Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS
Normenkette
Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2; BGB § 626
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Thüringer Landesarbeitsgerichts vom 2. Juli 1996 – 5 Sa 425/95 – aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Suhl vom 16. Februar 1995 – 2 Ca 2344/94 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
VonRechtswegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung, die der Beklagte auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag (künftig: Abs. 5 Ziff. 2 EV) bzw. auf personen- und verhaltensbedingte Kündigungsgründe im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG stützt.
Der im Jahre 1942 geborene Kläger war seit 1973 Lehrer im Staatsdienst der ehemaligen DDR. Zuletzt unterrichtete er die Fächer Sport und Sozialkunde.
Am 16. Dezember 1970 unterzeichnete der Kläger eine von ihm gefertigte handschriftliche Verpflichtung zur konspirativen Zusammenarbeit mit dem MfS. Er wählte für sich den Decknamen „W”. Der Kläger war dann bis zum 14. Februar 1989 als Inoffizieller Mitarbeiter (Kategorie IMS – Inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit – Perspektive IMV – Inoffizieller Mitarbeiter mit vertraulichen Beziehungen zu im Vorgang bearbeiteten Personen) beim MfS erfaßt. In dieser Zeit gab er, mit Unterbrechungen von 1975 bis zum 3. Mai 1983 und vom 4. März 1985 bis zum 19. Oktober 1986, Informationen zu Personen und nahm Personeneinschätzungen vor. Weiterhin berichtete er zu Stimmungen und Meinungen bei politischen Ereignissen. 13 mit Decknamen unterzeichnete Treffberichte schrieb er selbst. Die Akte des Klägers enthält weitere 36 Treffberichte des Führungsoffiziers und weitere 49 Treffberichte des Führungsoffiziers nach Angaben des Klägers.
Der Beklagte hat vier handschriftliche Berichte des Klägers vorgelegt: Der Bericht vom 24. Mai 1973 enthält eine Einschätzung des DTSB-Kreisverbands Suhl und bemängelt die dortige ungenügende ideologische Abgrenzung zum westdeutschen Sportgeschehen. Im Oktober 1973 schätzte der Kläger einen Volleyball-Nationalspieler ein, informierte über dessen Elternhaus, die Vorstrafe sowie das Talent eines Familienmitglieds und machte Angaben über die Freundin, deren großzügigen Lebenswandel und sexuelle Auffälligkeit. Am 11. Dezember 1973 berichtete der Kläger über den Inhalt eines Päckchens, das er von einem westdeutschen Sportler erhalten hatte, und über den Inhalt eines Telefongesprächs mit diesem; dabei war von dessen persönlichen Sorgen und beruflichen Aktivitäten die Rede.
In dem letzten handschriftlichen Bericht vom 19. Januar 1988 informierte der Kläger das MfS über seine Beziehung zu einer in die BRD übergesiedelten Frau und seinen Wunsch, im Zuge der Eheschließung mit dieser Frau selbst in die BRD überzusiedeln. In einer Beurteilung des Klägers durch das MfS vom 29. März 1988 heißt es:
„Aufgrund der Entwicklung des IM erfolgen keine Einsätze mehr zur Aufklärung der Verbindungen des IMS in das Operationsgebiet. Dem Antrag des IM, nach seiner Übersiedlung in die BRD für das MfS zu arbeiten, wurde aufgrund der ideol. Unklarheiten und der Unzuverlässigkeit Ablehnung erteilt. Der IM hat Kenntnis, daß das MfS an einer solchen Absicht kein Interesse hat. Die Ablehnung erfolgte mit der Begründung des Schutzes seiner Person vor Angriffen des Gegners, da er als Übungsleiter Dynamo (ehemals) sofort in dessen Blickfeld gerät.”
Laut dem Abschlußbericht des MfS vom 16. Februar 1989 zog der Kläger den Übersiedlungsantrag im Mai 1988 zurück, da seine Partnerin Abstand vom Eheversprechen nahm. Weiter heißt es, er „lehnt die weitere Zusammenarbeit mit dem MfS ab, da er an das MfS übergebene Informationen angeblich gegen seine eigene Person mißbraucht sah”.
