Entscheidungsstichwort (Thema)
Untersuchung auf Dienstfähigkeit
Leitsatz (redaktionell)
Das Ergebnis arbeitsmedizinischer Untersuchung kann für den Arbeitgeber eine Veranlassung im Sinne des § 10 Abs 2 MTB 2 sein, durch das Gesundheitsamt feststellen zu lassen, ob der Arbeiter dienstfähig (= arbeitsfähig) ist.
Normenkette
MTB § 10 Abs. 2; MTB 2 § 10 Abs. 2
Verfahrensgang
LAG Köln (Entscheidung vom 02.07.1992; Aktenzeichen 10 Sa 285/92) |
ArbG Bonn (Entscheidung vom 04.03.1992; Aktenzeichen 3 Ca 169/92) |
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, die Dienstfähigkeit des Klägers durch das Gesundheitsamt feststellen zu lassen.
Der 1945 geborene Kläger arbeitet seit dem 1. Februar 1983 als Buchbinder im Bundesministerium des Innern. Kraft einzelvertraglicher Bezugnahme findet auf das Arbeitsverhältnis der Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes (MTB II) Anwendung, dessen § 10 Abs. 2 lautet:
"Der Arbeitgeber kann bei gegebener Veranlas-
sung durch einen Vertrauensarzt oder das Ge-
sundheitsamt feststellen lassen, ob der Arbei-
ter dienstfähig oder frei von ansteckenden
oder ekelerregenden Krankheiten ist. Von der
Befugnis darf nicht willkürlich Gebrauch ge-
macht werden."
Der Kläger ist zu 90 % schwerbehindert. Er ist aufgrund einer Sehbehinderung auf dem linken Auge fast blind und hat auf dem rechten Auge nur eine Sehleistung von ca. 10 %.
Mit Schreiben vom 9. August 1991 teilte der Leitende Arzt des Ärztlichen und Sozialen Dienstes der obersten Bundesbehörden im Bundesministerium des Innern (ÄSD), Ministerialrat Dr. med. H , dem für den Kläger zuständigen Personalreferat mit:
"Am 11. April 1991 habe ich Herrn A arbeits-
medizinisch untersucht und u.a. 9.8.1991 beraten.
Aus arbeitsmedizinischer Sicht bestehen gesund-
heitliche Bedenken gegen eine Weiterverwendung
als Buchdrucker.
Gegen eine Tätigkeit in der Telefonzentrale be-
stehen aus ärztlicher Sicht keine Bedenken. Über
evtl. notwendige Arbeitshilfen sollte zusammen
mit einem Ingenieur der Hauptfürsorgestelle bera-
ten werden."
Seine Bedenken wiederholte Dr. med. H in einem ausführlichen Schreiben vom 3. September 1991 an die zuständige Schwerbehindertenvertretung. Am 13. November 1991 fand eine Betriebsbegehung durch einen Vertreter der Hauptfürsorgestelle (Landschaftsverband Rheinland) und einen Vertreter der Fürsorgestelle (Stadt Bonn) statt. Beide erkannten in ihren Stellungnahmen vom 15. November 1991 und vom 5. Dezember 1991 keine besondere Gefährdung des Klägers an seinem bisherigen Arbeitsplatz. Hierauf nahm Dr. med. H mit Schreiben vom 30. Dezember 1991 gegenüber dem Personalreferat erneut wie folgt Stellung:
"...
Ich sehe keine Gründe, meine arbeitsmedizinische
Beurteilung vom 9.8.1991 zu ändern. Die arbeits-
medizinische Beurteilung hat sich nicht danach zu
richten, ob der Versicherte sich in der Lage
"fühlt", seinen erlernten Beruf auszuüben, son-
dern ob er gesundheitlich dazu in der Lage ist.
Diese Feststellung hat der Arbeitsmediziner zu
treffen.
...
Aufgrund meiner Untersuchung bin ich zu dem Er-
gebnis gekommen, daß Herr Andres wegen seiner Ge-
sundheitsstörungen in erhöhtem Maße unfallgefähr-
det ist. Deshalb bestehen gesundheitliche Beden-
ken gegen die Fortsetzung der bisher ausgeübten
Tätigkeit."
Mit Schreiben vom 13. Januar 1992 forderte das zuständige Personalreferat den Kläger unter Hinweis auf § 10 Abs. 2 MTB II auf, seine Dienstfähigkeit durch das Gesundheitsamt feststellen zu lassen. Daraufhin legte der Kläger ärztliche Bescheinigungen seines ihn seit 1979 behandelnden Augenarztes Dr. P vom 3. Februar und 10. Februar 1992 vor, wonach die Sehbehinderung seit 1983 unverändert ist.
