Entscheidungsstichwort (Thema)
Annahmeverzug bei unrichtiger Kündigungsfrist. Vertragsauslegung
Normenkette
BGB §§ 133, 157, 296, 615, 622 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 17. Juli 1997 – 5 Sa 642/97 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger war seit 3. Juni 1996 bei der Beklagten als Textilarbeiter beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag vom 6. Juni 1996 lautet auszugsweise wie folgt:
“…
2. Die Einstellung erfolgt für 6 Monate. Es gelten die tariflichen und gesetzlichen Kündigungsfristen. Das Arbeitsverhältnis endet, ohne daß es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des 30. November 1996. Die ersten vier Wochen gelten als Probezeit mit 3-tägiger Kündigungsfrist.
3. Zur Leistung von Mehrarbeit ist der Mitarbeiter im Rahmen der gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen verpflichtet.
4. Der Mitarbeiter erhält als gewerblicher Arbeitnehmer beim Einsatz im Zeitlohn einen Stundenlohn von DM 18,00 brutto.
Entsprechend der vorgesehenen Tätigkeit des Mitarbeiters bestimmt sich der Tariflohn nach der Lohngruppe 6 des derzeitigen Lohntarifvertrages für die Nordrheinische Textilindustrie.
Mit der Zuweisung einer anderen Tätigkeit gelten die Lohnregelungen (Entlohnungsgrundsatz, Lohnhöhe, Lohngruppe) der gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen und/oder der anzuwendenden Betriebsvereinbarungen.
5. Irrtümlich gezahlte Geldbeträge hat der Mitarbeiter im Rahmen der gesetzlichen und tariflichen Ausschlußfristen zu erstatten.”
Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß es sich bei den im Arbeitsvertrag genannten Tarifbestimmungen unter anderem um den Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Nordrheinischen Textilindustrie vom 10. Mai 1978 (im folgenden: MTV) handelt. Dort ist in § 2 Nr. 6 u.a. folgendes geregelt:
“Die beiderseitige Kündigungsfrist beträgt, sofern ein Gesetz oder dieser Tarifvertrag nichts anderes bestimmt, zwei Wochen zum Schluß der Kalenderwoche …”
Die Beklagte kündigte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 16. August 1996 zum 30. August 1996.
Mit seiner am 30. September 1996 beim Arbeitsgericht Wuppertal anhängig gemachten Klage hat der Kläger Lohnzahlung über den 30. August 1996 hinaus bis zum Ablauf der gesetzlichen Kündigungsfrist am 15. September 1996 geltend gemacht.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Beklagte sei für den genannten Zeitraum auch ohne tatsächliches oder wörtliches Angebot der Arbeitsleistung im Annahmeverzug gewesen.
Er hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.404,– DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag ab Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, es sei die tarifliche Kündigungsfrist anzuwenden, die sie eingehalten habe. Im übrigen fehle es an einem Annahmeverzug begründenden Angebot der Arbeitsleistung durch den Kläger.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen oben genannten Antrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Ergebnis unbegründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Arbeitsvertrag der Parteien sei zwar nach der “Unklarheitenregelung” dahin auszulegen, daß das Arbeitsverhältnis nur mit der gesetzlichen Kündigungsfrist habe gekündigt werden können. Obgleich somit das Arbeitsverhältnis bis zum 15. September 1996 fortbestanden habe, habe sich die Beklagte jedoch nicht im Annahmeverzug befunden, weil der Kläger nicht gegen die von der Beklagten gesetzte Kündigungsfrist protestiert habe.
II. Dem folgt der Senat nur im Ergebnis (§ 563 ZPO).
1. Im Gegensatz zur Ansicht des Landesarbeitsgerichts hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 9. April 1987 – 2 AZR 280/86 – (AP Nr. 1 zu § 9 AÜG, zu B I 2 der Gründe) erkannt, der Arbeitgeber gerate über § 296 BGB bei Unterlassung der Zuweisung von Arbeit auch dann in Annahmeverzug, wenn seine Kündigung zwar grundsätzlich wirksam sei, er aber eine zu kurze Kündigungsfrist gewählt habe. Demgegenüber hält Stahlhacke (Schriftenreihe des Deutschen Anwaltsinstituts e.V. Thesen und Ergebnisse der dritten arbeitsrechtlichen Jahrestagung vom November 1991 in Bad Homburg, S. 25 f.) für diesen Fall ein Angebot der Arbeitsleistung durch den Arbeitnehmer für notwendig, um den Arbeitgeber in Annahmeverzug zu setzen und Ansprüche des Arbeitnehmers aus § 615 BGB zu begründen. Vorliegend braucht sich der Senat mit dieser Kritik seiner Rechtsprechung aber schon deshalb nicht auseinanderzusetzen, weil die Beklagte entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts die einschlägige Kündigungsfrist des § 2 Nr. 6 MTV eingehalten hat.
