Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers vor einer Verdachtskündigung. Nachschieben neuer Belastungstatsachen
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Verdachtskündigung als Reaktion auf die Störung des für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendigen Vertrauens ist unverhältnismäßig, wenn der Arbeitgeber nicht alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen hat. Insbesondere die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist grundsätzlich Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung (Bestätigung der ständigen Senatsrechtsprechung, vgl. BAGE 49, 39 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972 und zuletzt Urteil vom 14. September 1994 – 2 AZR 164/94 – AP Nr. 24 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, m.w.N.).
2. Die an die Anhörung des Arbeitnehmers zu stellenden Anforderungen entsprechen nicht denen für eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG. Der dem Arbeitnehmer vorgehaltene Verdacht darf sich allerdings nicht in einer bloßen Wertung erschöpfen; er muß vielmehr zumindest soweit konkretisiert sein, daß sich der Arbeitnehmer darauf substantiiert einlassen kann.
3. Materiell-rechtlich ist der Arbeitgeber trotz unzureichender Anhörung des Arbeitnehmers jedenfalls dann nicht gehindert, erst nach Ausspruch der Kündigung bekannt gewordene Verdachtsmomente nachzuschieben, wenn er die Kündigung zusätzlich und eigenständig wegen tatsächlicher Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers ausgesprochen hat. Darauf, ob diese Pflichtverletzungen bewiesen werden können und die Kündigung für sich genommen hinreichend begründen, kommt es insoweit nicht an.
Normenkette
BGB § 626; KSchG § 1; ZPO § 148
Verfahrensgang
LAG Hamburg (Urteil vom 10.06.1994; Aktenzeichen 3 Sa 107/93) |
ArbG Hamburg (Teilurteil vom 17.08.1993; Aktenzeichen 17 Ca 12/93) |
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 10. Juni 1994 – 3 Sa 107/93 – aufgehoben, soweit das Landesarbeitsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat.
2. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der am 6. März 1934 geborene, mit einem Grad der Behinderung von 90 Schwerbehinderte Kläger war bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängern seit 14. Dezember 1964 beschäftigt. Er war als Einkäufer für Obst und Gemüse tätig und erhielt zuletzt ein monatliches Bruttogehalt von 9.500,– DM.
Mit seiner am 11. Januar 1993 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage wendet sich der Kläger u.a. gegen die fristlose Kündigung der Beklagten vom 4. Januar 1993 und mit der am 2. April 1993 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klageerweiterung gegen die fristgemäße Kündigung der Beklagten vom 31. März 1993 zum 30. September 1993. Die Beklagte hat die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zur fristlosen Kündigung mit Schreiben vom 14. Dezember 1992 und zur fristgemäßen Kündigung mit gleichlautendem Schreiben vom selben Tage beantragt. Die Hauptfürsorgestelle hat der fristlosen Kündigung mit Bescheid vom 21. Dezember 1992 zugestimmt, der den Parteien am 28. Dezember 1992 zugestellt worden ist. Die Beklagte hat von dieser Zustimmung erstmals mit Zustellung des Bescheides Kenntnis erlangt. Der fristgemäßen Kündigung hat die Hauptfürsorgestelle mit Bescheid vom 9. März 1993 zugestimmt. Der Widerspruchsausschuß bei der Hauptfürsorgestelle hat den Widersprüchen des Klägers gegen beide Bescheide in der mündlichen Verhandlung vom 30. Juli 1993 stattgegeben. Hiergegen hat die Beklagte Klage beim Verwaltungsgericht erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
Die Beklagte hat den bei ihr bestehenden Betriebsrat mit Schreiben vom 28. Dezember 1992 zu der dann am 4. Januar 1993 ausgesprochenen fristlosen Kündigung angehört. Das Anhörungsschreiben ist dem Betriebsrat am 29. Dezember 1992 zugegangen. Der Betriebsrat teilte der Beklagten am 4. Januar 1993 mit, daß er auf seiner Sitzung vom 29. Dezember 1992 seine Meinungsbildung abgeschlossen habe und keine schriftliche Mitteilung und kein Widerspruch erfolgen werde. Gegen die beabsichtigte fristgemäße Kündigung hat der Betriebsrat mit Schreiben vom 25. März 1993 Bedenken erhoben.
