Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80% oder 100%
Leitsatz (amtlich)
Nach § 8 Ziff. 3 des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer der Baumschulbetriebe Schleswig-Holstein und Hamburg, die eine der Rentenversicherung der Arbeiter unterliegende Tätigkeit ausüben, vom 16. Februar 1995, haben Arbeiter bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100%.
Normenkette
EFZG § 4 Abs. 1 S. 1 n.F.; Rahmentarifvertrag für die Arbeitnehmer der Baumschulbetriebe Schleswig-Holstein und Hamburg, die eine der Rentenversicherung der Arbeiter unterliegende Tätigkeit ausüben, vom 16. Februar 1995 § 8 Ziff. 1 bis; Rahmentarifvertrag für die Arbeitnehmer der Baumschulbetriebe Schleswig-Holstein und Hamburg, die eine der Rentenversicherung der Arbeiter unterliegende Tätigkeit ausüben, vom 16. Februar 1995 § 8 Ziff. 4
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 12. Februar 1998
– 5 Sa 589/97 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger war vom 2. März bis 15. Juni 1997 als Baumschularbeiter bei der Beklagten beschäftigt. Im Mai 1997 war er an 39 Arbeitsstunden arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung nur in Höhe von 80 % der regelmäßigen Vergütung. Der Kläger verlangt Fortzahlung in voller – rechnerisch unstreitiger – Höhe.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Rahmentarifvertrag für die Arbeitnehmer der Baumschulbetriebe Schleswig-Holstein und Hamburg, die eine der Rentenversicherung der Arbeiter unterliegende Tätigkeit ausüben, vom 16. Februar 1995 (RTV) Anwendung. § 8 des Tarifvertrages enthält Regelungen zur „Lohnfortzahlung bei Arbeitsverhinderung”. Die Vorschrift hat auszugsweise folgenden Wortlaut:
„Grundsätzlich wird Lohn außer in gesetzlichen oder tariflich vorgeschriebenen Fällen nur für tatsächlich geleistete Arbeit geleistet. Eine Vergütung ausgefallener Arbeitszeit aus Gründen, die in der Person des Arbeitnehmers liegen, findet nur nach Maßgabe folgender Bedingungen statt:
Der Lohn wird für 2 Tage weitergezahlt:
…
- Das Aufsuchen eines Arztes soll grundsätzlich außerhalb der Arbeitszeit erfolgen. Der Lohn wird bei Inanspruchnahme eines Arztes während der Arbeitszeit nur weitergezahlt, wenn die Inanspruchnahme dringend notwendig ist und daher keinen Aufschub auf einen außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit liegenden Zeitpunkt duldet … Der Lohn wird nur für die Dauer der unumgänglich notwendigen Abwesenheit gezahlt.
Im Krankheitsfalle ist der Lohn nach Maßgabe des Lohnfortzahlungsgesetzes zu gewähren.
Für die zu ihrer Berufsausbildung beschäftigten Arbeitnehmer erfolgt die Fortzahlung der Bezüge ggf. nach Maßgabe des Berufsbildungsgesetzes.
An gesetzlichen Feiertagen, die auf einen Werktag fallen, ist der Lohn nach Maßgabe der jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
…”
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, § 8 Nr. 3 RTV stelle eine konstitutive tarifliche Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle dar. Die Vorschrift sei eine statische Verweisung auf das im Zeitpunkt des Tarifabschlusses bereits außer Kraft getretene Lohnfortzahlungsgesetz.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 152,49 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, auch wenn das Lohnfortzahlungsgesetz bei Tarifabschluß nicht mehr gegolten habe, komme der Verweisung in § 8 Nr. 3 RTV keine konstitutive Bedeutung zu. Der Text der Vorschrift sei aus mehreren vorangegangen und gleichlautenden Tarifverträgen übernommen worden. Unter deren Geltung habe es sich stets nur um eine dynamische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz gehandelt.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Die Höhe der dem Kläger zustehenden Entgeltfortzahlung bestimmt sich nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG in seiner seit dem 1. Oktober 1996 geltenden Fassung (BGBl. I S. 1476). Aus § 8 Nr. 3 RTV folgt nichts anderes. Die Bestimmung stellt keine eigenständige Regelung durch eine statische Verweisung auf das außer Kraft getretene Lohnfortzahlungsgesetz dar. Den dem Kläger gesetzlich zustehenden Anspruch auf Engeltfortzahlung hat die Beklagte unstreitig erfüllt. Die Klageforderung besteht nicht.
