Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliche Regelungslücke in Tarifvertrag
Orientierungssatz
Parallelsache zu BAG Urteil vom 10.12.1986 5 AZR 517/85 (hier: Manteltarifvertrag für die beim Norddeutschen Rundfunk beschäftigten Arbeitnehmer vom 18.11.1976 in der Fassung des 2. Änderungstarifvertrages).
Verfahrensgang
LAG Hamburg (Entscheidung vom 14.05.1985; Aktenzeichen 6 Sa 15/85) |
ArbG Hamburg (Entscheidung vom 14.11.1984; Aktenzeichen 23 Ca 422/84) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldzuschusses.
Der Kläger ist bei der beklagten Anstalt seit dem 1. Mai 1959 beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt der Manteltarifvertrag für die bei der Beklagten beschäftigten Arbeitnehmer (MTV NDR) vom 18. November 1976 in der ab 1. Januar 1983 maßgeblichen Fassung des 2. Änderungstarifvertrages. Nach Textziffer (TZ) 611.1 MTV NDR hat der Arbeitnehmer bei krankheits- oder unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit und bei Kur Anspruch auf Weiterzahlung der Vergütung, und zwar während des ersten Jahres der Betriebszugehörigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen (TZ 611.11), vom Beginn des zweiten Jahres der Betriebszugehörigkeit für die Dauer von drei Monaten (TZ 611.12) und vom Beginn des fünften Jahres der Betriebszugehörigkeit, bei Arbeitsunfall oder Berufskrankheit für die Dauer von sechs Monaten (TZ 611.13). Gemäß TZ 613.1 MTV NDR erhält der Arbeitnehmer nach Wegfall der Vergütungsfortzahlung einen Krankengeldzuschuß bis zum Ablauf der 52. Krankheitswoche. Die Bestimmung lautet wie folgt:
613.1
Ist der Arbeitnehmer krankenversicherungspflichtig oder
erhält er gemäß § 405 RVO den Arbeitgeberzuschuß zu den
Beiträgen für eine freiwillige Mitgliedschaft in der
gesetzlichen Krankenversicherung oder für eine private
Krankenversicherung, so erhält er - abweichend von TZ
611.1 - in den Fällen zu TZ 611.12 und TZ 611.13 von Beginn
der 7. Krankheitswoche an einen Krankengeldzuschuß. Durch
den Krankengeldzuschuß ist der Arbeitnehmer so zu stellen,
daß er unter Anrechnung des von der gesetzlichen Krankenversicherung
(AOK oder Ersatzkassen) gezahlten Krankengeldes
seine jeweilige Nettovergütung erhält; bei Arbeitnehmern,
die in einer Privatversicherung versichert sind,
wird das Krankengeld angerechnet, das die örtliche Allgemeine
Ortskrankenkasse als höchstes Krankengeld an ihre freiwilligen
Mitglieder zahlt.
Dies gilt bei Leistungen aus der gesetzlichen Unfall- und
Rentenversicherung insoweit, als es sich um Leistungen handelt,
die dem Krankengeld entsprechen. Der Krankengeldzuschuß
wird bis zum Ablauf der 52. Krankheitswoche gezahlt.
Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrunde zu legen ist.
Der Kläger war vom 20. November 1983 bis zum 5. März 1984 arbeitsunfähig krank. Vom 2. bis zum 29. April 1984 unterzog er sich einer Kur. Für diese Zeit und für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 5. März 1984 erhielt er Krankengeld und Krankengeldzuschuß. Die Krankenkasse zahlte ihm jedoch nur das um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung geminderte Krankengeld ("Nettokrankengeld") aus. Die Beklagte berechnete den Zuschuß zum Krankengeld wie bisher auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt der Kläger in den genannten Zeiträumen insgesamt 1.087,09 DM weniger, als seine Nettovergütung betragen hätte. Dieses Ergebnis hält der Kläger für ungerechtfertigt und verlangt von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.
Der Kläger hat vorgetragen: Nach dem klaren Wortlaut des MTV NDR sei der Berechnung des Zuschusses das an ihn ausgezahlte, also das Nettokrankengeld, zugrundezulegen. Das ergebe sich auch aus Sinn und Zweck des Tarifvertrages. Die Tarifvertragsparteien hätten den Arbeitnehmer so stellen wollen, daß er weiter über das Nettoentgelt, das er vor der Arbeitsunfähigkeit bezogen habe, verfügen könne. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1984 habe der Gesetzgeber die Staatsfinanzen sanieren, nicht aber dem Arbeitnehmer eine besondere Belastung auferlegen wollen. Eine so wesentliche Veränderung der Umstände, die die Geschäftsgrundlage des Tarifvertrages antasten würde, sei durch die Einführung der Beitragspflicht nicht eingetreten.