Mit Schreiben vom 7. Januar 1994 und 2. Februar 1994 erfolgten während des Berufungsverfahrens vorsorglich zwei weitere außerordentliche Kündigungen des Arbeitsverhältnisses durch die Beklagte, wegen derer der Kläger vor dem Arbeitsgericht klageerweiternd Kündigungsschutzklage erhoben hat.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, für die fristlose Kündigung läge ein wichtiger Grund nicht vor, die fristgemäße Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Er hat bestritten, daß die Beklagte die Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten und den Betriebsrat zu den beabsichtigten Kündigungen ordnungsgemäß angehört habe. Soweit die Beklagte eine Verdachtskündigung ausgesprochen habe, sei er selbst, so das Vorbringen des Klägers, durch die Beklagte hierzu nicht ordnungsgemäß angehört worden. Diese habe ihn nur mit abstrakten Vorwürfen konfrontiert, was ihm eine konkrete Einlassung von vornherein unmöglich gemacht habe. Durch das Nachschieben neuer Verdachtsmomente könne die Unterlassung der Beklagten nicht geheilt werden.
Der Kläger hat weiter geltend gemacht, daß Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigungen eine Abmahnung gewesen wäre. Im übrigen seien die Kündigungen im Hinblick auf die Entscheidungen des Widerspruchsausschusses der Hauptfürsorgestelle unwirksam.
Der Kläger hat, soweit für die Revisionsinstanz von Bedeutung, beantragt,
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 5. Januar 1993 nicht aufgelöst worden ist;
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien auch nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 31. März 1993 aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen, die Kündigungen seien als Verdachtskündigungen gerechtfertigt. Der Kläger habe zumindest im Jahre 1992 Kartoffeln und Zwiebeln zu weit überhöhten Preisen eingekauft.
Dadurch sei ihr ein Mindestschaden von fast 400.000,– DM entstanden. Dies und weitere Umstände hätten bei ihr den konkreten Verdacht gegen den Kläger erweckt, er wolle sie vorsätzlich schädigen, und damit verbunden den Verdacht persönlicher Vorteilsannahme. In einem Gespräch am 9. Dezember 1992 sei der Sachverhalt mit dem Kläger erörtert worden. Ihr Geschäftsführer habe dem Kläger nicht nur vorgehalten, daß er zu überhöhten Preisen eingekauft und keine Vergleichsangebote für Kartoffeln und Zwiebeln eingeholt habe, sondern ihm auch den Inhalt eines anonymen Schreibens mitgeteilt, in dem behauptet worden ist, der Kläger habe von Lieferanten Bargeld erhalten. Der Kläger sei insoweit zu einer Stellungnahme aufgefordert worden und habe die Vorwürfe abgestritten. Er habe lediglich entgegnet, daß er nicht trinke, und pauschal behauptet, es habe keine anderen Angebote gegeben, im übrigen habe er keine Zeit gehabt, andere Angebote einzuholen.
Nach dem Gespräch vom 9. Dezember 1992 habe es einer nochmaligen Anhörung des Klägers zu den bei den weiteren Ermittlungen aufgedeckten konkreten, die Vorwürfe bestätigenden Verdachtsmomenten nicht bedurft; da die Einlassungen des Klägers insgesamt völlig unsubstantiiert gewesen seien, habe sie den Eindruck gewinnen können, der Kläger wolle keinen konstruktiven Beitrag zur Aufklärung des Sachverhalts leisten.
Im Berufungsverfahren hat die Beklagte die Verdachtskündigungen mit neuen, ihr erst nach Zugang der im Berufungs- und Revisionsverfahren streitigen Kündigungen bekannt gewordenen Tatsachen begründet, die sie auch zum Anlaß der weiteren Kündigungen vom 7. Januar 1994 und vom 9. Februar 1994 genommen hat. Danach soll der Kläger 1992 (z.T. wird in den Schriftsätzen aufgrund eines offensichtlichen Schreibversehens 1993 angegeben) schriftliche Angebote der Firma F. über marokkanische Speisefrühkartoffeln „Nicola” unberücksichtigt gelassen und statt dessen zu um 10.070,– DM höheren Preisen bei der Firma L. eingekauft haben. Vor Einführung dieser Vorwürfe in den Prozeß hatte die Beklagte dazu den Kläger und den Betriebsrat angehört.