I. Vor dem Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. Juni 1994 gab es für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Für Arbeiter galt das „Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz)” vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Angestellte hatten nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO Anspruch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1476) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG „80 vom Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts”.
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch das Gesetz vom 25. September 1996 nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (vgl. BT-Drucks. 13/4612, S. 2; Buchner, NzA 1996, 1177, 1179/80).
II. Nach § 8 Nr. 3 RTV vom 16. Februar 1995 ist „im Krankheitsfalle … der Lohn nach Maßgabe des Lohnfortzahlungsgesetzes zu gewähren”. Die Bestimmung stellt auch angesichts des Umstandes, daß das Lohnfortzahlungsgesetz bei Tarifabschluß schon nicht mehr galt, keine statische Verweisung auf die Regelungen dieses Gesetzes und darum keine inhaltlich eigenständige tarifliche Vorschrift der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar. Dies ergibt ihre Auslegung.
1. Die Regelung richtet sich nicht an die Tarifvertragsparteien selbst, sondern an die Tarifunterworfenen. Ihre Auslegung betrifft deshalb den normativen Bereich des Tarifvertrages. Dessen Auslegung wiederum richtet sich nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung (zu diesen im einzelnen BAG Urteile vom 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 –, – 5 AZR 638/97 – und vom 1. Juli 1998 – 5 AZR 545/97 – sämtlich zur Veröffentlichung vorgesehen).
2. Im Rahmen ihrer Rechtsprechung zur tariflichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen haben der Zweite und der Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts für tarifliche Verweisungen auf gesetzliche Vorschriften die Auslegungsregel entwickelt, im Zweifel seien diese Verweisungen – ebenso wie die wort- oder inhaltsgleiche Übernahme des Gesetzestextes – deklaratorisch. Wenn nicht gegenteilige Anhaltspunkte vorlägen, sei davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien lediglich darum gegangen sei, eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden und die Tarifgebundenen im Interesse von Klarheit und Übersichtlichkeit möglichst umfassend zu unterrichten (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG Beschluß vom 28. Januar 1988 – 2 AZR 296/87 – AP Nr. 24 zu § 622 BGB; BAG Urteil vom 4. März 1993 – 2 AZR 355/92 – AP Nr. 40 zu § 622 BGB). Die Literatur hat sich dem Bundesarbeitsgericht für die Auslegung von Verweisungen – nicht so für die Auslegung von wörtlichen oder inhaltsgleichen Übernahmen des Gesetzestextes – im Ergebnis weitgehend angeschlossen (Buchner, NZA 1996, 1177, 1182; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 27; Rieble, RdA 1997, 134, 140; Giesen, RdA 1997, 193, 201, Fußnote 93; K. Gamillscheg, Anm. zu BAG Urteil vom 5. Oktober 1995, SAE 1996, 274, 278; Bengelsdorf, Anm. zu BAG AP Nr. 48 zu § 622 BGB; Wiedemann, Anm. zu BAG AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung).