Am 15. Mai 1991 verneinte der Kläger die ihm im Personalfragebogen vorgelegte Frage nach einer MfS-Zusammenarbeit. Zur Ausfüllung des Fragebogens hatte er eine Woche Zeit.
Am 18. März 1994 erfuhr der Beklagte durch eine Auskunft des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (Gauck-Behörde) von der MfS-Tätigkeit des Klägers. Der Personalüberprüfungsausschuß des Kultusministeriums hörte den Kläger hierzu am 15. April 1994 an. Am 31. Mai 1994 unterrichtete der Beklagte den Hauptpersonalrat beim Kultusministerium über die beabsichtigte Kündigung. Dieser erklärte nach vorangegangener Erörterung mit Schreiben vom 15. Juni 1994, keine Stellungnahme abgeben zu wollen.
Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 14. Juli 1994, dem Kläger zugegangen am 24. August 1994, außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich ohne Angabe einer bestimmten Frist.
Mit der am 1. September 1994 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, die Kündigung sei unwirksam. Er hat behauptet, zur Zusammenarbeit mit dem MfS genötigt worden zu sein. Er habe wegen außergewöhnlich guter Leistungen einige Zeit zusätzlich Gehalt in Empfang genommen; ein Vertreter des MfS habe deshalb mit einer Anzeige und mit Arbeitsplatzverlust gedroht. Die MfS-Tätigkeit habe niemandem geschadet. Die Berichte seien überwiegend allgemein gehalten gewesen. Anders sei es lediglich bei zwei persönlichen Einschätzungen von 1970 und 1986 gewesen, die den Betroffenen aber nicht geschadet hätten; beide seien später sogar befördert worden. In einer Vielzahl von Fällen habe er das MfS über bedeutsame Vorgänge aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis gerade nicht informiert. 1987 habe er sich aus politischen Gründen entschlossen, die MfS-Zusammenarbeit abzubrechen, und eine schriftliche Entpflichtungserklärung abgegeben. Den Fragebogen habe er zunächst wahrheitsgemäß ausgefüllt vorgelegt. Da dieser offen im Sekretariat gelegen habe, habe er ihn zurückgefordert und sich zu einer Falschbeantwortung entschlossen. Anders habe der Datenschutz nicht gewährleistet werden können. Das Kündigungsrecht des Beklagten sei jedenfalls wegen des Zeitablaufs zwischen Bekanntwerden des Gauck-Berichts und Kündigungsausspruch verwirkt.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 14. Juli 1994 nicht aufgelöst worden sei.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat geltend gemacht, die außerordentliche Kündigung sei wegen der Tätigkeit des Klägers für das MfS und wegen der wahrheitswidrigen Verneinung der Zusammenarbeit wirksam. Jedenfalls sei deshalb die ordentliche Kündigung gerechtfertigt. Der Kläger sei als Lehrer für den Schuldienst nicht mehr tragbar. Er habe eine Zwangslage bei der Verpflichtung als IM nicht nachvollziehbar dargelegt. Jedenfalls sei nach der Abgabe der Verpflichtungserklärung keine Zwangslage erkennbar, die eine derartig lange MfS-Tätigkeit rechtfertigen könne. Die möglicherweise fehlende hohe Qualität der Berichte werde kompensiert durch die erhebliche Dauer der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS. Die Behauptung des Klägers, keine personenbelastenden Berichte geschrieben zu haben, stehe nicht im Einklang mit dem Inhalt der zu den Akten gereichten vier Berichte. Auch bei weniger bedeutungsvollen Berichten könne eine Schädigung von bespitzelten Personen im Zusammenwirken mit anderen Informationsquellen nicht ausgeschlossen werden. Es sei auch nicht ersichtlich, daß der Kläger sich 1987 inhaltlich von der Tätigkeit für das MfS distanziert habe. Der Kläger habe im Gegenteil bei Befürwortung seiner Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke der Eheschließung eine Fortsetzung der IM-Tätigkeit angeboten. Schließlich habe er die weitere Zusammenarbeit nach dem Scheitern der Beziehung zu seiner Partnerin deshalb abgelehnt, weil er darin keinen Vorteil mehr für sich gesehen habe. Der Vortrag des Klägers zur Auswechslung des Personalfragebogens werde bestritten. Es hätte zudem andere Möglichkeiten gegeben, den Datenschutz aus seiner Sicht sicherzustellen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Bestätigung der klagabweisenden Entscheidung des Arbeitsgerichts (§§ 564 Abs. 1, 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO).
