Entscheidungsstichwort (Thema)

Zuschuß zum Kurzarbeitergeld

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Verzicht auf eine Kündigung im Sinne der Vereinbarung der Tarifvertragsparteien zur Kurzarbeitsregelung in der Metall- und Elektroindustrie Berlin und Brandenburg ist auch dann gegeben, wenn der Arbeitgeber eine Kündigung ausläßt.

 

Normenkette

TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie; Manteltarifvertrag für die Angestellten der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg, Tarifgebiet II, vom 10. März 1991 Ziff. 4.4

 

Verfahrensgang

LAG Brandenburg (Urteil vom 27.08.1992; Aktenzeichen 3 Sa 176/92)

ArbG Potsdam (Urteil vom 05.03.1992; Aktenzeichen 1 Ca 7/92)

 

Tenor

  • Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Brandenburg vom 27. August 1992 – 3 Sa 176/92 – wird zurückgewiesen.
  • Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger von Oktober bis Dezember 1991 den Differenzbetrag zwischen dem Kurzarbeitergeld und dem vereinbarten Gehalt als Zuschuß zu zahlen.

Der Kläger war bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin seit 1976 als Schweißingenieur beschäftigt. Er bezog zuletzt ein monatliches Gehalt von 2.579,-- DM brutto. Auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien finden die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg, Tarifgebiet II Anwendung, so auch der Manteltarifvertrag für die Angestellten vom 10. März 1991 (MTV-Angestellte).

Am 14. August 1991 teilte die Beklagte dem Kläger mit, er werde ab 1. September 1991 auf Kurzarbeit “0” gesetzt. In der Zeit vom 1. September 1991 bis 7. Oktober 1991 erhielt der Kläger Erholungsurlaub. In dieser Zeit erhielt er von der Beklagten das volle Arbeitsentgelt. Anschließend erhielt er ein monatliches Kurzarbeitergeld von 1.452,-- DM.

Mit Schreiben vom 19. September 1991 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31. Dezember 1991. Nach erfolgloser Geltendmachung hat der Kläger am 3. Januar 1992 Klage eingereicht, mit der er die Zahlung des Differenzbetrages zwischen dem ihm gezahlten Kurzarbeitergeld und dem vereinbarten Gehalt in den Monaten Oktober bis Dezember 1991 in unstreitiger Höhe von 7.737,-- DM brutto, abzüglich 3.530,96 DM erhaltenes Kurzarbeitergeld verlangt.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er habe aufgrund der Regelung in Ziff. 4.4 des MTV vom 10. März 1991 Anspruch auf den geltend gemachten Differenzbetrag. Ein Verzicht auf eine Kündigung, im Sinne der Zusatzvereinbarung vom 31. Mai 1991, die vor dem Auslaufen des § 63 Abs. 5 AFG (DDR) am 31. Dezember 1991 wirksam wurde, habe nicht vorgelegen. Dieser hätte ausdrücklich oder zumindest konkludent erfolgen müssen. Das bloße Unterlassen einer Kündigung zu einem früheren Zeitpunkt reiche hierfür nicht aus.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.737,-- DM brutto, abzüglich 3.530,96 DM erhaltenes Kurzarbeitergeld zuzüglich 4 % Zinsen auf den sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit Klagezustellung zu zahlen,

hilfsweise,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.381,-- DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat geltend gemacht, sie habe vor Auslaufen des § 63 Abs. 5 AFG (DDR) auf eine Kündigung i.S. der Zusatzvereinbarung verzichtet, weil sie erst zum 31. Dezember 1991 gekündigt habe. Einer ausdrücklichen Erklärung des Verzichts bedürfe es nicht.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Der Senat hat die Revision auf eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers durch Beschluß vom 10. März 1993 – 4 AZN 517/92 – zugelassen. Mit der Revision macht der Kläger nur mehr seinen Hilfsantrag weiterhin geltend. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf den geltend gemachten Differenzbetrag, da die Beklagte i.S. der Zusatzvereinbarung vom 31. Mai 1991 auf eine Kündigung vor Auslaufen der Regelung des § 63 Abs. 5 AFG (DDR) verzichtet hat.

I. Die durch Beschluß des Senats vom 10. März 1993 zugelassene und deshalb statthafte Revision des Klägers ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Der Kläger rügt die Verletzung materiellen Rechts durch das Landesarbeitsgericht bei der Auslegung der Zusatzvereinbarung vom 31. Mai 1991. Gegen das erstinstanzliche Urteil hat der Kläger form- und fristgerecht Berufung eingelegt und diese begründet.

II. Die Revision ist jedoch nicht begründet.

1. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg, Tarifgebiet II, kraft Organisationszugehörigkeit Anwendung und damit auch der Manteltarifvertrag für die Angestellten vom 10. März 1991. Dieser hat – soweit es hier interessiert – folgenden Wortlaut:

“Ziff. 4.4

Wird einzelnen Beschäftigten während der Dauer der Kurzarbeit gekündigt, so hat er für die Dauer der Kündigungsfrist gegenüber dem Arbeitgeber Anspruch auf ungekürzte tarifliche oder vertragliche Entlohnung. Dieser Anspruch besteht nicht, wenn das Gehalt für die Dauer der Kündigungsfrist aus einer vorangegangenen Änderungskündigung bereits in voller Höhe vom Arbeitgeber gezahlt worden ist.”

