Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiterbeschäftigungsanspruch bei wiederholten Kündigungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Hat ein Gericht für Arbeitssachen festgestellt, daß eine bestimmte Kündigung unwirksam ist und hat es deshalb den Arbeitgeber zur Weiterbeschäftigung verurteilt, hängt die Beantwortung der Frage, ob danach ausgesprochene Kündigungen den Weiterbeschäftigungsanspruch beenden, davon ab, ob sie zu einer Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses führen, die derjenigen entspricht, die vor Verkündung des Urteils bestanden hat, das die Unwirksamkeit der ersten Kündigung festgestellt hat.
2. Dementsprechend beendet eine weitere offensichtlich unwirksame Kündigung den Weiterbeschäftigungsanspruch ebensowenig wie eine weitere Kündigung, die auf dieselben Gründe gestützt wird, die nach Auffassung des Arbeitsgerichts schon für die erste Kündigung nicht ausgereicht haben.
3. Stützt dagegen der Arbeitgeber eine weitere Kündigung auf einen neuen Lebenssachverhalt, der es möglich erscheinen läßt, daß die erneute Kündigung eine andere rechtliche Beurteilung erfährt, dann wird damit eine zusätzliche Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses begründet, die das schutzwürdige Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung wieder überwiegen läßt.
Bei der Prüfung der Frage, ob es möglich ist, daß die neue Kündigung eine andere Beurteilung erfährt, sind auch die Umstände zu berücksichtigen, die dafür sprechen, daß der neue Sachverhalt nur vorgeschoben ist (zB bei Kettenkündigungen).
Normenkette
BGB §§ 611, 626
Verfahrensgang
LAG Berlin (Entscheidung vom 15.01.1985; Aktenzeichen 9 Sa 99/84) |
ArbG Berlin (Entscheidung vom 25.07.1984; Aktenzeichen 51 Ca 108/84) |
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte kündigte mit Zustimmung des Betriebsrats dem Kläger, der bis zur Betriebsratswahl am 3. April 1984 Mitglied des Betriebsrats gewesen war, am 25. April 1984 fristlos. Sie stützte die Kündigung auf ein Flugblatt, das der Kläger am 16. April 1984 außerhalb der Arbeitszeit vor dem Betrieb zusammen mit den ehemaligen Betriebsratsmitgliedern K und Kö verteilt hatte und in dem sie dem Werkleiter G vorgeworfen hatten, die Betriebsratswahl durch Drohungen massiv zugunsten einer sogenannten "Mannschaft der Vernunft" beeinflußt zu haben. Hiermit begründete er zugleich die Anfechtung der Betriebsratswahl. Am 2. Mai 1984 verteilte der Kläger ein weiteres Flugblatt, in dem dem neuen Betriebsrat vorgeworfen wurde, durch seine Zustimmung zur Kündigung die Existenzgrundlage des Klägers vernichtet zu haben. Am 7. Mai 1984 befaßte sich die Tageszeitung (taz) und Mitte Mai die Berliner Stimme (BS) mit der Betriebsratswahl, der Wahlanfechtung und der fristlosen Kündigung. Am 19. Mai 1984 gab der Kläger in einer Sendung des Senders Freies Berlin, die sich mit derselben Thematik befaßte, ebenso wie ein Mitglied des neuen Betriebsrats ein Interview. Diese Vorgänge nahm die Beklagte zum Anlaß, dem Kläger am 30. Mai 1984
"wegen wiederholter in öffentlichen Medien
durchgeführter Ehrverletzungen des Betriebs-
rats und der Betriebsleitung sowie anhalten-
der Schädigung des Ansehens der B AG in
der Öffentlichkeit"
erneut außerordentlich fristlos zum 3. Juni 1984 zu kündigen.