Auch der erkennende Senat ist der Rechtsprechung des Zweiten und Siebten Senats hinsichtlich der Auslegung tariflicher Verweisungen gefolgt (Urteil vom 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Mit einer Verweisung auf geltende – ohnehin anwendbare – gesetzliche Vorschriften bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß nur das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Dabei macht es keinen Unterschied, ob allgemein auf „die gesetzlichen Bestimmungen” oder auf bestimmte Gesetze, z. B. das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. die für Angestellte geltenden gesetzlichen Vorschriften verwiesen wird, oder ob es heißt, der Arbeitnehmer habe Anspruch auf Fortzahlung „des Gehalts” oder „seiner Bezüge” nach Maßgabe bestimmter gesetzlicher Vorschriften. Ob sich die Verweisung als bloßer Hinweis oder als Tarifnorm im Sinne einer dynamischen Verweisung darstellt, kann dabei im Einzelfall unterschiedlich zu beurteilen sein. Individualrechtlich sind die Rechtsfolgen die gleichen.
3. Nach Maßgabe dieser Grundsätze stellt § 8 Nr. 3 RTV keine statische Verweisung dar.
a) Verweist ein Tarifvertrag auf eine schon bei Tarifabschluß nicht mehr gültige gesetzliche Vorschrift, so spricht dies allerdings zunächst dafür, daß die Tarifvertragsparteien bewußt vom geltenden Gesetzesrecht abgewichen sind und auf diese Weise eine eigenständige (konstitutive) tarifliche Regelung getroffen haben. Entgegen der Auffassung des Klägers bleiben daran bei einer Formulierung wie in § 8 Nr. 3 RTV jedoch erhebliche Zweifel. Die tarifliche Verpflichtung, im Krankheitsfalle den Lohn „nach Maßgabe des Lohnfortzahlungsgesetzes” zu gewähren, wirft mangels jeglicher weiteren Erklärung die Frage auf, ob dies auch dann gelten soll, wenn das Lohnfortzahlungsgesetz selbst gar nicht mehr gilt. Es hätte nahegelegen, daß die Tarifvertragsparteien eine solche Regelungsabsicht im Text der Bestimmung klargestellt und beispielsweise durch die Formulierung „nach Maßgabe des früheren Lohnfortzahlungsgesetzes” deutlich ausgedrückt hätten. So dagegen ist der Wortsinn des § 8 Nr. 3 RTV gerade nicht eindeutig.
b) Der Senat hat bereits entschieden, daß in einem solchen Fall der Tarifgeschichte besondere Bedeutung zukommt. Ist die auszulegende Tarifbestimmung mit ihrer Verweisung auf mittlerweile außer Kraft getretenes Gesetzesrecht unverändert aus vorangegangenen Tarifverträgen übernommen worden und war sie seinerzeit lediglich als dynamische Verweisung oder gar nur als bloßer Hinweis auf das geltende Gesetzesrecht zu verstehen, so ist sie auch nach Außerkrafttreten des betreffenden Gesetzes nunmehr nicht als statische Verweisung auszulegen (BAG Urteil vom 21. Oktober 1998 – 5 AZR 144/98 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse bestimmt).
So verhält es sich hier. § 8 Nr. 3 RTV ist wortgleich mit § 8 Nr. 4 RTV 1986, § 8 Nr. 4 RTV 1988 und § 8 Nr. 4 RTV 1991. Da seinerzeit die Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz nicht als statische, sondern allenfalls als dynamische Verweisung zu verstehen war, kommt dem wortgleichen § 8 Nr. 3 RTV 1995 keine andere Bedeutung zu.
aa) Wortlaut und Wortsinn von § 8 Nr. 4 RTV 1991 zeigen, daß die Tarifvertragsparteien seinerzeit auf das Lohnfortzahlungsgesetz in seiner jeweils geltenden Fassung verwiesen haben. Zugunsten des Klägers mag unterstellt werden, daß es sich insoweit um eine dynamische Verweisung und damit überhaupt um eine Tarifnorm und nicht um einen bloßen Hinweis auf das Gesetz gehandelt hat. Auch dann ist die „Maßgabe” des Lohnfortzahlungsgesetzes, solange es dieses Gesetz gibt, stets diejenige, die sich aus seinen jeweils aktuell geltenden Vorschriften ergibt. Daß von der Verweisung eine mögliche zukünftige Änderung des Gesetzes ausgenommen sein sollte, läßt sich dem Wortlaut und dem Wortsinn der Vorschrift nicht entnehmen. Des ausdrücklichen sprachlichen Zusatzes, es solle das „jeweilige” Lohnfortzahlungsgesetz maßgeblich sein, bedarf es dafür nicht. Vor dem Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes am 1. Juni 1994 vermochte ein Tarifanwender den Text des § 8 Nr. 4 RTV 1991 nicht anders zu verstehen, als daß Entgeltfortzahlung nach Maßgabe des Lohnfortzahlungsgesetzes in jeweils der Fassung gewährt werden sollte, wie sie in eben dem Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit galt. Für ein anderes Verständnis gibt es keine sprachliche Begründung.