Die Beklagte hat weiter vorgetragen, sie stütze die Kündigungen auch darauf, daß der Kläger trotz ausdrücklicher Anweisungen in Gesprächen am 16. November, 30. November und 9. Dezember 1992 in die von ihm zu erstellenden Angebotspreislisten keine Alternativangebote für Kartoffeln und Zwiebeln aufgenommen und insoweit keine Preisvergleiche vorgenommen habe. Er habe sich damit herausgeredet, er habe dazu keine Zeit gehabt bzw. habe keine anderen Angebote bekommen. Die Kündigungen seien damit nicht nur als Verdachtskündigungen, sondern auch aufgrund vorsätzlichen vertragswidrigen Verhaltens des Klägers begründet. Das Verhalten des Klägers rechtfertige den Ausspruch der Kündigungen ohne vorherige Abmahnung.
Sie habe die zweiwöchige Frist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt, da der Kläger letztmalig am 4. Dezember 1992 in vertragswidriger Weise Ware bestellt habe. Erst am 9. Dezember 1992 habe sie die sichere Kenntnis erlangt, daß der Kläger nicht aus Gründen mangelnden Arbeitseifers keine Angebote von anderen Lieferanten eingeholt habe, sondern offenbar ganz bewußt und gezielt nur bei einem bestimmten Lieferanten gekauft habe.
Die Anhörung des Betriebsrats sei ordnungsgemäß erfolgt. Insbesondere habe sie den Betriebsrat auch über das Ergebnis des Gesprächs mit dem Kläger vom 9. Dezember 1992 informiert und diesem gesagt, in welcher Weise sich der Kläger auf die Vorwürfe eingelassen habe.
Das Arbeitsgericht hat durch Teilurteil nach den genannten Klageanträgen erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet; sie führt zur überwiegenden Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung (§ 565 ZPO).
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, auf den Verdacht einer Straftat oder einer schweren vorsätzlichen Vertragsverletzung könne die Beklagte die fristlose Kündigung deshalb nicht stützen, weil sie den Kläger vor Erklärung der Kündigung nicht ausreichend angehört habe. Bei dem Gespräch am 9. Dezember 1992 habe sie dem Kläger die erst später ermittelten konkreten Fälle eines überteuerten Einkaufs von Kartoffeln und Zwiebeln, die sie dann dem Betriebsrat mitgeteilt hat, nicht vorgehalten. Der Kläger habe deshalb nur unsubstantiiert bestreiten können, so daß daraus auf seine fehlende Bereitschaft zur Mitwirkung bei der Aufklärung der Vorwürfe nicht geschlossen werden dürfe. Die wegen der unzureichenden Anhörung des Klägers formell unwirksame Kündigung könne durch das Nachschieben der erst nach Ausspruch der beiden Kündigungen aufgetauchten neuen Verdachtstatsachen nicht geheilt werden, denn andernfalls werde die Schutzfunktion der Aufklärungsobliegenheit entwertet. Zwar habe sich der Kläger im Verfahren über die fristlose Kündigung zu den Verdachtsgründen äußern können und geäußert, was einer ordnungsgemäßen Anhörung vor Ausspruch der ordentlichen Kündigung gleichzuachten sein könnte; insoweit fehle es aber an einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung, weil die Beklagte den Betriebsrat über die Einlassungen des Klägers im Prozeß nicht unterrichtet habe. Deshalb sei auch die ordentliche Kündigung als Verdachtskündigung unwirksam.
Soweit die Beklagte die fristlose Kündigung weiter damit begründe, der Kläger habe weisungswidrig ab 16. November 1992 keine Vergleichsangebote für Zwiebeln und Kartoffeln eingeholt, fehle es an einer vorherigen vergeblichen Abmahnung.