Hierzu haben die Tarifvertragsparteien unter dem 4. Juni 1991 folgende Zusatzvereinbarung getroffen:

“Während der Geltung des § 63 Abs. 5 AFG (DDR) besteht die Verpflichtung des Arbeitgebers aus Ziff. 4.4 MTV-Angestellte nur, wenn Beschäftigte kein Kurzarbeitergeld erhalten.

Diese Regelung gilt nur, wenn zum 30. Juni 1991 ausgesprochene Kündigungen bereits zurückgenommen wurden oder zurückgenommen werden sowie beim Verzicht auf Kündigungen, die vor dem Auslaufen des § 63 Abs. 5 AFG (DDR) wirksam werden.”

§ 63 Abs. 5 AFG (DDR) lief gemäß Art. 2 Ziff. 1 des Gesetzes zur Änderung arbeitsförderungsrechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vorschriften (AFG u.a. ÄndG) vom 21. Juni 1991 am 31. Dezember 1991 (BGBl I S. 1306, 1307) aus, nachdem seine Geltungsdauer zunächst auf den 30. Juni 1991 beschränkt war (Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 22. Juni 1990 (GBL I DDR S. 403, 417) i.V.m. Anlage II Kap. VIII Sachgebiet E Abschn. III Nr. 1 des Einigungsvertrages).

2. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger vorliegend seinen Anspruch auf Ziff. 4.4 MTV stützen kann, jedenfalls wäre ein etwaiger Anspruch durch die Regelungen der Zusatzvereinbarung ausgeschlossen.

a) Der Kläger verlangt den Differenzbetrag zwischen erhaltenem Kurzarbeitergeld und vereinbartem Gehalt für die Zeit Oktober bis Dezember 1991, also für einen Zeitraum während der Geltungsdauer des § 63 Abs. 5 AFG (DDR). Nach Abs. 1 der Zusatzvereinbarung besteht ein Anspruch auf Gehalt nach Ziff. 4.4 MTV aber nur dann, wenn der gekündigte Arbeitnehmer kein Kurzarbeitergeld erhalten hat. Da der Kläger aber, wie er selbst vorträgt, Kurzarbeitergeld erhalten hat, hat er auch keinen Anspruch auf das vereinbarte Gehalt.

b) Dem steht die in Abs. 2 der Zusatzvereinbarung enthaltene “Rückausnahme” nicht entgegen. Danach gilt die Regelung des Abs. 1 u.a. nur “beim Verzicht auf Kündigungen, die vor dem Auslaufen des § 63 Abs. 5 AFG (DDR) wirksam werden.”

Was die Tarifvertragsparteien unter “Verzicht” verstanden wissen wollten, ist aus dem Wortlaut allein nicht erkennbar. Es ist daher durch Auslegung zu gewinnen.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. BAGE 42, 86, 89 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 60, 219, 223 f. = AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation, zu II 1a der Gründe).

bb) Wie bereits die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt haben, war es erkennbarer Sinn der Vorschrift, den Bestand überflüssig gewordener Arbeitsplätze jedenfalls so lange zu erhalten, wie sie Anspruchsgrundlage für die Fortzahlung des Kurzarbeitergeldes nach § 63 Abs. 5 AFG (DDR) waren. Den Arbeitgebern sollte, sofern sie während dieser Zeit keine an sich erforderliche Kündigung wirksam werden ließen, die Last der Verpflichtung zur vollen Gehaltszahlung nach Ziff. 4.4 während der Kündigungsfrist genommen werden, um den Arbeitnehmern dadurch den Anspruch auf Kurzarbeitergeld so lange wie möglich zu erhalten und den Beginn der Arbeitslosigkeit so weit als möglich hinauszuschieben. Dieser Zweck wird aber schon dann erreicht, wenn das Arbeitsverhältnis bis zum 31. Dezember 1991 fortbesteht, gleichgültig ob der Arbeitgeber eine an sich bestehende Kündigungsmöglichkeit zu einem Termin vor dem 31. Dezember 1991 nur verstreichen läßt oder ob er hierauf ausdrücklich hinweist. Unter “Verzicht” im Sinne des 2. Absatzes der Zusatzvereinbarung ist daher nicht nur die ausdrückliche oder konkludente Erklärung, von einer an sich erforderlichen Kündigung abzusehen, zu verstehen, sondern er liegt auch dann vor, wenn eine Kündigungserklärung, die das Arbeitsverhältnis vor dem 31. Dezember 1991 beendet, nicht vorliegt.

Vorliegend hat das Landesarbeitsgericht darüber hinaus zutreffend darauf hingewiesen, daß die Beklagte das Arbeitsverhältnis aufgrund der gegebenen Fristen am 19. September 1991 bereits zum 30. November 1991 hätte kündigen können.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Schaub, Dr. Wißmann, Schneider, Kiefer, Schwarz

 

Fundstellen

Haufe-Index 845955

BB 1994, 364

NZA 1994, 470

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