Entscheidungsstichwort (Thema)
Beginn einer tariflichen Ausschlußfrist
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach § 10 Nr 5 des Manteltarifvertrages für den Einzelhandel in Bayern vom
3.5.1985 läuft bei fehlerhafter Eingruppierung die tarifliche Verfallfrist ab
Fälligkeit der jeweiligen Vergütungsansprüche. Dies gilt auch dann, wenn der
Arbeitgeber eine Eingruppierung in das tarifliche Gruppensystem nicht
ausdrücklich mitgeteilt hat.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob von der Klägerin geltend gemachte Vergütungsansprüche nach § 10 Nr. 5 des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vom 3. Mai 1985 (MTV) verfallen sind. Die Klägerin war nach Abschluß ihrer Ausbildung bei der Beklagten von September 1981 bis zum 31. Juli 1988 als Einzelhandelskauffrau beschäftigt. Eine ausdrückliche Bezeichnung der Eingruppierung in eine der Gehaltsgruppen des MTV ist weder im Arbeitsvertrag noch in den Auszahlungsbelegen enthalten. Die Parteien sind sich jedoch darüber einig, daß die Klägerin in Gehaltsgruppe III einzugruppieren war. Mit der der Beklagten am 25. Oktober 1988 zugestellten Klage begehrt die Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1986 bis 31. Juli 1988 weitere tarifliche Arbeitsvergütung - soweit hier noch von Interesse - in Höhe von 15.084,05 DM. Insoweit handelt es sich um einen Differenzbetrag zwischen der tatsächlich gezahlten und der tariflich nach der Gehaltsgruppe III zustehenden Vergütung.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr Anspruch sei gemäß § 23 Nr. 2 Abs. 2 MTV fristgerecht geltend gemacht worden. Er sei auch nicht gemäß § 10 Nr. 5 Abs. 2 MTV verfallen, da eine Eingruppierung nicht vorgenommen worden sei. Der systematische Zusammenhang von Abs. 1 und Abs. 2 des § 10 MTV verlange eine ausdrückliche Eingruppierung, da sich der Anspruch nach Abs. 2 auf Abs. 1 stütze. Unterlasse der Arbeitgeber die Eingruppierung entweder im Arbeitsvertrag oder durch einseitige ausdrückliche Erklärung, so erfolge sie durch die vom Arbeitnehmer auszuübende Tätigkeit. Eine solche Erklärung liege auch nicht in der Auszahlung des Gehalts. Fehle es an einer Eingruppierung, laufe auch nicht die Frist des § 10 Nr. 5 Abs. 2 MTV ab.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt, die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 15.084,05 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit Klagezustellung zu zahlen. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen und die Ansicht vertreten, der Anspruch könne gemäß § 10 Nr. 5 MTV nur für drei Monate rückwirkend geltend gemacht werden. Eine erstmalige Geltendmachung sei mit der vorliegenden Klage erfolgt, so daß nur der Anspruch für den Monat Juli nicht verfallen sei. § 10 MTV verlange nach seinem Wortlaut keine ausdrücklich erklärte Eingruppierung. Abs. 2 sehe keine weiteren Voraussetzungen für den Fristbeginn vor, wenn kein Einspruch gegen die vorgenommene Eingruppierung erfolge. Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien sei es auch unerheblich, aufgrund welcher Überlegungen der Arbeitgeber das Gehalt in der Vergangenheit festgelegt habe und ob der Arbeitgeber bislang die Gehaltshöhe aus dem Beschäftigungsgruppenkatalog abgeleitet habe.
Das Arbeitsgericht hat der Klage nur teilweise hinsichtlich der Mehrforderung für Juli 1988 stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Klägerin der Klage auch hinsichtlich des Restbetrages stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf weitere, über die vom Arbeitsgericht für Juli 1988 bereits zuerkannte Vergütung hinaus. Denn die Ansprüche für die vorangegangene Zeit sind gemäß § 10 Ziff. 5 MTV verfallen.
I. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft Allgemeinverbindlichkeitserklärung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, § 5 Abs. 4 TVG der MTV unmittelbare und zwingende Anwendung. Danach sind die nachstehenden Bestimmungen des MTV anzuwenden:
"§ 2 Beginn und Änderung des Arbeitsverhältnisses
1. Der Arbeitsvertrag bedarf der Schriftform (deklaratorische Wirkung). Dem Arbeitnehmer ist eine Ausfertigung auszuhändigen.
3. Bei Vertragsänderungen während der Dauer des Beschäftigungsverhältnisses gilt Ziffer 1 entsprechend.
4. Im Arbeitsvertrag sind festzulegen:
c) Tarifliche Eingruppierung (Tarifgruppe und -stufe);
d) Art, Höhe und Zusammensetzung des Entgelts einschließlich aller sonstigen Bezüge;
§ 10 Gehalts- und Lohnregelung
2. Die Arbeitnehmer werden im Gehalts- und Lohntarifvertrag in Beschäftigungsgruppen bzw. Lohngruppen eingestuft. Für die Eingruppierung kommt es auf die tatsächlich verrichtete Tätigkeit an.