II. Dem folgt der Senat im Ergebnis nicht.
1. Keine Bedenken bestehen allerdings dagegen, daß das Landesarbeitsgericht in der Sache entschieden hat, ohne den Ausgang des an sich vorgreiflichen Verwaltungsstreitverfahrens über die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zu den angegriffenen Kündigungen abzuwarten. Einer Aussetzung der Verhandlung gemäß § 148 ZPO bedurfte und bedarf es nicht. Eine solche Aussetzung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Es ist nicht ersichtlich, weshalb vorliegend die Fortführung des Rechtsstreits ermessensfehlerhaft sein sollte. Für die Fortführung sprechen schon die lange Verfahrensdauer beim Verwaltungsgericht und das Beschleunigungsgebot der §§ 9 Abs. 1, 61 a, 64 Abs. 8 ArbGG. Der Kläger kann notfalls die Abänderung eines die Klage rechtskräftig abweisenden arbeitsgerichtlichen Urteils im Wege der Restitutionsklage gemäß § 580 Nr. 6 ZPO erreichen (vgl. Senatsurteil vom 26. September 1991 – 2 AZR 132/91 – AP Nr. 28 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit).
2. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Ansicht des Landesarbeitsgerichts, als Tatkündigung könne die fristlose Kündigung der Beklagten vom 4. Januar 1993 mangels vorheriger Abmahnung keinen Bestand haben.
Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die Prüfung, ob ein bestimmter Sachverhalt die Voraussetzungen eines wichtigen Grundes erfüllt, ist vorrangig Sache des Tatsachengerichts. Es handelt sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Diese kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob das angefochtene Urteil den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 626 BGB Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat und ob es alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände, die für oder gegen eine außerordentliche Kündigung sprechen, beachtet hat (ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteile vom 6. August 1987 – 2 AZR 226/87 – und vom 2. April 1987 – 2 AZR 418/86 – AP Nr. 97 und 96 zu § 626 BGB). Auch hinsichtlich des Erfordernisses einer vorherigen vergeblichen Abmahnung kann das Revisionsgericht grundsätzlich nur prüfen, ob das Berufungsgericht den ultima-ratio-Grundsatz berücksichtigt, ob es diesem Grundsatz den rechtlich zutreffenden Inhalt beigemessen und ob es bei der Anwendung des Grundsatzes alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt hat (Senatsurteil vom 8. Juni 1995 – 2 AZR 1037/94 – nicht veröffentlicht, zu II 2 der Gründe).
Soweit das Landesarbeitsgericht vorliegend entschieden hat, der Vorwurf mangelnder Einholung von Alternativangeboten durch den Kläger bei Kartoffeln und Zwiebeln ab 16. November 1992 und der Nichtaufnahme in die von ihm zu erstellenden Angebotspreislisten rechtfertige angesichts der beanstandungsfreien Beschäftigungszeit des Klägers von fast 30 Jahren eine fristlose Kündigung ohne vorherige vergebliche Abmahnung selbst dann nicht, wenn man insoweit von einem vorsätzlichen weisungswidrigen Verhalten ausgehe, läßt dies keinen Rechtsfehler erkennen. Insoweit wird das Urteil von der Revision auch nicht angegriffen.
Nicht erörtert hat das Landesarbeitsgericht allerdings, ob dieser Vortrag der Beklagten die ordentliche Kündigung vom 31. März 1993 sozial rechtfertigt. Aufgrund des vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalts kann jedoch der Senat entsprechend § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO selbst feststellen, daß die genannten Vorwürfe die Kündigung nicht sozial rechtfertigen. Ist ein Kündigungssachverhalt mangels einer im konkreten Fall notwendigen Abmahnung nicht geeignet, eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 BGB zu begründen, so gilt dies in gleicher Weise für eine an § 1 KSchG zu messende ordentliche Kündigung. Abgesehen davon, daß auch hinsichtlich der ordentlichen Kündigung insoweit beachtliche Revisionsrügen der Beklagten fehlen, kann die Prognose des künftigen vertragskonformen bzw. vertragswidrigen Verhaltens nur einheitlich getroffen werden. Wenn das Landesarbeitsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt hat, es seien keine Umstände ersichtlich, aufgrund derer die Beklagte hätte annehmen können, der Kläger werde sein Verhalten trotz Abmahnung nicht ändern, so gilt dies unter dem Aspekt von Verhaltensmängeln im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG in gleicher Weise wie hinsichtlich eines im Verhalten des Klägers liegenden wichtigen Grundes im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB.