Das Arbeitsgericht stellte durch Urteil vom 25. Juli 1984 fest, beide Kündigungen seien unwirksam und verurteilte die Beklagte antragsgemäß, den Kläger zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Maschinenarbeiter weiterzubeschäftigen. Nach Zustellung dieses Urteils am 5. September 1984 sprach die Beklagte am 17. September und 9. Oktober 1984 weitere außerordentliche Kündigungen aus. Beide Kündigungen begründete sie mit einem Sachverhalt, den sie im Verfahren über die Wirksamkeit der ersten beiden Kündigungen auch nachgeschoben hatte. Zusätzlich begründete die Beklagte die Kündigung vom 17. September 1984 mit einem neuen (nicht nachgeschobenen) Sachverhalt: Der Kläger habe unter dem Deckmantel eines "Solidaritätskomitees" am 7. Juli und 9. August 1984 vor den Werkstoren Flugblätter verteilt, in denen die Auseinandersetzung um die Betriebsratswahl und die drei Kündigungen erneut aufgegriffen und dadurch wieder Unruhe in den Betrieb getragen worden sei. Außerdem habe der amtierende Betriebsrat am 6. September 1984 Flugblätter verteilt, in denen die Belegschaftsmitglieder aufgefordert worden seien, zur Wahrung der tariflichen Ausschlußfristen die Lohnansprüche für mittelbar durch Arbeitskampf ausgefallene Arbeitszeit geltend zu machen. Der Kläger habe sich in die Aktion eingemischt, indem er ganze Stöße von Flugblättern den Betriebsratsmitgliedern weggenommen und selbst verteilt habe. Hierdurch sei es wiederum zu Auseinandersetzungen, Unruhe, Diskussionen der Vorfälle und Störung des Betriebsfriedens gekommen.
Der Kläger hat sein Weiterbeschäftigungsbegehren damit begründet, die erste und zweite Kündigung seien unwirksam. Ebenso wie der Arbeitnehmer im Rahmen eines ungekündigten Arbeitsverhältnisses einen Anspruch auf Beschäftigung habe, bestehe der Beschäftigungsanspruch, wenn gerichtlich festgestellt werde, eine vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung sei rechtsunwirksam und das Arbeitsverhältnis bestehe fort. Das gleiche gelte dann, wenn eine Kündigung - wie vorliegend die dritte und vierte Kündigung - offensichtlich unwirksam sei.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu den
bisherigen Bedingungen als Maschinenarbeiter
weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat sie ausgeführt, richtig sei, daß das Bundesarbeitsgericht für die Dauer eines unstreitig bestehenden Arbeitsverhältnisses einen Beschäftigungsanspruch angenommen habe. Allerdings sei nach der Rechtsprechung das Interesse des Arbeitnehmers an der Beschäftigung und das des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung gegeneinander abzuwägen. Werde der Beschäftigungsanspruch auf Arbeitsverhältnisse übertragen, deren Bestehen streitig geworden sei, müsse selbstverständlich ebenfalls eine Interessenabwägung stattfinden, wobei wegen der Risikoverlagerung zu Ungunsten des Arbeitnehmers die Anforderungen an die Darlegungslast des Arbeitgebers für sein Interesse an der Nichtbeschäftigung herabzusetzen seien. Vorliegend ergebe sich aus dem Sachverhalt, der Anlaß für die erste und zweite Kündigung gewesen sei und demjenigen, der der dritten und vierten Kündigung zugrunde liege, aber vom Arbeitsgericht noch nicht habe berücksichtigt werden können, daß ihr, der Beklagten, Interesse an der Nichtbeschäftigung bei weitem überwiege. Abgesehen davon könne dem Weiterbeschäftigungsantrag schon deshalb nicht stattgegeben werden, weil das zuständige Arbeitsgericht noch nicht über die dritte und vierte Kündigung entschieden habe (49 Ca 138/84).
Nachdem das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben hatte, hat das Landesarbeitsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter, während der Kläger beantragt, die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen,
1. daß festgestellt werde, der Kläger sei in der
Vergangenheit weiterzubeschäftigen gewesen,
2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger ab
sofort bis zum rechtskräftigen Abschluß des
Kündigungsschutzverfahrens 49 Ca 138/84
ArbG Berlin weiterzubeschäftigen.
Der Kläger bezieht sich zur Begründung seiner Anträge u.a. auf ein von Professor Dr. Thomas Blanke (Gutachten Blanke) erstattetes Rechtsgutachten.
Während des Revisionsverfahrens kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis am 24. April 1985 zum fünften Male fristlos und nach Ablauf des nachwirkenden Kündigungsschutzes (§ 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG) am 24. April 1985 und 23. Mai 1985 ordentlich. Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 9. Oktober 1985 festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis auch durch die fristlosen Kündigungen vom 17. September 1984, 9. Oktober 1984 und 24. April 1985 sowie die ordentlichen Kündigungen vom 24. April 1985 und 23. Mai 1985 nicht aufgelöst worden ist, sondern fortbesteht.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist teilweise begründet. Sie führt im wesentlichen zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung.
A. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger habe einen Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung. Es hat den Beschluß des Großen Senats vom 27. Februar 1985 (GS 1/84 = EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9) noch nicht berücksichtigen können, sondern ist von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausgegangen, wonach ein solcher Anspruch in aller Regel bis zum Ausspruch der Kündigung und danach bis zum Ende der Kündigungsfrist besteht. Nach dem Senatsurteil vom 26. Mai 1977 (BAG 29, 195 = AP Nr. 5 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht) hatte der Arbeitnehmer nach dem Ablauf der Kündigungsfrist bzw. dem Zugang einer fristlosen Kündigung nur ausnahmsweise bei einer offensichtlich rechtsunwirksamen oder einer offenbar rechtsmißbräuchlichen oder willkürlichen Kündigung einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung. Eine offensichtlich unwirksame Kündigung nahm der Senat dann an, wenn sich bei feststehendem Sachverhalt die Rechtsfolge der Unwirksamkeit oder Nichtigkeit der Kündigung unzweifelhaft und ohne jeden Beurteilungsspielraum des Tatsachenrichters unmittelbar aus dem Gesetz ergab.
Vorliegend sind nach Auffassung des Berufungsgerichts alle vier Kündigungen offensichtlich rechtsunwirksam, die ersten beiden Kündigungen deshalb, weil es die entsprechende Feststellung des Arbeitsgerichts bestätigt und die Revision nicht zugelassen hatte. Die dritte und vierte Kündigung, über die das Arbeitsgericht noch nicht entschieden hatte, sind nach Überzeugung des Berufungsgerichts wegen der Präklusion der wesentlichen Kündigungsgründe in Verbindung mit einer Offensichtlichkeitsprüfung der nicht präkludierten Tatsachen rechtsmißbräuchlich. Mit den Tatsachen, die die Beklagte zur Stützung der ersten beiden Kündigungen nachgeschoben habe, sei sie nach Eintritt der Rechtskraft des sich auf diese beiden Kündigungen beziehenden Rechtsstreits präkludiert. Da die vierte Kündigung mit einem Sachverhalt begründet werde, den die Beklagte im Verfahren gegen die erste und zweite Kündigung nachgeschoben habe und der Prüfung durch die Kammer - auch mit anderen Vorwürfen zusammen - nicht standgehalten habe, sei der Grund für die vierte Kündigung verbraucht und diese offensichtlich unwirksam. Die dritte Kündigung werde zwar auch auf Gründe gestützt, die für die erste und zweite Kündigung nicht nachgeschoben worden seien und über die daher auch nicht mit Präklusionswirkung entschieden worden sei. Eine Offensichtlichkeitsprüfung der Kammer habe aber ergeben, daß diesen zusätzlichen Kündigungsgründen jegliche Relevanz fehle. Das Berufungsgericht verkenne nicht, daß die Überprüfung des Sachverhalts, auf den die dritte Kündigung gestützt werde, eine Wertung erfordere, die grundsätzlich dem Gericht überlassen werden müsse, das über die Kündigung zu entscheiden habe, hier dem Arbeitsgericht in dem Verfahren 49 Ca 138/84. Etwas anderes gelte aber, wenn - wie vorliegend - den weiteren, nicht nachgeschobenen Kündigungsgründen auch unter Wertungsgesichtspunkten vernünftigerweise ein nennenswertes Gewicht nicht zukommen könne und zugleich durch den Ausspruch der Kündigung tatsächliche Anhaltspunkte für ein rechtsmißbräuchliches Verhalten des Arbeitgebers bestehen und hieraus für jeden Kundigen die Nichtigkeit der Kündigung offenbar werde.
B. Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nur zum Teil stand.
I. Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts hat durch Beschluß vom 27. Februar 1985 (GS 1/84 = EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9 = NZA 1985, 702 ff.) entschieden, der gekündigte Arbeitnehmer habe auch außerhalb der Regelungen der §§ 102 Abs. 5 BetrVG, 79 Abs. 2 BPersVG einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist oder bei einer fristlosen Kündigung über deren Zugang hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluß eines Kündigungsprozesses, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers einer solchen Beschäftigung nicht entgegenstehen. Der Große Senat hat angeknüpft an die Rechtsprechung zum Beschäftigungsanspruch für den Zeitraum des unstreitig bestehenden Arbeitsverhältnisses. Danach besteht während des Arbeitsverhältnisses ein Beschäftigungsanspruch, es sei denn, daß dem im Einzelfall überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen, etwa bei Wegfall der Vertrauensgrundlage, fehlender Einsatzmöglichkeit bei Auftragsmangel oder aus Gründen der Wahrung von Betriebsgeheimnissen bei einem zur Konkurrenz abwandernden Arbeitnehmer. Dementsprechend bedarf es zur Feststellung, ob im konkreten Falle ein Beschäftigungsanspruch besteht, einer Interessenabwägung. Der Große Senat hat angenommen, dieser Beschäftigungsanspruch könne nicht durch eine rechtsunwirksame Kündigung beseitigt werden. Allerdings könne die Ungewißheit über die objektive Rechtslage und das entsprechende beiderseitige Risiko des ungewissen Prozeßausganges bei der Prüfung des Weiterbeschäftigungsanspruchs nicht außer Betracht gelassen werden. Die Ungewißheit über den Ausgang des Kündigungsprozesses begründe ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers für die Dauer des Kündigungsprozesses, das in der Regel das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers bis zu dem Zeitpunkt überwiege, in dem im Kündigungsprozeß ein die Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Urteil ergehe. Solange ein solches Urteil bestehe, müßten zusätzliche Umstände hinzukommen, wenn sich im Einzelfall ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung ergeben solle, wie dies auch für die Zeit des unangefochtenen Bestands des Arbeitsverhältnisses der Fall sei. Ausnahmsweise begründe die Ungewißheit über den Fortbestand des gekündigten Arbeitsvertrags vor Erlaß eines die Unwirksamkeit der Kündigung feststellenden Urteils dann kein überwiegendes schutzwertes Interesse des Arbeitgebers, wenn die umstrittene Kündigung offensichtlich unwirksam ist, weil in einem solchen Falle objektiv gar keine Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bestehe. Wie der Große Senat hierbei noch einmal klargestellt hat, ist eine Kündigung nur dann offensichtlich unwirksam, wenn sich aus dem eigenen Vortrag des Arbeitgebers ohne Beweiserhebung und ohne daß ein Beurteilungsspielraum gegeben ist, jedem Kundigen die Unwirksamkeit der Kündigung geradezu aufdrängt.
II. 1. Aus den Grundsätzen des Großen Senats im Beschluß vom 27. Februar 1985 (aaO) folgt, daß die Beklagte verpflichtet gewesen ist, den Kläger in der Zeit vom 25. Juli 1984 bis zum 20. September 1984, dem Zugang der dritten Kündigung vom 17. September 1984, zu den bisherigen Bedingungen weiterzubeschäftigen, denn durch Urteil vom 25. Juli 1984 hat das Arbeitsgericht festgestellt, daß die ersten beiden außerordentlichen Kündigungen vom 25. April 1984 und 30. Mai 1984 rechtsunwirksam sind.
2. Die Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung hat aber entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts zunächst mit Zugang der dritten außerordentlichen Kündigung am 20. September 1984 geendet.
a) Der Senat hatte vorliegend e r s t m a l s zu der Frage Stellung zu nehmen, wie sich weitere Kündigungen auf den Weiterbeschäftigungsanspruch auswirken, die nach der Verurteilung des Arbeitgebers zur Weiterbeschäftigung ausgesprochen werden, wenn der Arbeitgeber mit der Berufung oder der Vollstreckungsgegenklage unter Hinweis auf die weiteren Kündigungen dem Weiterbeschäftigungsanspruch entgegentritt. Im Beschluß vom 28. März 1985 (- 2 AZR 548/83 - NZA 1985, 709 ff.) hat der Senat zu diesem Problem noch nicht grundsätzlich Stellung genommen, weil der dieser Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt hierfür keinen Anlaß bot. Insbesondere hat der Senat in jener Entscheidung nicht zum Ausdruck bringen wollen, der Anspruch auf Weiterbeschäftigung ende i n j e d e m F a l l e, wenn der Arbeitgeber eine neue Kündigung ausspreche. Insoweit haben Schwerdtner (ZIP 1985, 1368) und Schumann (NZA 1985, 688, 690) diese Senatsentscheidung mißverstanden.