5. Der Einspruch gegen die Eingruppierung in eine Beschäftigungs- oder Lohngruppe ist innerhalb einer Frist von drei Monaten zu erheben.
Ist ein Einspruch nicht rechtzeitig erfolgt, kann ein Anspruch für einen weiter als drei Monate zurückliegenden Zeitraum nicht geltend gemacht werden.
§ 23 Verfallklausel
1. Der Arbeitnehmer ist zur sofortigen Nachprüfung des ausbezahlten Geldbetrages bzw. seiner Entgeltabrechnung verpflichtet. Differenzen sind unverzüglich zu melden.
2. Ansprüche auf Bezahlung von Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit erlöschen mit dem Ablauf von drei Monaten nach ihrer Entstehung, wenn sie nicht innerhalb dieser Frist geltend gemacht werden.
Alle übrigen aus dem Tarifvertrag und dem Arbeitsverhältnis entstandenen gegenseitigen Ansprüche sind spätestens innerhalb von drei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend zu machen, ausgenommen hiervon sind Ansprüche aus § 10 Ziffer 5.
Vorstehende Fristen gelten als Ausschlußfristen."
II. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, unterfällt der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch nicht der allgemeinen Verfallklausel des § 23 Ziff. 2 MTV, sondern der besonderen des § 10 Ziff. 5 MTV. Denn aus der Ausnahmeregelung in § 23 Ziff. 3 MTV folgt, daß für Ansprüche im Zusammenhang mit der Eingruppierung in die verschiedenen Gehaltsstufen die besonderen Fristen des § 10 Ziff. 5 MTV gelten sollen.
Nach § 10 Ziff. 5 Abs. 2 MTV kann ein Anspruch für einen weiter als drei Monate zurückliegenden Zeitraum nicht geltend gemacht werden, wenn kein Einspruch gegen die erfolgte Eingruppierung innerhalb von drei Monaten erhoben worden ist. Die Tarifvertragsparteien haben nicht ausgeführt, was unter "Anspruch" im Sinne dieser Vorschrift gemeint ist. Dies ist daher durch Auslegung zu ermitteln. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat (BAGE 42, 86, 89 AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 46, 308, 313, 316 AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 60, 219, 223, 224 AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation; BGHZ 105, 222, 223). Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages, ggf. auch eine praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAGE 42, 86, 89 AP, aaO; BAGE 42, 244, 254 AP Nr. 2 zu § 21 TVAL II; BAGE 46, 308, 316 AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Danach ist unter Anspruch im Sinne dieser Vorschrift - in Übereinstimmung mit dem Landesarbeitsgericht und der Revision - der sich aus der Eingruppierung ergebende Zahlungsanspruch zu verstehen und nicht etwa das Recht, gegen die Eingruppierung Widerspruch zu erheben. Dies folgt aus dem Gesamtzusammenhang der Vorschrift.
§ 10 MTV steht unter der Überschrift " Gehalts- und Lohnregelung" meint also immer, wenn das Wort Anspruch auftaucht, einen Gehalts- oder Lohnanspruch. So spricht auch Ziffer 5 Abs. 2 von "einem" Anspruch. Außerdem stellt Abs. 2 Halbsatz 1 die Verbindung zu Abs. 1 her und Abs. 2 Halbsatz 2 die Verbindung zu § 23 Ziffer 2 Abs. 2 Halbsatz 2 MTV. Das entspricht auch dem erkennbaren Willen der Tarifvertragsparteien entsprechend dem Zweck von Ausschlußklauseln alsbald Rechtssicherheit zu schaffen und damit Vergütungsansprüche während des noch bestehenden Arbeitsverhältnisses zu klären.
III. Zu Unrecht meint das Landesarbeitsgericht jedoch, die Verfallfrist beginne erst dann zu laufen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer ausdrücklich oder konkludent eingruppiert und ihm dies auch bekanntgegeben hat, wobei die bloße Gehaltszahlung hierfür nicht ausreiche. 1.a) Nach dem Wortlaut des § 10 Ziff. 5 MTV ist für den Fristbeginn kein ausdrücklicher Eingruppierungsakt erforderlich. Ein solches Erfordernis stände auch im Widerspruch zu § 10 Ziff. 2 MTV, nach dem die Arbeitnehmer entsprechend ihrer tatsächlich verrichteten Tätigkeit eingruppiert sind, ohne daß es eines deklaratorischen oder gar konstitutiven Eingruppierungsaktes des Arbeitgebers bedürfte.