I. Das Landesarbeitsgericht hat nach einer Darstellung der Senatsrechtsprechung zur Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS seine Entscheidung wie folgt begründet: Zwar stehe aufgrund des unstreitigen Sachverhaltes fest, daß der Kläger als IM zwischen 1970 und 1989 zehn Jahre, also in erheblichem zeitlichen Umfang, für das MfS tätig gewesen sei und seine Berichte jedenfalls zum Teil auch persönliche Einschätzungen enthielten. Der Kläger habe es versäumt, die Umstände nachvollziehbar und nachprüfbar vorzutragen, die den Rückschluß rechtfertigten, es habe sich um eine bedeutungslose IM-Tätigkeit gehandelt. Selbst bei freiwilliger Beendigung der MfS-Tätigkeit sei es nämlich Sache des Lehrers, nicht nur die freiwillige Beendigung, sondern auch die Bedeutungslosigkeit der Berichte darzulegen. Der Kläger habe weder den Inhalt der eingeräumten, nicht bei der Akte befindlichen Berichte noch die Art und Weise der Recherchierung vorgetragen. Seine pauschale Aussage, niemandem geschadet zu haben, sei nicht ausreichend. Das Unterlassen einer möglichen Denunziation von Freunden oder Bekannten in Einzelfällen sei nicht geeignet, die Bedeutungslosigkeit einer zumindest zehnjährigen MfS-Zusammenarbeit anzunehmen. Gleichwohl sei es die Auffassung der zur Entscheidung berufenen Kammer gewesen, daß das Erscheinungsbild der öffentlichen Verwaltung durch eine Weiterbeschäftigung des Klägers als Lehrer nicht beeinträchtigt werde und eine Weiterbeschäftigung trotz der zeitlich erheblichen und qualitativ nicht völlig unerheblichen MfS-Mitarbeit zumutbar sei; denn zwischen Eingang der Gauck-Auskunft und Ausspruch der Kündigung liege ein zu großer zeitlicher Abstand. Die Kammer habe auch die ordentliche Kündigung für rechtsunwirksam gehalten, weil die Behauptungen des Klägers in bezug auf die wahrheitswidrige Ausfüllung des Personalfragebogens nicht zu widerlegen seien und es in Anbetracht dessen an dem Erfordernis einer groben Unehrlichkeit fehle.
II. Die tragende Begründung des Landesarbeitsgerichts hält der revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Vielmehr ist die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 14. Juli 1994 nach Abs. 5 Ziff. 2 EV gerechtfertigt. Sie hat das Arbeitsverhältnis der Parteien am 24. August 1994 aufgelöst. Das kann der Senat aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts selbst abschließend entscheiden.
1. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Entscheidung zutreffend die ständige Rechtsprechung des Senats zu den Voraussetzungen einer Kündigung wegen Tätigkeit für das frühere MfS zugrunde gelegt.
a) Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV liegt ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung dann vor, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS bzw. Amt für Nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Abs. 5 Ziff. 2 EV unterscheidet nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Damit gilt auch für inoffizielle Mitarbeiter, daß eine außerordentliche Kündigung nur gerechtfertigt ist, wenn eine bewußte, finale Mitarbeit für das MfS/AfNS vorliegt (vgl. BAG Urteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92 – BAGE 74, 120 = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag; BAG Urteil vom 23. September 1993 – 8 AZR 484/92 – BAGE 74, 257 = AP Nr. 19 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX).
Aus der Eigenständigkeit der Kündigungsregelung in Abs. 5 Ziff. 2 EV folgt, daß es keiner doppelten Unzumutbarkeitsprüfung bedarf. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung bestimmen sich allein nach Abs. 5 EV, der eine zusätzliche Interessenabwägung nach den Maßstäben des § 626 Abs. 1 BGB nicht vorsieht. Anders als § 626 BGB stellt Abs. 5 EV nicht darauf ab, ob ein Festhalten am Arbeitsverhältnis „bis zu einem ordentlichen Kündigungstermin” zumutbar erscheint. Er bringt vielmehr zum Ausdruck, bei Beschäftigten, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, sei nicht hinzunehmen, daß sie überhaupt länger im öffentlichen Dienst verbleiben. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob der Arbeitgeber durch eine ungebührliche Verzögerung seinem eigenen Verhalten zuwider handelt oder einen Verwirkungstatbestand setzt.
Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Abs. 5 Ziff. 2 EV ist keine „Mußbestimmung”. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, ist zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAGE 70, 309, 320 = AP Nr. 4, aaO, zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit sowie aus Zeitpunkt und Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben.
Die Tätigkeit eines inoffiziellen Mitarbeiters ist häufig nach außen nicht erkennbar geworden. Ein inoffizieller Mitarbeiter arbeitete typischerweise verdeckt. Dennoch kann es nicht darauf ankommen, ob er nicht entdeckt wurde und deshalb seine Tätigkeit für das MfS nicht bekannt ist. Maßgebend ist, ob das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Bekanntwerden der Tätigkeit für das MfS in einer Weise beeinträchtigt würde, die das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar macht. Eine glaubwürdige rechtsstaatliche Verwaltung kann nicht aufgebaut werden auf der Annahme, die Belastung eines Mitarbeiters werde schon nicht bekannt werden.
Ebenfalls bei der Prüfung der Zumutbarkeit zu beachten ist die Art der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer in dem in Frage stehenden Arbeitsverhältnis ausübt. Ob das Vertrauen in die Verwaltung durch die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers erschüttert wird, hängt nicht nur von der Verstrickung des Arbeitnehmers mit dem MfS ab, sondern auch davon, welche Wirkungsmöglichkeiten und Befugnisse der Arbeitnehmer in seinem jetzigen Arbeitsverhältnis hat (BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 1934/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen, zu C I 2 b der Gründe). Die Beschäftigung eines belasteten Arbeitnehmers mit rein vollziehender Sachbearbeitertätigkeit oder handwerklicher Tätigkeit wird das Vertrauen in die Verwaltung weniger beeinträchtigen als die Ausübung von Entscheidungs- und Schlüsselfunktionen durch einen ebenso belasteten Arbeitnehmer.
b) Der Frage, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am jetzigen Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag, wohnt auch ein zeitliches Element inne. Der Arbeitgeber kann die Kündigung nicht zeitlich unbegrenzt aussprechen. § 626 Abs. 2 BGB stellt eine Konkretisierung des Gedankens dar, daß die Fortsetzung des Dienst- oder Arbeitsverhältnisses aufgrund von Zeitablauf zumutbar werden kann (vgl. näher Senatsurteil vom 28. April 1994 – 8 AZR 157/93 – BAGE 76, 334, 340 = AP Nr. 13 zu Art. 13 Einigungsvertrag, zu II 3 a bb der Gründe, m.w.N.). Die sofortige Lösung des Arbeitsverhältnisses nach längerer Zeit verbietet sich auch unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens. Der Kündigungsberechtigte darf einen Kündigungsgrund unabhängig von § 626 Abs. 2 BGB nicht beliebig lange zurückhalten, um davon bei ihm gut dünkender Gelegenheit Gebrauch zu machen. Diese Auslegung folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG, nach dem der Staat einen Mindestkündigungsschutz zur Verfügung stellen muß. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 626 Abs. 2 BGB kann daher der wichtige Grund nach Abs. 5 Ziff. 2 EV durch bloßen Zeitablauf entfallen, ohne daß die weitergehenden Voraussetzungen der allgemeinen Verwirkung, wie das Vorliegen eines Umstandsmoments, erfüllt sein müßten.
Eine feste Zeitgrenze, ab wann keine Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis mehr gegeben ist, besteht nicht. Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB ist auf einmalige Vorfälle zugeschnitten und paßt wegen der besonderen Umstände der deutschen Wiedervereinigung nicht. Vielmehr bedarf es einer Prüfung, aus welchen Gründen nicht innerhalb der Zweiwochenfrist gekündigt wurde, sowie einer Abwägung des Zeitablaufs mit dem Gewicht der Kündigungsgründe. Maßgebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalles. Das Erscheinungsbild der Verwaltung wird mitgeprägt von der Zeitdauer, die der frühere MfS-Mitarbeiter nach der Wiedervereinigung unbeanstandet tätig war (Senatsurteil vom 28. April 1994, aaO).