bb) Etwas anderes folgt auch nicht aus sonstigen Umständen. Zwar kann sich der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung auch bei Verweisungsvorschriften nicht nur aus dem Wortlaut, sondern auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergeben. Dazu bedarf es jedoch besonders deutlicher Anhaltspunkte (BAG Urteil vom 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Daran fehlt es. In Betracht kommt allenfalls die Regelung in § 8 Nr. 5 RTV 1991 (gleichlautend mit § 8 Nr. 4 RTV 1995). Danach ist an gesetzlichen Feiertagen, die auf einen Werktag fallen, der Lohn nach Maßgabe „der jeweils geltenden” gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. Aus dem Umstand, daß die Tarifvertragsparteien hier ausdrücklich die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften in Bezug genommen haben, könnte abzuleiten sein, sie hätten dies mit Blick auf die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gerade nicht gewollt. Ein solcher Schluß ist aber keineswegs zwingend.
Auch der Zusammenhang mit § 8 Nr. 3 RTV 1991 (§ 8 Nr. 2 RTV 1995) führt zu keiner anderen Auslegung. Nach dieser Tarifbestimmung wird der Lohn bei Inanspruchnahme eines Arztes während der Arbeitszeit weitergezahlt, wenn diese dringend notwendig ist und keinen Aufschub duldet. Mit dem Kläger ist davon auszugehen, daß in diesem Fall von Arbeitsverhinderung Entgeltfortzahlung zu 100 % geschuldet wird. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Tarifvertragsparteien in Nr. 4 der Regelung nur eine statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz in seiner bei Tarifabschluß geltenden Fassung gewollt haben können. Es zeigt nur, daß sie seinerzeit von einer Entgeltfortzahlung in voller Höhe ausgegangen sind. Es entsteht kein nicht hinzunehmender Wertungswiderspruch, wenn für die Zeit von unaufschiebbaren Arztbesuchen innerhalb der Arbeitszeit das Arbeitsentgelt in voller Höhe weiterzuzahlen ist, für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit dagegen nicht. Auch der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgelfortzahlung nur für den Krankheitsfall herabgesetzt. Der ursprüngliche § 616 Abs. 1 BGB ist unverändert geblieben. Bei vorübergehender Dienstverhinderung, die nicht auf Arbeitsunfähigkeit beruht, ist das Entgelt in voller Höhe weiterzuzahlen, soweit nicht abweichende Vereinbarungen getroffen worden sind. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, eine einheitliche Regelung für alle Fälle von Arbeitsversäumnis zu schaffen.
Eine andere Auslegung von § 8 Nr. 4 RTV 1991 ist schließlich auch nicht deshalb geboten, weil die Regelungen in § 8 Nr. 1 bis 3 RTV 1991 (§ 8 Nr. 1, 2 RTV 1995) insoweit als eigenständig (konstitutiv) anzusehen ist, wie sie einen über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehenden Anspruch gewähren. Der konstitutive Charakter eines Teils eines einheitlichen Regelungsbereichs läßt keinen Schluß auf den entsprechenden Charakter der übrigen Teile der Regelung zu. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, von ihrer Befugnis zur eigenständigen Normsetzung nur für einen Teilbereich Gebrauch zu machen und im übrigen ohne Absicht zur normativ selbständigen Regelung auf die gesetzlichen Bestimmungen zu verweisen (BAG Urteil vom 14. Februar 1996 – 2 AZR 166/95 – AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG Urteil vom 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 –). Die Existenz der tariflichen Regelungen in § 8 Nr. 1 bis 3 RTV 1991 über die Fortzahlung der vollen Vergütung bei einer nicht auf Arbeitsunfähigkeit beruhenden Arbeitsverhinderung ist deshalb kein hinreichend starkes Indiz dafür, daß die Tarifvertragsparteien auch die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im Sinne einer statischen Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz eigenständig hätten regeln wollen.