b) Ein solches Verlangen widerspricht auch Sinn und Zweck der Verfallklausel des § 10 Ziff. 5 MTV. Durch die Herausnahme aus der allgemeinen Verfallklausel nach § 23 MTV haben die Tarifvertragsparteien, wie das Landesarbeitsgericht selbst hervorhebt, deutlich gemacht, daß Streitigkeiten über die zutreffende Beschäftigungsgruppe kurzfristig und im engen Zusammenhang mit dem bestehenden Arbeitsverhältnis ausgetragen und geklärt werden sollen. Dies ist auch angesichts der geringfügigen Unterschiede in den Tätigkeitsmerkmalen der einzelnen Beschäftigungsgruppen der Gehaltstarifverträge sinnvoll. Gerade in einem gelebten Arbeitsverhältnis in Kleinbetrieben, in dem oft das Überwechseln von einer Beschäftigungsgruppe in die nächsthöhere nicht abrupt aufgrund besonderer Maßnahmen erfolgt, sondern, wie die Beispiele in Gruppe II und III zeigen, oft gleitend, ist eine Klärung der Eingruppierung in überschaubaren Zeiträumen für beide Arbeitsvertragsparteien dringend geboten.
c) Gerade die letzte Überlegung zeigt aber auch, daß die Forderung eines über die Gehaltszahlung hinausgehenden Eingruppierungsaktes zu widersprüchlichen Ergebnissen führt. Erklärt z.B. ein Arbeitgeber zu Beginn der Beschäftigung ausdrücklich, der Angestellte werde in die Beschäftigungsgruppe II eingruppiert und zahlt er das dementsprechende Gehalt, so könnte er sich nach Jahr und Tag auf den Ablauf der Ausschlußfrist berufen, wenn der Angestellte geltend macht, er sei in die Gruppe III einzuordnen, weil er im Laufe der Zeit nicht mehr nur einfache kaufmännische Tätigkeiten verrichtet habe, sondern zeitlich überwiegend selbständige Tätigkeiten im Rahmen allgemeiner Anweisungen (§ 10 Ziff. 3 MTV). Ein Arbeitgeber dagegen, der zu Beginn der Beschäftigung außer einer entsprechenden Gehaltszahlung keine ausdrückliche Eingruppierung erklärt hat, könnte sich dagegen allenfalls auf die Verjährungsfrist des § 196 BGB berufen, so daß entgegen dem Sinn der Ausschlußklausel im Extremfall über zwei Jahre elf Monate zurückliegend die einzelnen Tätigkeitsmerkmale überprüft werden müßten. Nach § 10 Ziff. 5 MTV hat der Arbeitgeber bei der Auszahlung der Bezüge eine schriftliche Abrechnung auszuhändigen, aus der der Bruttoverdienst sowie alle Zulagen und Zuschläge, Abzüge und der Nettoverdienst ersichtlich sind. Da in den Gehaltstarifverträgen feste Bruttogehaltssätze festgelegt sind, kann aus Gehaltsabrechnungen die zugrundeliegende Eingruppierung ohne weiteres entnommen werden.
d) Dagegen läßt sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts aus der Regelung des § 2 Ziff. 4 c MTV nichts dafür herleiten, § 10 Ziff. 5 Abs. 2 MTV verlange für den Fristbeginn einen ausdrücklichen Eingruppierungsakt. Dort ist allein die Verpflichtung des Arbeitgebers normiert, dem Arbeitnehmer einen schriftlichen Arbeitsvertrag auszuhändigen, der die Festlegung der Beschäftigungsgruppe, sowie Art, Höhe und Zusammensetzung des Entgelts enthält. Hieraus entsteht aber allenfalls ein entsprechender Anspruch des Angestellten. Wie aber schon der Hinweis im Klammerzusatz des § 2 Ziff. 1 MTV "(deklaratorische Wirkung)" zeigt, führt eine Verletzung dieser Verpflichtung nicht zu einem vertragslosen Zustand. Dann kann hieraus aber auch nicht ein Aufschub des Beginns der Verfallfrist entnommen werden. Nachdem die Klägerin Einspruch gegen ihre Eingruppierung durch die Beklagte erstmals mit der am 25. Oktober 1988 zugestellten Klage erhoben hat, sind vor Juli 1988 entstandene Vergütungsansprüche dementsprechend verfallen.
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Schaub, Dr. Etzel, Schneider
Brocksiepe, Schmalz
Fundstellen
Haufe-Index 439203 |
BB 1991, 1266 |
BB 1991, 1266-1267 (LT1) |
DB 1991, 2670-2671 (LT1) |
NZA 1991, 424-426 (LT1) |
RdA 1991, 190 |
ZTR 1991, 251 (LT1) |
AP § 1 TVG Tarifverträge Einzelhandel (LT1), Nr 30 |
EzA § 4 TVG Ausschlußfristen, Nr 90 (LT1) |