Der Kläger hat gemeint, für die Anordnung der Untersuchung durch das Gesundheitsamt bestehe keine Veranlassung. Er übe seit Jahren an seinem bisherigen Arbeitsplatz die Tätigkeit eines Buchbinders aus. Für eine Verschlechterung seiner Gesundheit und eine gesteigerte Unfallgefährdung bestünden keine Anhaltspunkte. Er sei jedoch bereit, sich einer Untersuchung durch einen Arbeitsmediziner des Arbeitsamtes Bonn zu unterziehen. Diese Stelle sei sachkundiger als das mit allgemeinen medizinischen Fragen befaßte Gesundheitsamt.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß er nicht verpflichtet sei,
sich einer Untersuchung durch das Gesundheitsamt
zu unterziehen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, die vorbeugende Untersuchung zum Zwecke der Unfallverhütung durch den Leitenden Arzt des ÄSD habe zu Zweifeln an der Dienstfähigkeit geführt und sei damit Anlaß für eine amtsärztliche Untersuchung nach § 10 Abs. 2 MTB II.
Beide Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während der Kläger um Zurückweisung der Revision bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Die Klage ist unbegründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Beklagte sei nicht berechtigt, vom Kläger die Untersuchung durch das Gesundheitsamt zu verlangen, weil hierzu keine Veranlassung i.S. § 10 Abs. 2 MTB II bestehe. Eine solche könne sich nicht aus unterschiedlichen arbeitsmedizinischen Ansichten über die Geeignetheit des bisherigen Arbeitsplatzes ergeben. Der Anlaß zur arbeitsmedizinischen Untersuchung und der eventuellen Notwendigkeit eines Arbeitsplatzwechsels sei von dem tarifrechtlichen Anlaß zur Feststellung der Dienstfähigkeit zu unterscheiden. Letztere stehe nur in Frage, wenn zweifelhaft sei, ob der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung künftig überhaupt noch erbringen könne. Da aber der Kläger jahrelang die Tätigkeit als Buchbinder ausgeübt habe, bestehe keine Veranlassung, seine Dienstfähigkeit zu bezweifeln.
Diesen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts kann rechtlich nicht gefolgt werden.
II. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung. Die Beklagte ist berechtigt, die Dienstfähigkeit des Klägers durch das Gesundheitsamt feststellen zu lassen.
1. Nach § 10 Abs. 2 MTB II kann der Arbeitgeber durch das Gesundheitsamt feststellen lassen, ob der Arbeiter dienstfähig ist. Der Begriff der Dienstfähigkeit hat seinen Ursprung im Beamtenrecht. Er ist das Gegenteil der dort definierten Dienstunfähigkeit. Ein Beamter ist dienstunfähig, wenn er infolge körperlicher Gebrechen oder wegen Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte zur Erfüllung seiner Dienstpflichten unfähig ist (vgl. § 42 Abs. 1 BBG). Dem entspricht der Begriff der Arbeitsunfähigkeit. Diese liegt vor, wenn der Arbeitnehmer wegen der genannten Ursachen nicht in der Lage ist, die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Da sich Unterschiede zwischen Dienstfähigkeit und Arbeitsfähigkeit somit nicht feststellen lassen, ist davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien den in § 10 Abs. 2 MTB II verwendeten Begriff "dienstfähig" im Sinne von "arbeitsfähig" verstanden haben (vgl. Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, zum wortgleichen § 7 Abs. 2 BAT, Rz 23). Die Untersuchung auf Dienstfähigkeit zielt somit nicht nur auf die Feststellung der allgemeinen Arbeitsfähigkeit, sondern auch darauf ab, ob der Arbeitnehmer in der Lage ist, die besonderen Anforderungen seiner arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung - hier als Buchbinder - zu erbringen (vgl. Uttlinger/Breier/Kiefer/Hoffmann, BAT, Stand 1. März 1993 zum wortgleichen § 7 Abs. 2 BAT Erl. 3).
2. Das Ergebnis der betriebsärztlichen Untersuchung berechtigte die Beklagte, von dem Kläger die amtsärztliche Untersuchung zu verlangen. § 10 Abs. 2 MTB II knüpft das Recht des Arbeitgebers an eine "gegebene Veranlassung", bestimmt aber keine weiteren Voraussetzungen, unter denen die Untersuchung angeordnet werden darf. Geregelt ist nur, daß der Arbeitgeber von der Befugnis nicht willkürlich Gebrauch machen darf (§ 10 Abs. 2 Satz 2 MTB II). Der Anlaß zur Untersuchung kann sich aus der Fürsorgepflicht für den Arbeiter selbst, aus der Fürsorgepflicht für die übrigen Arbeitnehmer oder aus dem sonstigen Pflichtenkreis der Verwaltung oder des Betriebs ergeben (h.M. vgl. BAG Urteil vom 23. Februar 1967 - 2 AZR 124/66 - AP Nr. 1 zu § 7 BAT; BAG Urteil vom 21. Juni 1978 - 4 AZR 816/76 - AP Nr. 3 zu § 25 BAT; Scheuring/Steingen, MTB II, Stand 1. April 1993, § 10 Erl. 3; Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, aaO, Rz 22; Uttlinger/Breier/Kiefer/Hoffmann, aa0, Erl. 3).
