.00 Uhr eine Schulung seitens des Herstellers, in der neben der allgemeinen Unterweisung bzgl. der Anlage auch entsprechende Detail fragen erläutert wurden.
Um einen für die Zukunft reibungslosen Betrieb der Anlage zu gewährleisten, nahmen neben dem zuständigen Ingenieur und den Schichtmeistern auch ein Vorarbeiter der Schicht sowie ein weiterer Mitarbeiter (Einrichter) der Abteilung, der über besondere Schweißkenntnisse verfügt, an der Schulung teil.
Somit war für den o.g. Zeitraum – außer Ihrer Person – kein weiterer Vorarbeiter oder Einrichter vor Ort, der den Bereich „Löten, Schweißen und Dichtheitsprüfung” hätte betreuen können. Nachdem Sie am Morgen des 14.11.94 Ihren Meister – Herrn H. – darüber informierten, ab 10.00 Uhr für den Betriebsrat tätig sein zu müssen, erläuterte der zuständige Leiter der Abteilung – Herr M. – Ihnen, daß Sie aufgrund der Schulung der anderen Mitarbeiter der Abteilung nicht abkömmlich seien. Um kurz vor 10.00 Uhr wurden Sie erneut von Herrn M. darauf hingewiesen, daß Sie in der Zeit von 11.00 Uhr bis 13.00 Uhr an Ihrem Arbeitsplatz verbleiben müßten.
Ihnen wurden die möglichen Folgen Ihrer Abwesenheit verdeutlicht:
- * mögliche Produktionsstillstände wegen Maschinenstörungen;
- * mögliche Produktionsstillstände wegen nötiger Umrüstarbeiten;
- * keine qualitative Überprüfung des Fertigungsprozesses;
- * keine Überprüfung von Durchschnittsarbeiten;
- * keine eventuell notwendige Einarbeitung von Mitarbeitern in neue Aufgabengebiete durch Sie gewährleistet;
- * generell fehlende Produktions-Beaufsichtigung.
Trotz des zweimaligen Hinweises durch Ihren Vorgesetzten auf Ihre Unabkömmlichkeit, seiner Ausführungen hinsichtlich möglicher Schädigungen im Produktionsbetrieb und seines Verweises auf arbeitsrechtliche Konsequenzen bei einem Fernbleiben vom Arbeitsplatz, waren Sie für den o.g. Zeitraum nicht an Ihrem Arbeitsplatz.
Obwohl Ihnen bekannt war, daß in dem Zeitraum 11.00–13.00 Uhr kein weiterer Vorarbeiter oder Einrichter verfügbar war und Sie der einzige Einrichter der Abteilung waren, der die entsprechenden Aufgaben übernehmen konnte, wurde die betriebliche Notwendigkeit Ihres Arbeitseinsatzes von Ihnen ignoriert.
Für die Dauer Ihrer Abwesenheit von Ihrem Arbeitsplatz läßt sich Folgendes festhalten:
- * es fand keine erforderliche qualitative Überprüfung des Fertigungsprozesses statt;
- * eine Überprüfung von Durchschnittsarbeiten unterblieb;
- * die notwendige Einarbeitung eines Mitarbeiters in ein neues Aufgabengebiet erfolgte nicht durch Sie, sondern mußte von einem weniger qualifizierten Mitarbeiter notdürftig erfolgen;
- * es bestand für den genannten Zeitraum keine Beaufsichtigung der Produktion.
In dem mit Ihnen in der Personalabteilung geführten Gespräch, konnten Sie keine nachvollziehbaren Gründe für Ihre Abweisenheit darlegen.
Sie erklärten vielmehr, daß Sie erkannt hätten, daß auch betriebliche Interessen existieren – haben aber dennoch wegen der Erwartungshaltung des Betriebsrates die von Ihnen sehr wohl erkannten betrieblichen Interessen hintangestellt.
Dieses rechtsmißbräuchliche Verhalten ist uns um so mehr unverständlich, als wir Sie in der Vergangenheit für Ihre Arbeit als Betriebsrat immer in großzügiger Weise freigestellt haben. Schon aus dieser Tatsache hätten Sie erkennen müssen, wie dringend wir Sie in diesem Fall benötigten.
Aus den genannten Gründen mahnen wir Sie hiermit wegen der Mißachtung Ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten strengstens ab und machen Sie gleichzeitig darauf aufmerksam, daß wir bei einem nochmaligen Verstoß gegen Ihre arbeitsvertraglichen Pflichten die Kündigung des Arbeitsverhältnisses prüfen werden.
