Leitsatz (redaktionell)
Nach § 6 des Rahmentarifvertrags für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Betonsteingewerbe) Nordwestdeutschland vom 14. September 1993 hat der Arbeiter bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts in Höhe von 100 %.
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Die Kläger sind bei der Beklagten als gewerbliche Arbeitnehmer beschäftigt. Auf die Arbeitsverhältnisse findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Betonsteingewerbe) Nordwestdeutschland vom 14. Sep-tember 1993 (RTV) Anwendung. Die hier interessierenden Bestimmungen lauten wie folgt:
"§ 6 Arbeitsausfall
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I. |
Lohn wird nur für die Zeit gezahlt, während der Arbeit geleistet wird, soweit nicht nachstehend etwas anderes bestimmt ist. ... |
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II. |
Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf Arbeitsbefreiung und Weiterzahlung des Lohnes: ... |
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3. |
Für 1 Arbeitstag:a) bei Entbindung der Ehefrau, ...f) bei schweren Erkrankungen der zur Hausgemeinschaft gehörenden Familienmitglieder, sofern der Arzt bescheinigt, daß die Anwesenheit des Arbeitnehmers zur vorläufigen Pflege erforderlich ist. ... |
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III. |
Arbeitsausfall infolge KrankheitEs gelten die Bestimmungen des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfall." |
Die Kläger waren im November 1996 arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete jeweils Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % des regelmäßigen Arbeitsentgelts der Kläger unter Berufung auf die ab 1. Oktober 1996 geltende neue Fassung des § 4 EFZG. Die Kläger beanspruchen den Differenzbetrag zu 100 % in rechnerisch unstreitiger Höhe. Sie haben die Auffassung vertreten, § 6 Abs. 3 RTV verweise auf das Lohnfortzahlungsgesetz in der zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses geltenden Fassung. Diese habe eine 100 %ige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vorgesehen. Aus der tariflichen Bestimmung sei nicht erkennbar, daß die jeweils geltende gesetzliche Regelung zur Anwendung kommen solle.
Der Kläger zu 1) hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 124,11 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Kläger zu 2) hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 767,87 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Kläger zu 3) hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 218,04 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 18. Dezember 1996 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, § 6 Abs. 3 RTV verweise auf die jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle.
Das Arbeitsgericht hat die Klagen abgewiesen. Die Berufungen der Kläger blieben erfolglos. Mit ihren Revisionen verfolgen die Kläger ihre Klageanträge weiter.
Der Senat hat die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen der Kläger sind nicht begründet. Die Vorinstanzen haben die Klagen zu Recht abgewiesen. Die Kläger haben für die Zeit ihrer Erkrankungen keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlungen in Höhe von 100 % ihres Arbeitsentgelts. § 6 Abs. III RTV enthält keine eigenständige (konstitutive) Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung. I. Bis zum 31. Mai 1994 galt für Arbeiter das "Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz)" vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Angestellte hatten Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994, in Kraft getreten am 1. Juni 1994 (Art. 68 Abs. 4 PflegeVG vom 26. Mai 1994 - BGBl. I S. 1014, 1070), wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. 1996 I S. 1476, 1477) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG n. F. nur noch "80 von Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts".
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612, S. 2; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179).
II. Die Auslegung des Tarifvertrags ergibt, daß die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht geregelt haben.
1. In diesem Zusammenhang finden die Grundsätze für die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung (vgl. hierzu und zum folgenden BAG Urteile vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - und - 5 AZR 638/97 - beide zur Veröffentlichung vorgesehen).
2. In seiner Rechtsprechung zur tariflichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts folgenden Auslegungsgrundsatz entwickelt: "Werden einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert in einen umfangreichen Tarifvertrag aufgenommen, so handelt es sich um deklaratorische Klauseln, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im Tarifvertrag keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat" (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 74, 167; 81, 76 = AP Nr. 42, 48 zu § 622 BGB; Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 201/95 - AP Nr. 50 zu § 622 BGB; Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; Urteil vom 29. Januar 1997 - 2 AZR 370/96 - NZA 1997, 726; zuletzt Urteil vom 6. November 1997 - 2 AZR 707/96 - juris). Hinsichtlich tariflicher Verweisungen auf gesetzliche Vorschriften gilt nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts dieselbe Auslegungsregel wie bei der wörtlichen oder inhaltlich unveränderten Aufnahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften in ein Tarifwerk. Danach sind auch Verweisungen im Zweifel deklaratorisch, wenn nicht der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Norm im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Beschluß vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - und Urteil vom 4. März 1993 - 2 AZR 355/92 - AP Nr. 24, 40 zu § 622 BGB; vgl. auch BAG Urteil vom 12. November 1964 - 5 AZR 507/63 - AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961).