b) Für die Würdigung, wie sich weitere nach Verurteilung zur Weiterbeschäftigung ausgesprochene Kündigungen auf den Weiterbeschäftigungsanspruch auswirken, ist Ausgangspunkt der im Beschluß des Großen Senats vom 27. Februar 1985 (aaO) aufgestellte Rechtssatz, die Ungewißheit über die objektive Rechtslage bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Kündigungsprozesses verändere die Interessenlage in der Weise, daß zunächst ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung bis zur Verkündung eines Urteils bestehe, das die Unwirksamkeit der Kündigung feststellt. Ob danach ausgesprochene Kündigungen zur Beendigung des Weiterbeschäftigungsanspruchs führen, hängt nach Auffassung des erkennenden Senats davon ab, ob sie der Grundwertung des Großen Senats entsprechend zu einer Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses führen, die derjenigen entspricht, die vor Verkündung des Urteils bestanden hat, das die Unwirksamkeit der ersten Kündigung festgestellt hat (ähnlich Schäfer, NZA 1985, 691, 694).
c) Dementsprechend beendet eine weitere offensichtlich unwirksame Kündigung den Weiterbeschäftigungsanspruch schon deshalb nicht, weil sie eine Ungewißheit über den Bestand des Arbeitsverhältnisses nicht begründet (ebenso Gutachten Blanke, S. 26, 29). Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die dritte Kündigung vom 17. September 1984 aber nicht offensichtlich unwirksam. Eine offensichtlich unwirksame Kündigung liegt nach den Ausführungen des Großen Senats (aaO, S. 50) im Anschluß an das Senatsurteil vom 26. Mai 1977 (aaO) n u r dann vor, wenn sich schon aus dem eigenen Vortrag des Arbeitgebers ohne Beweiserhebung und ohne daß ein Beurteilungsspielraum gegeben wäre, jedem Kundigen die Unwirksamkeit der Kündigung geradezu aufdrängen muß.
Die Beklagte hat vorliegend die dritte Kündigung auch mit einem neuen Lebenssachverhalt begründet, nämlich mit dem Verteilen der Flugblätter am 7. Juli und 9. August 1984 sowie der Einmischung in die Flugblattaktion des amtierenden Betriebsrats. Das Berufungsgericht hat die offensichtliche Unwirksamkeit dieser dritten Kündigung mit der Begründung angenommen, auch den neuen Kündigungsgründen könne unter Wertungsgesichtspunkten vernünftigerweise ein nennenswertes Gewicht nicht zukommen.
Dem kann nicht gefolgt werden: Wird eine fristlose Kündigung auf einen Lebenssachverhalt gestützt, der sich innerhalb der Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB zugetragen hat, so setzt die Feststellung der Unwirksamkeit dieser Kündigung immer eine Wertung voraus, abgesehen von den Fällen, in denen die Kündigung gerade mit der angegebenen Begründung gegen ein Gesetz verstößt (z.B. Kündigung wegen Gewerkschaftszugehörigkeit, wegen des Geschlechts oder der Ausübung einer bestimmten Religion) oder auf grundsätzlich ungeeignete Gründe (vgl. dazu KR-Hillebrecht, 2. Aufl., § 626 BGB Rz 64, 58 f.) gestützt wird. Das Landesarbeitsgericht hat nicht angenommen, die Begründung der Kündigung mit der Verteilung der Flugblätter, die sich zum wiederholten Male mit der angefochtenen Betriebsratswahl und der Kündigung des Klägers sowie seiner beiden ehemaligen Betriebsratskollegen auseinandersetzten, an die Belegschaftsangehörigen, verstoße gegen ein spezielles gesetzliches Kündigungsverbot. Dies ist auch nicht erkennbar. Noch viel weniger kann davon ausgegangen werden, die Begründung der Kündigung mit dem Vorwurf, der Kläger habe dem amtierenden Betriebsrat Stöße von Flugblättern entrissen und selber verteilt und damit den Betriebsfrieden aufs neue gestört, verstoße gegen ein Gesetz. Dieses Verhalten ist auch nicht, unabhängig von den besonderen Umständen des Streitfalles, von vornherein ungeeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Dementsprechend hat das Berufungsgericht auch nicht ohne eine Wertung (tatrichterliche Einzelfallwürdigung) zu der Annahme kommen können, die Kündigung vom 17. September 1984 sei rechtsunwirksam. Muß aber ein Sachverhalt erst gewertet werden, damit ein bestimmtes Ergebnis gefunden wird, ist auch ein Beurteilungsspielraum vorhanden. Dies hat das Landesarbeitsgericht auch gesehen, indem es ausgeführt hat, seine Überlegungen hätten auch W e r t u n g s f r a g e n zum Gegenstand. Mit seiner Annahme, den Vorwürfen der Beklagten könne auch unter Wertungsgesichtspunkten kein "nennenswertes Gewicht" zukommen, hat es den vorhandenen Beurteilungsspielraum durch eigene Wertung ausgefüllt und schon damit den Begriff der offensichtlichen Unwirksamkeit verkannt. Darüber hinaus fehlt eine ausreichende Begründung dafür, weshalb sich jedem Kundigen die Unwirksamkeit der auf die Vorfälle vom 7. Juli, 9. August und 6. September 1984 gestützten Kündigung aufdrängen soll.