Hochachtungsvoll”
Der Kläger hält die Abmahnung für ungerechtfertigt. Er hat behauptet, am 14. November 1994 seien in Halle 1 noch zwei im Schweißverfahren geschulte Einrichter anwesend gewesen. Außerdem hätten in Halle 2 insgesamt acht Einrichter und in Halle 3 fünf Einrichter gearbeitet. Es sei nicht nachvollziehbar, warum gerade er, der über keine speziellen Schweißkenntnisse und Kenntnisse in der Produktionsüberwachung verfüge, unbedingt für den zur Schulung abgestellten Einrichter habe tätig werden sollen.
Der Kläger hat beantragt,
das Abmahnungsschreiben vom 21. November 1994 ersatzlos aus der Personalakte des Klägers zu entfernen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat im wesentlichen geltend gemacht, die Anwesenheit des Klägers in Halle 1 sei unbedingt erforderlich gewesen. Die anderen anwesenden Einrichter hätten keine für die Arbeitsüberwachung ausreichenden Schweißkenntnisse gehabt. Sie habe sich auch nicht anders einrichten können, weil sie erstmals am 14. November 1994 von der anberaumten Betriebsratssitzung gehört habe.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des Ersturteils. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet, denn das Abmahnungsschreiben vom 21. November 1994 ist aus der Personalakte zu entfernen. Die vom Landesarbeitsgericht gegebene Begründung rechtfertigt die Verurteilung der Beklagten zwar nicht; im Ergebnis ist das Berufungsurteil jedoch richtig.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung, die Abmahnung sei aus der Personalakte zu entfernen, darauf gestützt, dem Kläger könne keine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung vorgeworfen werden. Hierbei hat es entscheidend darauf abgestellt, daß der Kläger keinen Beurteilungsspielraum gehabt habe, ob er der ihm aufgetragenen beruflichen Tätigkeit nachgehen oder an der Betriebsratssitzung teilnehmen müsse. Denn betriebliche Notwendigkeiten reichten nicht aus, um die Teilnahmeverpflichtung eines Betriebsratsmitglieds an einer Betriebsratssitzung zurücktreten zu lassen; dies sei vielmehr nur bei einer betrieblichen Notsituation, wie z.B. Überschwemmung oder Feuer, der Fall. Eine derartige betriebliche Notsituation habe die Beklagte nicht dargelegt.
II. Der vom Landesarbeitsgericht aufgestellte Rechtssatz, die Verpflichtung eines Betriebsratsmitglieds zur Arbeitsleistung könne nur in den eng begrenzten Fällen einer betrieblichen Notsituation Vorrang vor der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Betriebsratssitzung haben, ist mit § 37 Abs. 2 BetrVG nicht vereinbar. Nach dieser Vorschrift sind Betriebsratsmitglieder von ihrer beruflichen Tätigkeit nur insoweit befreit, als dies zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist. Gegenstand dieser vom Betriebsratsmitglied unter Wahrnehmung seines Beurteilungsspielraums vorzunehmenden Erforderlichkeitsprüfung ist demnach nicht nur die Notwendigkeit der zu verrichtenden Betriebsratsarbeit, sondern gerade auch, ob diese Betriebsratsarbeit die Nichtleistung der beruflichen Tätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt erforderlich macht. Grundsätzlich sind also die Dringlichkeit der beruflichen Tätigkeit und der Verrichtung von Betriebsratsarbeit gegeneinander abzuwägen. Der Senat hat bereits im Urteil vom 15. März 1995 (– 7 AZR 643/94 – AP Nr. 105 zu § 37 BetrVG 1972) dargelegt, daß betriebsbedingte Gründe eine zeitliche Verlegung der Betriebsratsarbeit bedingen können.
Im Entscheidungsfalle stand zwar der Zeitpunkt fest, in dem der Kläger an der Betriebsratssitzung teilnehmen mußte. Auch dies kann jedoch in Fällen eines dringenden betrieblichen Bedürfnisses an der Arbeitsleistung das Betriebsratsmitglied nicht von der Abwägung entbinden, ob seine Teilnahme an der Betriebsratssitzung so wichtig ist, daß sie auch die Nichtleistung der dringenden beruflichen Tätigkeit im Sinne des § 37 Abs. 2 BetrVG erforderlich macht. Im Zweifel wird zwar die Teilnahme an der Betriebsratssitzung den Vorrang haben. Wenn aber in der Sitzung keine wichtigen oder keine sonstigen Fragen zu behandeln sind, die die Teilnahme gerade dieses Betriebsratsmitglieds erfordern, kann es in Fällen einer betrieblichen Unabkömmlichkeit des Betriebsratsmitglieds durchaus sachgerecht sein, das Betriebsratsmitglied als an der Teilnahme verhindert anzusehen, so daß an seiner Stelle ein Ersatzmitglied an der Betriebsratssitzung teilnimmt.