3. Zutreffend ist das Landesarbeitsgericht ferner zunächst davon ausgegangen, daß nicht nur eine erwiesene Vertragsverletzung, sondern auch schon der schwerwiegende Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer sonstigen Verfehlung ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung gegenüber dem verdächtigten Arbeitnehmer sein kann. Nach der ständigen Senatsrechtsprechung liegt eine Verdachtskündigung dann vor, wenn und soweit der Arbeitgeber seine Kündigung damit begründet, gerade der Verdacht eines (nicht erwiesenen) strafbaren bzw. vertragswidrigen Verhaltens habe das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zerstört. Der Verdacht einer strafbaren Handlung stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar, der in dem Tatvorwurf nicht enthalten ist. Bei der Tatkündigung ist für den Kündigungsentschluß maßgebend, daß der Arbeitnehmer nach der Überzeugung des Arbeitgebers die strafbare Handlung bzw. Pflichtverletzung tatsächlich begangen hat und dem Arbeitgeber aus diesem Grund die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist. § 626 Abs. 1 BGB läßt eine Verdachtskündigung dann zu, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, wenn die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören und wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhaltes unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 14. September 1994 – 2 AZR 164/94 – AP Nr. 24 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, mit weiteren Nachweisen). Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist formelle Wirksamkeitsvoraussetzung der Verdachtskündigung, denn anders als bei einem aufgrund von Tatsachen bewiesenen Sachverhalt besteht bei einer Verdachtskündigung immer die Gefahr, daß ein „Unschuldiger” betroffen ist. Deshalb ist es gerechtfertigt, strenge Anforderungen an die Verdachtskündigung zu stellen und vom Arbeitgeber zu verlangen, alles zu tun, um den Sachverhalt aufzuklären. Die Kündigung verstieße anderenfalls gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sie wäre nicht ultima ratio. Der Arbeitnehmer muß die Möglichkeit erhalten, die Verdachtsgründe bzw. Verdachtsmomente zu beseitigen bzw. zu entkräften und gegebenenfalls Entlastungstatsachen geltend zu machen. Verletzt der Arbeitgeber schuldhaft die aus der Aufklärungspflicht resultierende ihm obliegende Anhörungspflicht, dann kann er sich im Prozeß nicht auf den Verdacht einer strafbaren Handlung bzw. eines pflichtwidrigen Verhaltens des Arbeitnehmers berufen, d.h. die hierauf gestützte Kündigung ist unwirksam (vgl. BAGE 49, 39 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972).
4. Nicht frei von Rechtsfehlern ist dagegen – unabhängig von den Verfahrensrügen der Revision im Schriftsatz vom 13. September 1994 – die Ansicht des Berufungsgerichts, es fehle vorliegend schon nach dem eigenen Sachvortrag der Beklagten an einer ausreichenden Anhörung des Klägers vor Ausspruch der fristlosen Kündigung.
a) Die Anhörung des Arbeitnehmers hat im Zuge der gebotenen Aufklärung des Sachverhalts zu erfolgen; daß sie stets erst nach Abschluß der sonstigen Aufklärungsbemühungen zu erfolgen hätte, wird in der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht gefordert. Auch muß die Anhörung des Arbeitnehmers nicht den Anforderungen genügen, wie sie an die Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG gestellt werden. Allerdings reicht es nicht, daß der Arbeitnehmer lediglich mit einer völlig unsubstantiierten Wertung konfrontiert wird. Die Anhörung muß sich vielmehr auf einen Sachverhalt beziehen, der jedenfalls soweit konkretisiert ist, daß sich der Arbeitnehmer darauf substantiiert einlassen kann; zum anderen darf der Arbeitgeber grundsätzlich keine Erkenntnisse vorenthalten, die er im Anhörungszeitpunkt bereits gewonnen hat, weil andernfalls die Verteidigungsmöglichkeiten des Arbeitnehmers unzulässig beschnitten würden. Bestreitet der Arbeitnehmer, obgleich die bislang bekannten und ihm vorgehaltenen Tatsachen eine konkrete Einlassung ermöglichen würden, lediglich pauschal, so läßt dies regelmäßig den Schluß zu, der Arbeitnehmer sei an einer Mitwirkung an der Aufklärung des Verdachts nicht interessiert. Das Unterlassen des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer zu den anschließend weiter ermittelten Tatsachen erneut anzuhören, kann dann in der Regel nicht als schuldhafte Verletzung einer Obliegenheit angesehen werden, die die formelle Unwirksamkeit der Verdachtskündigung zur Folge hätte (vgl. BAG Urteil vom 30. April 1987 – 2 AZR 283/86 – AP Nr. 19 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung). Läßt sich demgegenüber der Arbeitnehmer zu den vorgehaltenen Verdachtsmomenten konkret ein, so daß der Verdacht zerstreut wird bzw. aus der Sicht des Arbeitgebers für eine Kündigung nicht mehr ausreicht, und führen erst die daraufhin durchgeführten weiteren Ermittlungen aus der Sicht des Arbeitgebers zu einer Widerlegung des Entlastungsvorbringens des Arbeitnehmers, so ist dieser vor Ausspruch der Verdachtskündigung erneut anzuhören.