d) Die offensichtliche Unwirksamkeit ist aber nicht der einzige Fall, in dem eine weitere Kündigung den Weiterbeschäftigungsanspruch nicht beendet (Klebe/Schumann, Das Recht auf Beschäftigung im Kündigungsschutzprozeß, S. 375; Schumann, NZA 1985, 690; Schäfer, NZA 1985, 691, 694 und Gutachten Blanke, S. 29).
Wird die weitere Kündigung auf dieselben Gründe gestützt, die nach Auffassung des Arbeitsgerichts schon für die erste Kündigung nicht ausgereicht haben, so begründet die neue Kündigung keinerlei zusätzliche Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses und beendet dementsprechend die Pflicht des Arbeitgebers zur Weiterbeschäftigung nicht (ähnlich Schäfer, aaO, 694). Voraussetzung für eine solche Bewertung ist also, daß das Urteil, das die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt hat, auf der Würdigung beruht, die Kündigungsgründe seien sachlich nicht geeignet, eine außerordentliche bzw. ordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Ist dagegen die erste Kündigung bereits aus formalen Gründen (z.B. fehlende Anhörung des Betriebsrates) für unwirksam erklärt worden, stellt die nach Behebung des formalen Mangels ausgesprochene weitere Kündigung aus denselben Gründen eine Unsicherheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses her, die derjenigen vor Verkündung des Urteils über die erste Kündigung entspricht.
Nicht anders ist es, wenn eine weitere Kündigung auf einen neuen Kündigungssachverhalt gestützt wird, wenn es möglich ist, daß die erneute Kündigung eine andere rechtliche Beurteilung als die frühere erfährt. Dementsprechend reicht es nicht aus, wenn der Arbeitgeber im Berufungsverfahren gegen das zur Weiterbeschäftigung verpflichtende Urteil bzw. in der Vollstreckungsgegenklage vorträgt, er habe eine weitere Kündigung ausgesprochen und auf einen "neuen Sachverhalt" gestützt. Die neuen Kündigungsgründe müssen vielmehr die Möglichkeit einer anderen Entscheidung erkennen lassen.
e) Richtig ist, daß der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, mit dem Ausspruch weiterer Kündigungen seine Weiterbeschäftigungspflicht zu umgehen. Es gibt aber keinen Erfahrungssatz des Inhalts, die nach Feststellung der Unwirksamkeit einer Kündigung weiteren ausgesprochenen Kündigungen dienten der Vereitelung des Beschäftigungsanspruchs. Vielmehr können nach Ausspruch der ersten Kündigung auch weitere Kündigungsgründe entstehen, wie auch der Arbeitgeber nicht selten erst später von vorhandenen Kündigungsgründen Kenntnis erlangt. Von einer Vermutung des Rechtsmißbrauchs (so Schumann, NZA 1985, 690) kann deswegen nicht ausgegangen werden. Der Umgehungsmöglichkeit kann dadurch begegnet werden, daß bei der Würdigung, ob eine weitere Kündigung eine andere Beurteilung erfahren kann, die dagegen sprechenden Gründe um so kritischer geprüft werden, je mehr die Umstände dafür sprechen, daß die neuen Kündigungsgründe nur vorgeschoben sind.
f) Vorliegend hat die Beklagte die dritte Kündigung vom 17. September 1984 zum Teil auf dieselben Gründe gestützt, die sie im Verfahren über die Wirksamkeit der ersten beiden Kündigungen zulässigerweise nachgeschoben hatte und die nach Auffassung von Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht zur Wirksamkeit der ersten beiden Kündigungen nicht ausgereicht haben. Diese Gründe haben daher auch keine neue Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses begründen können mit der Folge, daß die dritte Kündigung, soweit sie auf die nachgeschobenen Gründe gestützt war, auch den Weiterbeschäftigungsanspruch nicht hat entfallen lassen.