2. Insoweit rügt die Beklagte zu Recht die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung des Arbeitsvertrages hinsichtlich der anwendbaren Kündigungsfrist.
a) Es kann dahinstehen, ob es sich bei der arbeitsvertraglichen Regelung der Kündigungsfristen um eine für eine Vielzahl von Fällen bestimmte typische Vertragsklausel handelt, die der Senat unbeschränkt selbst auslegen könnte (vgl. zuletzt BAG Urteil vom 22. Januar 1998 – 2 AZR 367/97 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu II 1 der Gründe; Urteil vom 20. November 1997 – 2 AZR 803/96 – n.v., zu III 1a der Gründe). Auch wenn es sich vorliegend wohl um eine atypische Vertragsregelung handelte, ist die Auslegung des Landesarbeitsgerichts jedenfalls darauf zu überprüfen, ob das Landesarbeitsgericht die einschlägigen Rechtsvorschriften über die Auslegung (§§ 133, 157 BGB) nicht richtig angewandt hat, ob es dabei gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen und ob es wesentlichen Auslegungsstoff außer acht gelassen hat (ständige Rechtsprechung, vgl. zuletzt BAG Urteil vom 11. März 1998 – 2 AZR 287/97 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu II 2 der Gründe; BAG Urteil vom 31. Januar 1996 – 2 AZR 68/95 – AP Nr. 17 zu § 1 KSchG 1969 Personenbedingte Kündigung, zu II 1b aa der Gründe; Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 2. Aufl., § 73 Rz 16, m.w.N.).
b) Das angefochtene Urteil ist zwar zunächst von den in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entwickelten Auslegungsgrundsätzen ausgegangen und hat zutreffend ausgeführt, im Wortlaut von Ziff. 2 des Arbeitsvertrages werde nicht zum Ausdruck gebracht, daß den Tarifbestimmungen vor den ebenfalls in Bezug genommenen gesetzlichen Vorschriften Vorrang eingeräumt werden solle. Auch ist die Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht zu beanstanden, weder der vertragliche Kontext noch die beiderseitige Interessenlage oder Umstände bei Vertragsabschluß gäben insoweit einen eindeutigen Aufschluß. Das Landesarbeitsgericht hat jedoch, wie die Beklagte mit Recht rügt, außer acht gelassen, daß bei einer gleichwertigen Verweisung auf unterschiedliche Rechtsnormen im Zweifel die sachnähere Norm zur Anwendung kommen soll (so auch BGH Urteil vom 26. Januar 1998 – II ZR 243/96 – BB 1998, 706 f.). Der Grundsatz des Vorrangs der sachnäheren Norm (der lex specialis) ist gerade auch für das Tarifrecht anerkannt (vgl. BAG Beschluß vom 22. März 1994 – 1 ABR 47/93 – EzA § 4 TVG Geltungsbereich Nr. 10, m.w.N.). § 622 Abs. 4 BGB enthält eine Öffnungsklausel; als ranghöhere Norm läßt sie abweichende und dann der gesetzlichen Regelung der Kündigungsfristen vorgehende tarifliche Regelungen zu. Aus dem Gesichtspunkt der Sachnähe ist die hier einschlägige Tarifvertragsnorm des § 2 Nr. 6 MTV anzuwenden (vgl. zur Weitergeltung und Auslegung dieser Bestimmung Senatsurteil vom 29. Januar 1997 – 2 AZR 370/96 – AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie). Die vom Landesarbeitsgericht angenommene Unklarheit liegt somit letztlich nicht vor, weshalb für die Auslegung auch kein Rückgriff auf eine “Unklarheitenregelung” in Betracht kommt. Die tarifliche Kündigungsfrist hat die Beklagte eingehalten; deshalb war der Revision der Erfolg zu versagen.
Unterschriften
Etzel, Bröhl, Fischermeier, Piper, Frey
Fundstellen