b) Vorliegend hat die Beklagte nach ihrem Sachvortrag dem Kläger in dem Gespräch am 9. Dezember 1992 vorgehalten, er habe als Einkaufsleiter im Jahre 1992 mehrfach günstigere Angebote anderer Firmen, nach dem Vorbringen des Klägers namentlich der Firma S.
über Zwiebeln und Kartoffeln unberücksichtigt gelassen und statt dessen zu völlig überhöhten Preisen bei der Firma L. eingekauft; die Beklagte hat dem Kläger ein anonymes Schreiben vom 21. April 1992 vorgelegt, in dem behauptet wurde, dem Kläger seien vom „Chef” einer Privatfirma aus dem Großmarkt Hamburg 10.000,– DM „zugesteckt” worden; schließlich hat sie nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts dem Kläger vorgeworfen, er habe in den letzten Wochen weisungswidrig keine Alternativangebote für Kartoffeln und Zwiebeln eingeholt. Der Kläger, so das Vorbringen der Beklagten, sei ausdrücklich zu einer Stellungnahme aufgefordert worden und ihm sei vor Augen geführt worden, daß das Arbeitsverhältnis aufgrund der Vorwürfe und des damit verbundenen Vertrauensverlustes beendet werden solle; der Kläger hat dies, was das Arbeitsgericht in seinem Teilurteil vom 17. August 1993 übersehen hat, bereits mit Schriftsatz vom 9. August 1993 ausdrücklich eingeräumt.
Der Vorhalt des Verdachts des überteuerten Einkaufs ist hinsichtlich des Zeitraums, der Ware und der beteiligten Firmen durchaus so konkret, daß von dem mit der Materie vertrauten Kläger eine substantiierte Einlassung erwartet werden konnte. Zumal unstreitig die Preisspannen für die fraglichen Artikel in den drei mal wöchentlich erscheinenden Marktberichten der Zentralen Marktberichtstelle Großmarkt Hamburg (ZMP) veröffentlicht wurden, hätte der Kläger ohne weiteres das vorbringen können, was er mit Schriftsatz vom 25. April 1993 im Prozeß einwenden ließ, insbesondere, daß er stets nur beste Ware eingekauft habe, die teilweise über andere Händler nicht zu beziehen gewesen sei und im ZMP-Marktbericht gar nicht erfaßt worden sei. Wenn der Kläger demgegenüber die Vorhaltungen der Beklagten nur pauschal bestritt und sich lediglich dahin einließ, andere Angebote habe es nicht gegeben, für deren Einholung habe er im übrigen keine Zeit gehabt, so durfte dies die Beklagte ohne Verschulden dahin werten, dem Kläger fehle die Bereitschaft, durch eine konkrete Stellungnahme an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Die Unterlassung einer erneuten Anhörung des Klägers zu den anschließend für den Verdacht des überteuerten Einkaufs ermittelten konkreten Beispielsfällen war dann keine verschuldete Obliegenheitsverletzung, die zur formellen Unwirksamkeit der Verdachtskündigung führen würde.