2. Das Landesarbeitsgericht hat den wichtigen Grund für die außerordentliche Kündigung vom 14. Juli 1994 rechtsfehlerhaft verneint.
a) Der Kläger ist bewußt und gewollt als Inoffizieller Mitarbeiter für das MfS tätig geworden. Das steht zwischen den Parteien außer Streit.
b) Ein Festhalten am Arbeitsverhältnis erschien deshalb am 18. März 1994, als der Beklagte von den maßgebenden Kündigungstatsachen erfuhr, unzumutbar. Hiervon geht auch das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend aus.
aa) Die Dauer der MfS-Tätigkeit des Klägers erstreckte sich zwischen Dezember 1970 und Februar 1989 auf einen Zeitraum von insgesamt etwa 10 Jahren. Das hat das Landesarbeitsgericht unangefochten festgestellt. Nach der zutreffenden Würdigung des Landesarbeitsgerichts liegt damit eine ganz erhebliche Zeitspanne der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit vor. Diese reichte zudem bis in das Jahr der Wende hinein. Der Kläger hat dem MfS in dieser Zeit eine Fülle von Informationen geliefert, wie die zahlreichen Treffberichte zeigen.
bb) Der Inhalt der Berichte betraf Personen sowie Stimmungen und Meinungen bei politischen Ereignissen, wie das Landesarbeitsgericht ebenfalls unangefochten festgestellt hat. Dessen Würdigung der vorgelegten handschriftlichen Berichte ist rechtsfehlerfrei.
Eine Schädigung bestimmter Personen durch diese Berichte lag ohne weiteres im Bereich des Möglichen und konnte vom Kläger nicht weiter beeinflußt werden. Es handelte sich jeweils um gravierende Vertrauensbrüche. Der Kläger hat weitere persönliche Einschätzungen ausdrücklich eingeräumt. Mit seiner Behauptung, niemandem geschadet zu haben, hat er die nach den unstreitigen Tatsachen gegebene Bedeutung seiner Berichtstätigkeit nicht entkräftet (vgl. auch Senatsurteil vom 19. Januar 1995 – 8 AZR 220/93 – n.v., zu B 2 b cc der Gründe). Der Beklagte mußte nicht sämtliche Berichte des Klägers in den Prozeß einführen.
cc) Der Kläger war als Lehrer in einem Bereich tätig, in dem von ihm nicht nur, wie von jedem Angehörigen des öffentlichen Dienstes, zu erwarten war, daß er jederzeit für die Grundwerte der Verfassung einsteht. Es war vielmehr auch seine Aufgabe als Lehrer, die Werte der Verfassung seinen Schülern zu vermitteln. Die Grundrechte glaubwürdig vermitteln kann jedoch nur jemand, dessen eigene Achtung der Grundrechte nicht grundlegend infrage gestellt wird. Bei einer längerfristigen und keineswegs bedeutungslosen Berichtstätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter wie im Falle des Klägers bedarf es daher besonders schwerwiegender Entlastungstatsachen, um das Festhalten am Arbeitsverhältnis des Lehrers gleichwohl zumutbar erscheinen zu lassen (vgl. auch Senatsurteil vom 19. Januar 1995, aaO, zu B 2 b aa der Gründe).
dd) Solche Entlastungstatsachen liegen nicht vor.
Schon das Arbeitsgericht hat im Urteil vom 16. Februar 1995 die Umstände des Zustandekommens der Zusammenarbeit zwischen Kläger und MfS zutreffend gewürdigt. Der Kläger befand sich auch nach seiner eigenen Darstellung nicht in einer besonderen Konfliktsituation, die eine sehr lange und durchaus intensive MfS-Tätigkeit ausreichend erklären könnte. Da er sich nichts vorzuwerfen hatte, hätte er der Werbung des MfS mit einiger Entschlossenheit entgegentreten können und müssen. Seine Äußerung, er wisse nicht, ob seine Kenntnisse und Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit ausreichten, wird dem nicht gerecht.
Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, die Bedeutung der langjährigen MfS-Tätigkeit des Klägers werde durch das Unterlassen der an sich möglichen Denunziation von Freunden und Bekannten nicht entscheidend gemindert. Eine Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV ist nicht erst dann möglich, wenn der Arbeitnehmer bei seiner MfS-Tätigkeit noch über die ihm erteilten Aufträge hinausgegangen ist.
Die Umstände der Beendigung der MfS-Tätigkeit entlasten den Kläger nicht. Zugunsten des Klägers kann von einer freiwilligen Beendigung ausgegangen werden. Diese reicht angesichts der sonstigen Umstände jedoch nicht aus. Um eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu ermöglichen, hätte der Kläger schon offen mit dem MfS brechen und sich von diesem deutlich distanzieren müssen. Daran fehlt es, wenn der Kläger nach der von ihm behaupteten schriftlichen Entpflichtungserklärung sogar noch die Weiterarbeit für das MfS in der Bundesrepublik Deutschland angeboten hat.
ee) Der Zeitablauf von 1991 bis März 1994 kommt dem Kläger nicht entscheidend zugute, da der Kläger die Frage nach einer MfS-Tätigkeit im Mai 1991 wahrheitswidrig verneint hat.
c) Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts, der Zeitablauf zwischen Eingang der Gauck-Auskunft am 18. März 1994 und Ausspruch der Kündigung lasse ein Festhalten am Arbeitsverhältnis zumutbar werden, ist rechtsfehlerhaft. Sie berücksichtigt nicht den zeitlichen Verlauf im einzelnen.
Der Kläger wurde bereits am 15. April 1994, also weniger als einen Monat nach Eingang der Gauck-Auskunft, durch den Personalüberprüfungsausschuß des Kultusministeriums angehört. Er konnte deshalb nicht davon ausgehen, der Beklagte werde die Sache auf sich beruhen lassen. Eine Zeit von etwa sechs Wochen zur Entscheidungsfindung bis zur Unterrichtung des Hauptpersonalrats am 31. Mai 1994 war dann durchaus noch angemessen. Das ergibt sich aus der Kompliziertheit der Materie und insbesondere daraus, daß an der Entscheidungsfindung verschiedene Stellen (Minister, Staatssekretär) beteiligt waren, was gerade auch im Interesse des Klägers lag. Das personalvertretungsrechtliche Anhörungsverfahren dauerte einschließlich der Erörterung mit dem Hauptpersonalrat bis zu dessen abschließender Stellungnahme mit Schreiben vom 15. Juni 1994. Die Kündigung hätte dann zwar schneller ausgefertigt werden können. Von einem Zurückhalten des Kündigungsgrundes kann aber keine Rede sein. Der Zeitablauf bis zur Kündigung hält sich noch in einem hinnehmbaren Rahmen, zumal durch die Schulferien- und Urlaubszeit mit Verzögerungen zu rechnen war. Auch scheint es angebracht, Kündigungen nach Abs. 5 Ziff. 2 EV generell persönlich zu übergeben und zuvor eine Bedenkzeit wegen des Abschlusses eines Aufhebungsvertrages einzuräumen.
3. Die ordnungsgemäße Beteiligung der Personalvertretung ist nicht zu prüfen. Der Kläger hatte zwar in der Klagschrift eine entsprechende Rüge erhoben. Er hat hiervon aber schon in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer des Arbeitsgerichts wieder Abstand genommen. Danach hat er die Behauptung einer fehlerhaften Personalratsbeteiligung nicht mehr erneuert.
4. Da die außerordentliche Kündigung des Beklagten bereits nach Abs. 5 Ziff. 2 EV wegen der Tätigkeit des Klägers für das MfS wirksam ist, kommt es auf den geltend gemachten Kündigungsgrund der wahrheitswidrigen Verneinung der MfS-Tätigkeit nicht an. Die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung ist nicht wirksam geworden, da die Rechtsbedingung, unter der sie ausgesprochen wurde, nicht eingetreten ist.
III. Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision gemäß den §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
Unterschriften
Ascheid, Müller-Glöge, Mikosch, Krause, E. Schmitzberger
Fundstellen