Demgemäß hat der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.087,09 DM
nebst 4 % Zinsen seit dem 22. August 1984 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, und vorgetragen: Das an den Kläger gezahlte Krankengeld sei der Höhe nach unverändert geblieben. Von dem gezahlten Krankengeld habe der Begünstigte Beiträge zur gesetzlichen Arbeitslosen- und Rentenversicherung zu leisten. Lediglich zur Verwaltungsvereinfachung habe der Gesetzgeber angeordnet, daß die Krankenkassen den Arbeitnehmeranteil vom Krankengeld abzuziehen und abzuführen hätten. Das Wort "gezahlt" sei nun auch beim Krankengeld - ebenso wie vorher schon bei der Vergütung - nicht mehr mit "ausgezahlt" gleichzusetzen. Bisher habe das Krankengeld im Regelfall der zuletzt bezogenen Nettovergütung entsprochen, so daß sie, die Beklagte, nur ausnahmsweise zur Zahlung eines Zuschusses verpflichtet gewesen sei. Wäre die Auslegung des Klägers richtig, so würde nunmehr jeder Krankengeldbezieher einen Anspruch auf Zahlung des Zuschusses erwerben, da das Nettokrankengeld in Höhe der Arbeitnehmeranteile (11,55 %) hinter der Nettovergütung zurückbleibe. Es sei Geschäftsgrundlage des Tarifvertrages gewesen, daß das Krankengeld nicht beitragspflichtig sei. Außerdem würde die Auffassung des Klägers die freiwillig rentenversicherten und die freiwillig krankenversicherten, aber rentenpflichtversicherten Arbeitnehmer begünstigen. Aus diesen Gründen sei bei der Berechnung des Zuschusses das Bruttokrankengeld zugrundezulegen.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Vorschrift der TZ 613.1 MTV NDR, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden (I). Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (II).
I. 1. Die von den Tarifvertragsparteien in TZ 613.1 MTV NDR verwendeten Begriffe "Krankengeldzuschuß", "das von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlte Krankengeld" und "Leistungen aus der Unfall- und Rentenversicherung" ("Leistungen, die dem Krankengeld entsprechen") richten sich nach dem Krankenversicherungsrecht.
Der Krankengeldzuschuß stellt eine tarifvertragliche Leistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Die tarifvertraglichen Begriffe "das gezahlte Krankengeld" und "Leistungen aus der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung" sind dem Sozialversicherungsrecht entnommen. Sie müssen daher auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinne verstanden und ausgelegt werden (vgl. dazu BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969, mit weiteren Nachweisen). Daraus ergibt sich: Mit "gezahltem Krankengeld" (gleichbedeutend mit "Barleistungen" oder "tatsächlichen Barleistungen", wie andere Tarifverträge formulieren) und "Leistungen aus der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung" ist nicht der Betrag gemeint, der dem Arbeitnehmer tatsächlich zufließt. Vielmehr soll damit unterschieden werden zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits als den Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht (vgl. die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 -, zu I 1 und 2 a der Gründe). Dies wird vorliegend noch besonders deutlich dadurch, daß nach TZ 613.1 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz MTV NDR bei Arbeitnehmern, die in einer Privatversicherung versichert sind, das "Krankengeld" angerechnet und damit der Berechnung des Zuschusses zugrundegelegt wird, das die örtliche AOK als höchstes Krankengeld an ihre freiwilligen Mitglieder zahlt.
2. Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 b Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetz trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.
3. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der am 18. November 1976 getroffenen Vereinbarung der TZ 613.1 (einschließlich der ab 1. Januar 1983 geltenden Änderungsfassung) mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschusses von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In TZ 613.1 MTV NDR ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).
II. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:
1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck der TZ 613.1 MTV NDR auch nach Wegfall der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle seinen Nettolohn durch Krankengeld und einen entsprechenden Zuschuß des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Zuschuß zum Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, daß die auf den Zuschuß entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Zuschuß nach dem Bruttokrankengeld zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).
2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.
Dr. Thomas Dr. Gehring Dr. Olderog
Scherer Dr. Stadler
Fundstellen