Etwas anderes würde allerdings dann gelten, wenn das Vorbringen des Klägers zuträfe, er habe bei dem Gespräch am 9. Dezember 1992 auf den enormen Qualitätsunterschied hingewiesen, der einen Vergleich der eingekauften mit der von der Firma S. angebotenen Ware gar nicht zulasse. Falls es also streitentscheidend auf die konkretisierenden Verdachtsmomente ankommen würde, die dem Betriebsrat vor Ausspruch der fristlosen Kündigung mitgeteilt wurden, wäre die vorgenannte streitige Behauptung des Klägers zum Verlauf des Gesprächs am 9. Dezember 1992 aufzuklären. Dann ließe sich nämlich aus der Einlassung des Klägers mangelnde Kooperationsbereitschaft nicht ableiten und die der Beklagten aufgrund der weiteren Ermittlungen eventuell mögliche Entkräftung des Entlastungsvorbringens des Klägers hätte diesem vorgehalten werden müssen, um ihm seinerseits weitere konkrete Einwendungen zu ermöglichen, es sei denn, die Beklagte würde darlegen und im Bestreitensfall nachweisen, trotz der Einlassung der Klägers sei sie nach wie vor in vertretbarer Weise davon ausgegangen, die bisherigen Verdachtsmomente seien auch ohne weitere Konkretisierung für eine Kündigung ausreichend.
5. Auf die dem Betriebsrat vor Ausspruch der fristlosen Kündigung mitgeteilten konkretisierenden Verdachtsmomente kommt es freilich nicht an, wenn schon die der Beklagten erst Ende 1993 bekannt gewordenen, nachgeschobenen Verdachtsgründe die Kündigung rechtfertigen. Gegen das Nachschieben dieser Verdachtsmomente würden selbst dann keine Bedenken bestehen, wenn der Kläger vor Ausspruch der fristlosen Kündigung nicht ausreichend angehört worden sein sollte. Das Landesarbeitsgericht hat nämlich insoweit übersehen, daß die Beklagte die Kündigung nicht nur mit dem Verdacht eines vertragswidrigen überteuerten, das Vermögen der Beklagten schädigenden Einkaufs von Kartoffeln und Zwiebeln, sondern zusätzlich und eigenständig damit begründet hat, der Kläger habe weisungswidrig seit 16. November 1992 in die von ihm zu erstellenden Angebotspreislisten keine Alternativangebote für Kartoffeln und Zwiebeln aufgenommen und insoweit keine Preisvergleiche angestellt. Materiell-rechtlich bestehen gegen das Nachschieben dieser Verdachtsgründe keinerlei Bedenken (vgl. BAGE 49, 39 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972; Senatsurteil vom 14. September 1994 – 2 AZR 164/94 – aaO). Sie sind als eigenständige Kündigungsgründe zu werten, deren Nachschieben allenfalls kollektiv- oder sonst formell-rechtlich unzulässig sein könnte (vgl. BAG Urteil vom 3. April 1986 – 2 AZR 324/85 – AP Nr. 18 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung, zu II 1 c der Gründe). Unstreitig und nach den für den Senat gemäß § 561 ZPO bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte den Betriebsrat hinsichtlich dieser Gründe vor dem Nachschieben entsprechend § 102 Abs. 1 BetrVG ordnungsgemäß angehört. Ob vor dem Nachschieben auch eine Anhörung des Arbeitnehmers erforderlich war, obgleich die Beklagte die streitigen Kündigungen bereits ausgesprochen hatte, die Stellungnahme des Klägers den Entschluß der Beklagten zur Kündigung also nicht mehr beeinflussen konnte und ihm eine Verteidigung im Rahmen des bereits geführten Rechtsstreits möglich war, kann dahinstehen; unstreitig hat nämlich die Beklagte auch den Kläger vor dem Nachschieben dieser Gründe angehört. Damit sind die nachgeschobenen Verdachtsgründe prozessual beachtlich und daraufhin zu prüfen, ob sie die hier streitige fristlose oder jedenfalls die ordentliche Kündigung zu rechtfertigen vermögen.
Unterschriften
Bitter, Bröhl, Fischermeier, Dr. Bächle, Kuemmel-Pleißner
Fundstellen
BAGE, 27 |
BB 1995, 2655 |
NJW 1996, 540 |
JR 1996, 264 |
NZA 1996, 81 |
JuS 1996, 561 |