Anders ist es jedoch, soweit die dritte Kündigung mit dem neuen Lebenssachverhalt begründet worden ist, der Kläger habe unter dem Deckmantel eines "Solidaritätskomitees" am 7. Juli und 9. August 1984 vor den Werkstoren Flugblätter verteilt, in denen die Auseinandersetzung um die Betriebsratswahl und die drei Kündigungen erneut aufgegriffen und dadurch wieder Unruhe in den Betrieb getragen worden sei. Am 6. September 1984 habe der Kläger zudem eine Flugblattaktion des amtierenden Betriebsrats vor dem Werkstor gestört, indem er ganze Stöße von Flugblättern den Betriebsratsmitgliedern weggenommen und selbst verteilt habe und dadurch wieder Unruhe, Diskussionen und Auseinandersetzungen in den Betrieb getragen habe. Hinsichtlich dieser Vorwürfe hat die Beklagte die Möglichkeit belegt, daß die erneute Kündigung eine andere rechtliche Beurteilung als die beiden ersten erfahren werde. Der Vorwurf, der Kläger habe mit diesen - von ihr behaupteten - Aktivitäten in nicht mehr hinnehmbarer Weise den Betriebsfrieden gestört, erscheint nicht von vornherein unberechtigt, da seit den ersten beiden Kündigungen zwei bis drei Monate verstrichen waren und der Inhalt der am 14. Juli und 9. August 1984 verteilten Flugblätter und die Einmischung in die Flugblattaktion des amtierenden Betriebsrats geeignet waren, die Gemüter erneut zu erhitzen und die Belegschaft zu spalten. Bestand aber die Möglichkeit, aufgrund des neuen Kündigungssachverhalts sei die dritte Kündigung anders zu beurteilen, überwog vom Zugang der dritten Kündigung an bis zur gerichtlichen Entscheidung über diese Kündigung das Interesse der Beklagten an der Nichtbeschäftigung, so daß der Kläger für die Zeit vom 21. September 1984 bis zum 8. Oktober 1985 keinen Anspruch auf Weiterbeschäftigung hatte.
3. Mit der Verkündung des Urteils vom 9. Oktober 1985, durch das alle weiteren Kündigungen der Beklagten für unwirksam erklärt wurden, hat sich die Interessenlage wieder geändert. Seitdem überwiegt wieder grundsätzlich das Interesse des Klägers an der Weiterbeschäftigung. Allerdings darf die Verurteilung zur Weiterbeschäftigung nur nach einer umfassenden Interessenabwägung erfolgen. Nach den Ausführungen des Großen Senats kann ausnahmsweise im Einzelfall auch dann, wenn ein die Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Urteil vorliegt, ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers bestehen, den Arbeitnehmer nicht weiterzubeschäftigen.
Für einen derartigen Vortrag muß der Beklagten Gelegenheit gegeben werden. Zur Nachholung der Interessenabwägung war daher die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen, soweit über den Weiterbeschäftigungsanspruch seit dem 9. Oktober 1985 zu entscheiden war.
Hillebrecht Triebfürst Dr. Weller
Sickert Dr. Kirchner
Fundstellen
Haufe-Index 437590 |
BAGE 50, 319-330 (LT1-3) |
BAGE, 319 |
BB 1986, 1435-1437 (LT1-3) |
DB 1986, 1679-1680 (LT1-3) |
NJW 1986, 2965 |
NJW 1986, 2965-2967 (LT1-3) |
BehindR 1986, 24-24 (T) |
NZA 1986, 55 |
NZA 1986, 566-568 (LT1-3) |
RdA 1986, 269 |
RzK, I 10i Nr 4 (LT1-3) |
SAE 1987, 17-20 (LT1-3) |
ZIP 1986, 936 |
ZIP 1986, 936-939 (LT1-3) |
AP § 611 BGB Beschäftigungspflicht (LT1-3), Nr 17 |
AR-Blattei, Beschäftigungspflicht Entsch 18 (LT1-3) |
AR-Blattei, ES 440 Nr 18 (LT1-3) |
Arbeitgeber 1987, 489-489 (LT1-3) |
ArbuR 1987, 214-216 (LT1-3) |
EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht, Nr 17 (LT1-3) |
MDR 1986, 875-876 (LT1-3) |