cc) Haben § 8 Nr. 4 RTV 1991 und seine Vorgänger auf das in Bezug genommene Lohnfortzahlungsgesetz in seiner jeweils geltenden Fassung verwiesen, so ist aus dieser dynamischen Verweisung mit dem Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes zum 1. Juni 1994 keine normativ selbständige Regelung geworden. Eine ursprünglich nur dynamische Verweisung auf das bei Tarifabschluß geltende Gesetzesrecht kann nicht allein mit dessen Wegfall nachträglich zu einer statischen Verweisung und konstitutiven Regelung werden. Auch insoweit bedürfte es klarer Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien nach Änderung der Gesetzeslage einen entsprechenden Regelungswillen gehabt hätten (BAG Urteil vom 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 –). In der bloßen Nichtänderung und Beibehaltung des bisherigen Wortlauts kann ein solches Anzeichen nicht gesehen werden.
c) Damit fehlt zugleich jeder Anhaltspunkt dafür, daß die Tarifvertragsparteien mit der gleich gebliebenen Formulierung in § 8 Nr. 3 RTV 1995 eine andere Bedeutung verbunden hätten als zu der Zeit, zu welcher das Lohnfortzahlungsgesetz noch galt. Es gibt kein Anzeichen dafür, daß sie im Februar 1995 den Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall anders regeln wollten als bislang. Zwar wird ihnen nicht verborgen geblieben sein, daß das Lohnfortzahlungsgesetz mittlerweile durch die Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes ersetzt worden war. Aber gerade unter dieser Voraussetzung hätten sie deutlich zum Ausdruck bringen müssen, daß sie nunmehr der gleich gebliebenen Formulierung in § 8 Nr. 3 RTV 1995 eine andere Bedeutung beimessen wollten als ihr bislang zukam. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die Tarifvertragsparteien zu Beginn des Jahres 1995 keinen Anlaß hatten, gegenüber den seit dem 1. Juni 1994 geltenden Regelungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes auf einer tariflichen Weiteranwendung der Vorschriften des Lohnfortzahlungsgesetzes zu bestehen. Bezüglich der Höhe der Lohnfortzahlung bestand seinerzeit zwischen den beiden Gesetzen noch kein Unterschied. Alle maßgeblichen Umstände sprechen daher dafür, daß die Tarifvertragsparteien mit der unveränderten Übernahme der Bestimmung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall keine eigenständige Regelungsabsicht verbanden.
d) Haben die Tarifvertragsparteien in § 8 Nr. 3 RTV 1995 weiterhin nur auf die jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen zur Fortzahlung der Vergütung im Krankheitsfall Bezug nehmen wollen, so liegt darin nach dem Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes der Sache nach eine Verweisung und ein Bezug auf die Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes in seiner jeweils geltenden Fassung. Mangels eigenständiger tariflicher Regelung hatte die Beklagte damit dem Kläger während seiner Arbeitsunfähigkeit im Mai 1997 Lohn nach Maßgabe dieses Gesetzes in seiner Fassung vom 25. September 1996 zu gewähren. Dies hat sie getan. Die Klageforderung besteht nicht.
Unterschriften
Reinecke, Mikosch, Kreft, Reinders, Sappa
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 25.11.1998 durch Clobes, Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 436153 |
BB 1999, 376 |
DB 1999, 747 |
RdA 1999, 295 |
SAE 1999, 294 |
AP, 0 |