III. Für den Entscheidungsfall läßt sich angesichts fehlender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht beurteilen, zu welchem Ergebnis eine solche Abwägung führen würde. Dennoch bedarf es keiner Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht, weil die Abmahnung schon deshalb aus der Personalakte zu entfernen ist, weil sie sich inhaltlich in wesentlichen Punkten als unrichtig darstellt.
1. Die Abmahnung erwähnt nicht, daß der Kläger an einer zeitlich festgelegten Betriebsratssitzung teilnahm, sondern erweckt den Eindruck, daß sich der Kläger eigenmächtig entschieden habe, von ihm für erforderlich gehaltene Betriebsratstätigkeit gerade jetzt trotz der anstehenden dringlichen Arbeitsaufgaben zu entfalten.
2. Das Abmahnungsschreiben schildert breit, wie wichtig und unaufschiebbar die vom Kläger zu verrichtenden betrieblichen Tätigkeiten gewesen seien und wie eindringlich dies dem Kläger vor Augen geführt worden sei. Den Umstand, daß sich der Kläger insbesondere durch den auf ihn ausgeübten und der Beklagten bekannten Druck des Betriebsratsvorsitzenden befand, berücksichtigt sie demgegenüber nur durch den Hinweis auf die Erklärung des Klägers, er habe wegen der „Erwartungshaltung des Betriebsrats die von ihm sehr wohl erkannten betrieblichen Interessen hintangestellt”. Dies verstärkt den unrichtigen Eindruck, daß der Kläger eine von ihm nahezu zwingend zugunsten der betrieblichen Tätigkeit zu treffende Entscheidung leichtfertig anders getroffen habe.
3. Vor allem aber erweckt das Abmahnungsschreiben den unrichtigen Eindruck eines isolierten Konflikts zwischen der Beklagten und dem Kläger über dessen Arbeitspflicht, während es sich in Wahrheit um eine bloße Folgeerscheinung eines gespannten Verhältnisses der Beklagten zum Betriebsrat bzw. dessen Vorsitzenden handelte. Die Beklagte hat in der Abmahnung unerwähnt gelassen, daß sie unter Hinweis auf die angebliche Unabkömmlichkeit des Klägers vergeblich versucht hatte, den Betriebsratsvorsitzenden zu einer Verlegung der Sitzung zu veranlassen. Sie hat auch nicht erwähnt, daß der Betriebsratsvorsitzende in dem Personalgespräch vom 15. November 1994 die Teilnahme des Klägers an der Betriebsratssitzung ausdrücklich gebilligt hat. Die Meinungsverschiedenheiten, die die Beklagte mit der vorliegenden Abmahnung zu lösen versuchte, bestanden mithin keinesfalls nur über das Verhalten des Klägers, sondern betrafen in erster Linie das Beharren des Betriebsratsvorsitzenden auf seiner Terminsplanung und seinen Vorstellungen über die Teilnahmepflicht des Klägers. Damit erklärt sich das Verhalten des Klägers – auch für die Beklagte erkennbar – in erster Linie nicht aus einer möglichen Verkennung seines eigenen Beurteilungsspielraums, sondern aus einem Zwiespalt zwischen der eigenen Beurteilung der Erforderlichkeit seiner Betriebsratstätigkeit und seiner Loyalität zu deren Beurteilung durch den Betriebsratsvorsitzenden. Diesem Hintergrund hätte die Beklagte in der Formulierung ihrer Abmahnung zumindest durch die Erwähnung der Haltung des Betriebsratsvorsitzenden Rechnung tragen müssen. Durch das Weglassen dieses für die Würdigung des Verhaltens des Klägers zumindest mitentscheidenden Hintergrundes entsteht der Eindruck einer vom übrigen Betriebsrat isolierten Anmaßung des Klägers, trotz dringender Arbeitsaufgaben Betriebsratstätigkeit leisten zu wollen. Da dieser Eindruck falsch ist, ist die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen.
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dörner, Steckhan, Schmidt, J.-P. Haeusgen, Jubelgas
Fundstellen