Ein Anlaß für die amtsärztliche Untersuchung stellt die begründete Annahme des Arbeitgebers dar, der Arbeitnehmer könne infolge seines Gesundheitszustandes die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung auf seinem bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr erbringen. In diesem Fall bestehen Zweifel, daß der Arbeitnehmer weiterhin dienstfähig ist. Solche Zweifel können sich auch aus einer mit anderer Zielrichtung durchgeführten arbeitsmedizinischen Untersuchung ergeben. Dies verkennt das Landesarbeitsgericht.
Nach § 3 Abs. 1 der Richtlinie für den betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Dienst in den Verwaltungen und Betrieben des Bundes haben die Betriebsärzte die Aufgabe, den Behördenleiter beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen des Gesundheitsschutzes zu unterstützen. Sie haben u.a. die Beschäftigten ohne rechtliche Verpflichtungen für diese zu untersuchen, arbeitsmedizinisch zu beurteilen und zu beraten sowie die Untersuchungsergebnisse zu erfassen und auszuwerten (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 der Richtlinie). Dem Landesarbeitsgericht ist zwar zuzugeben, daß die Aufgaben des betriebsärztlichen Dienstes nicht in erster Linie darin bestehen, nach Zweifeln an der Dienstfähigkeit eines Arbeitnehmers zu suchen, um den Anspruch des Arbeitgebers nach § 10 Abs. 2 MTB II auszulösen. Dies schließt nach dem im Tarifwortlaut zum Ausdruck gekommenen Willen der Tarifvertragsparteien aber nicht aus, daß im Einzelfall das Ergebnis einer arbeitsmedizinischen Untersuchung geeignet ist, Zweifel an der Dienstfähigkeit des Arbeitnehmers zu begründen. So liegt der Fall hier. Daraus, daß der Leitende Arzt des ÄSD, Dr. med. H , aus arbeitsmedizinischer Sicht gesundheitliche Bedenken gegen die Weiterverwendung des Klägers auf Dauer auf seinem bisherigen Arbeitsplatz äußerte und trotz der Gegenvorstellungen der Vertreter von Fürsorgestelle und Hauptfürsorgestelle auf diesen Zweifeln beharrte, ergab sich für die Beklagte die Veranlassung i.S. des § 10 Abs. 2 MTB II, den Kläger auf seine Dienstfähigkeit untersuchen zu lassen. Die vom Kläger vorgelegten Bescheinigungen seines Augenarztes Dr. P beseitigten den Anlaß der amtsärztlichen Untersuchung nicht. Dem Arbeitgeber kann nicht zugemutet werden, aufgrund eines nach den Angaben des Arbeiters zustande gekommenen privatärztlichen Gutachtens eine personelle Entscheidung zu treffen, nachdem die Tarifvertragsparteien ihm ausdrücklich das Untersuchungsrecht zugestanden haben (vgl. Scheuring/Steingen, aaO, Erl. 3).
3. Auch soweit der Kläger die Notwendigkeit der Untersuchung bestreitet, weil er die Sachkunde des Gesundheitsamtes anzweifelt und statt dessen eine Untersuchung durch einen Arbeitsmediziner des Arbeitsamtes Bonn vorschlägt, ist er auf den Tarifwortlaut zu verweisen. Dort ist als geeignete Untersuchungsstelle ausdrücklich das Gesundheitsamt vereinbart. Der Kläger hat keine Tatsachen behauptet, aus denen sich ergibt, daß das Gesundheitsamt entgegen der übereinstimmenden Auffassung der Tarifpartner der erforderlichen Sachkunde entbehrt.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
Dr. Peifer Dr. Jobs Dr. Armbrüster
Kapitza Schwarck
Fundstellen
BB 1994, 795 |
DB 1994, 2631-2632 (LT1) |
NJW 1995, 806 |
NJW 1995, 806 (L) |
ARST 1994, 101-102 (LT1) |
EEK, I/1136 (ST1-2) |
NZA 1994, 851 |
NZA 1994, 851-852 (LT1) |
ZTR 1994, 287-288 (LT1) |
AP § 10 MTB II (LT1), Nr 1 |
EzBAT § 7 BAT, Nr 4 (LT1) |
PersV 1995, 515-516 (L) |