3. Dem Zweiten Senat ist zumindest hinsichtlich tariflicher Verweisungen auf geltende ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften zu folgen. Diese sind im Zweifel deklaratorisch. Dabei macht es keinen Unterschied, ob allgemein auf gesetzliche Bestimmungen oder auf bestimmte Gesetze, z. B. das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. die für Angestellte geltenden gesetzlichen Vorschriften verwiesen wird, oder ob es heißt, der Arbeitnehmer habe Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts oder "seiner Bezüge" nach oder nach Maßgabe bestimmter gesetzlicher Vorschriften. Mit einer Verweisung auf ein ohnehin anwendbares Gesetz bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Bei der Aufnahme einer Verweisung in den Tarifvertrag haben die Tarifvertragsparteien zwar meist genaue Vorstellungen vom Inhalt der gesetzlichen Regel. Eine solche Vorstellung ist aber bei Verweisungen mit dem Willen zur Schaffung einer eigenständigen Regelung nicht gleichzusetzen.
Aus einer deklaratorischen Verweisung wird nicht dadurch eine eigenständige Regelung, daß die gesetzlichen Bestimmungen, auf die verwiesen wird, außer Kraft treten und die Tarifvertragsparteien die Verweisungsvorschrift unverändert lassen.
4. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts verlangt, daß der Wille zur Schaffung einer von der gesetzlichen Norm unabhängigen eigenständigen Regelung im Tarifvertrag "einen hinreichend erkennbaren Ausdruck" gefunden hat. Das sei z. B. bei Formulierungen wie, die Tarifbestimmung gelte "unabhängig von der gesetzlichen Regelung" oder "auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung", der Fall. Diese Formulierungen betreffen allein die wort- oder inhaltsgleiche Übernahme der gesetzlichen Bestimmungen in den Tariftext. Bei Verweisungen könnte die Formulierung etwa lauten, "es gilt das Gesetz in seiner am ... geltenden Fassung" . Der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung kann sich aber nicht nur aus derartigen Formulierungen, sondern auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergeben. Das ist auch bei Verweisungen nicht von vornherein ausgeschlossen.
5. § 6 Abs. III RTV enthält keine eigenständige Regelung über die Höhe der zu leistenden Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die Vorschrift stellt vielmehr eine deklaratorische Verweisung auf die jeweilige gesetzliche Regelung über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar.
Bereits der Wortlaut des § 6 Abs. III RTV deutet auf einen fehlenden Regelungswillen der Tarifvertragsparteien hin. Er verweist auf das zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses geltende Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz) vom 27. Juli 1969 (BGBl. I S. 946, zuletzt geändert durch Verordnung vom 26. Februar 1993, BGBl. I S. 278). Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, daß das Lohnfortzahlungsgesetz außer Kraft trat und durch das Entgeltfortzahlungsgesetz ersetzt wurde. Aus der deklaratorischen Verweisung des § 6 Abs. III RTV ist mit dem Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes keine eigenständige, konstitutive Regelung geworden.
6. Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien im vorliegenden Fall mit der Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz ausschließlich das Gesetz in der zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses geltenden Fassung in den Tarifvertrag aufnehmen wollten, sind nicht ersichtlich. Aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang läßt sich eine Inbezugnahme des Lohnfortzahlungsgesetzes in einer bestimmten Fassung nicht herleiten.
Die Tatsache, daß § 6 RTV neben dem hier auszulegenden Abs. III in den Abs. I und auch II eigenständige zusätzliche Regelungen über die Lohnzahlung ohne Arbeitsleistung enthält, führt nicht dazu, daß auch Abs. III als konstitutiv anzusehen ist. Der konstitutive Charakter eines Teils eines zusammenhängenden Regelungsbereichs läßt keinen Schluß auf den Charakter des übrigen Teils der auszulegenden Bestimmung zu. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, von ihrer Regelungsbefugnis nur in Teilbereichen Gebrauch zu machen und im übrigen auf die gesetzlichen Bestimmungen zu verweisen (vgl. BAG Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie, zu II 4 b der Gründe).
Die Kläger meinen, es könne nicht dem Willen der Tarifvertragsparteien entsprochen haben, dem Arbeitnehmer bei eigener Krankheit einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 %, bei schwerer Erkrankung von Familienmitgliedern dagegen einen Anspruch in Höhe von 100 % zu geben. Auch wenn dies zuträfe, würde daraus nicht folgen, daß die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall eigenständig geregelt haben. Allenfalls ergäbe sich daraus, daß die Tarifvertragsparteien auf der Basis der damaligen gesetzlichen Regelung der Entgeltfortzahlung verhandelt haben. Der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgeltfortzahlung nur für den Krankheitsfall herabgesetzt. § 616 BGB, früher § 616 Abs. 1 BGB, ist unverändert geblieben, so daß bei vorübergehender Dienstverhinderung das Entgelt in voller Höhe weiter zu zahlen ist, soweit nicht abweichende Vereinbarungen getroffen wurden (vgl. § 619 BGB). Das ist hinzunehmen. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, eine einheitliche Regelung für diese Fälle zu schaffen.
Fundstellen
Haufe-Index 439807 |
BB 1999, 112 |
DB 1999, 234 |
NZA 1999, 44 |
RdA 1999, 230 |
SAE 1999, 206 |
AP, 0 |