Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %
Leitsatz (amtlich)
§ 12 Nr. 1 des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer in Betrieben des Elektrohandwerks im Wirtschaftsgebiet der Pfalz in der Fassung vom 12. Juli 1996 stellt eine konstitutive Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar und begründet einen Anspruch der Arbeitnehmer auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 %.
Normenkette
EFZG § 4 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 in der vom 1. Oktober 1996 bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung; MTV für die Arbeitnehmer in Betrieben des Elektrohandwerks im Wirtschaftsgebiet der Pfalz i.d.F. vom 12. Juli 1996 § 12; MTV für die Arbeitnehmer in Betrieben des Elektrohandwerks im Wirtschaftsgebiet der Pfalz i.d.F. vom 12. Juli 1996 § 22
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 1999 – 11 Sa 1179/98 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß wegen der Teilrücknahme der Klage Zinsen nur aus dem Nettobetrag zu zahlen sind.
2. Die Kosten der Revision hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger ist seit 1990 als Elektriker bei der Beklagten beschäftigt. In der Zeit von Februar bis Dezember 1997 war er an insgesamt 38 Tagen arbeitsunfähig krank. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung nur in Höhe von 80 % seiner regelmäßigen Vergütung. Der Kläger verlangt Fortzahlung in voller – rechnerisch mittlerweile unstreitiger – Höhe. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in Betrieben des Elektrohandwerks im Wirtschaftsgebiet der Pfalz in der Fassung vom 12. Juli 1996 (im folgenden: MTV) Anwendung.
Dieser bestimmt ua.:
„§ 12 Lohnfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit
Bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit gelten die Vorschriften des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz = LFZG) vom 27. Juli 1969.
1. Der Arbeitnehmer erhält für jeden Krankheitstag (das sind Arbeitstage und auf Arbeitstage entfallende Feiertage), für den er nach dem Lohnfortzahlungsgesetz Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgeltes hat, 1/65 des während der letzten abgerechneten 3 Monate bzw. 13 Wochen erzielten Gesamtverdienstes (Gesamtverdienst geteilt durch 65).
Von dem Divisor 65 sind Krankheitstage, die über die Dauer von 6 Wochen hinausgehen, sowie Tage unbezahlter Freistellung von der Arbeit, soweit sie auf Arbeitstage fallen, abzuziehen.
2. Bei der Berechnung des Gesamtverdienstes bleiben unberücksichtigt:
- Auslösungen nach § 11 Manteltarifvertrag;
- Fahrtkostenersatz;
- Weihnachtsgratifikation;
- einmalige Zahlungen (z.B. Jubiläumsgeld);
- Schmutzzulagen, die für Aufwendungen gewährt werden, die während der Krankheit nicht entstehen;
- zusätzliches Urlaubsgeld nach § 17 Manteltarifvertrag.
§ 22 Schlußbestimmungen, Erlöschen von Ansprüchen
- Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis erlöschen zwei Monate nach ihrer Fälligkeit (Ausschlußfrist), wenn sie nicht binnen dieser Frist schriftlich geltend gemacht sind.
- Wird der Forderung nicht entsprochen, kann bis zu einer Frist von drei Monaten nach Fälligkeit des Anspruches Klage erhoben werden.
- Nach Ablauf der Fristen aus Ziff. 1 und 2 sind die Ansprüche verwirkt.”
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, § 12 Eingangssatz MTV stelle eine statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz dar. Unabhängig davon sei § 12 Nr. 1 MTV eine eigenständige Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Auf eine entsprechende Anfrage seitens der Prozeßbevollmächtigten des Klägers gab die Beklagte am 6. Juni 1997 die Erklärung ab:
„Soweit Ansprüche wegen gekürzter Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab Januar 1997 entstanden sind, verzichte ich gegenüber den Arbeitnehmern der Firma S GmbH auf die tariflichen Ausschlußfristen des MTV für das E.-Handwerk.”
Mit seiner der Beklagten am 25. März 1998 zugestellten Klage hat der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.879,62 DM brutto nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, § 12 MTV enthalte keine eigenständige tarifliche Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung. Im Gütetermin vom 6. April 1998 hat sie erneut erklärt, sie verzichte „auf die Geltendmachung tariflicher Verfallfristen”.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Der Kläger kann für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung in voller Höhe verlangen. Dies folgt aus § 3 Abs. 1 EFZG in seiner vom 1. Oktober 1996 bis 31. Dezember 1998 geltenden Fassung iVm. § 12 Nr. 1 MTV. Die Tarifvertragsparteien haben eine eigenständige, von den Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes unabhängige Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall getroffen.
I. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I S 1476) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle herabgesetzt. Sie betrug nach der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung des § 4 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz „80 v.H. des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts”. Bestehende tarifliche Regelungen wurden durch das Gesetz vom 25. September 1996 nicht aufgehoben. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612 S 2; Buchner NZA 1996, 1177, 1179 f.).
II. Nach § 12 Eingangssatz MTV gelten bei Arbeitsunfähigkeit in Folge Krankheit „die Vorschriften des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz = LFZG) vom 27. Juli 1969”. Diese Bestimmung stellt keine statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz und darum keine inhaltlich eigenständige tarifliche Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar.
1. Bei Abschluß des Manteltarifvertrages im Juli 1996 war das in Bezug genommene Lohnfortzahlungsgesetz allerdings bereits außer kraft getreten. Verweist ein Tarifvertrag auf eine nicht mehr gültige gesetzliche Vorschrift, so spricht dies zunächst dafür, daß es sich bei der tariflichen Bestimmung um eine eigenständige, von der jeweiligen Gesetzeslage unabhängige Regelung handelt. Wenn jedoch die entsprechende tarifliche Formulierung unverändert aus vorangegangenen Tarifverträgen übernommen wurde, so bedarf es weitergehender Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien der gleichgebliebenen Formulierung nunmehr eine andere Bedeutung beimessen wollten, als zu der Zeit, zu welcher das Gesetz noch galt(BAG 21. Oktober 1998 – 5 AZR 144/98 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Bäcker Nr. 2 = EzA EFZG § 4 Tarifvertrag Nr. 13).
2. § 12 Eingangssatz MTV 1996 entspricht unverändert seiner Fassung im Manteltarifvertrag vom 28. Juni 1989. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Tarifvertragsparteien im Juli 1996 den Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall anders regeln wollten als bisher. Bis dahin wiederum war § 12 Eingangssatz MTV nicht als statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz zu verstehen. Es handelt sich entweder um einen bloßen Hinweis auf das im Juni 1989 geltende Gesetzesrecht, bei dem schon jeglicher Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlt, oder es handelt sich zwar um eine Tarifnorm, die jedoch als dynamische Verweisung auch für die Tarifunterworfenen nur die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften für anwendbar erklärt. Dies ergibt die Auslegung der Bestimmung.
a) Der Wortlaut von § 12 Eingangssatz MTV 1989 zeigt, daß die Tarifvertragsparteien auf das Lohnfortzahlungsgesetz in seiner jeweils geltenden Fassung verwiesen haben. „Die Vorschriften des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle … vom 27. Juli 1969” sind, solange es dieses Gesetz gibt, stets diejenigen, die aktuell gelten. Daß eine zukünftige Änderung des Gesetzes von der Verweisung ausgenommen sein sollte, läßt sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen. Dies ausdrücklichen sprachlichen Zusatzes, es sollten die „jeweiligen” Vorschriften des Gesetzes gelten, bedarf es dafür nicht(BAG 16. Dezember 1998 – 5 AZR 351/98 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Bewachungsgewerbe Nr. 8). Die Angabe des Verkündungsdatums des Gesetzes rechtfertigt keine andere Auslegung. Dadurch wird ein Gesetz lediglich präzise bezeichnet. Auch bei einer so formulierten Verweisung sind künftige Gesetzesänderungen nicht von ihr ausgenommen. Die Bezeichnung des Gesetzes bleibt weiterhin korrekt. Die Angabe des Verkündungsdatums ist deshalb nicht gleichbedeutend mit einer statischen Verweisung auf das betreffende Gesetz.
b) Hat § 12 Eingangssatz MTV ursprünglich auf das Lohnfortzahlungsgesetz in seiner jeweils geltenden Fassung verwiesen, so wurde aus dieser Verweisung mit dem Außerkrafttreten des Gesetzes zum 1. Juni 1994 keine normativ selbständige Regelung. Eine ursprünglich nur dynamische Verweisung oder ein bloßer Hinweis auf das bei Tarifabschluß geltende Gesetzesrecht kann nicht allein mit dessen Wegfall nachträglich zu einer statischen Verweisung und konstitutiven Regelung werden. Dazu bedürfte es klarer Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien nach Änderung der Gesetzeslage einen entsprechenden Regelungswillen gehabt hätten(BAG 26. August 1998 – 5 AZR 727/97 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Bäcker Nr. 3). Durch das Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes ist die Verweisung in § 12 Eingangssatz MTV vielmehr entweder gegenstandslos geworden oder es ist das in ihr genannte „Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle” durch seine Nachfolgeregelung und die Lesart „Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall (Entgeltfortzahlungsgesetz)” zu ersetzen. Beides führt dazu, daß sich die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall seit dem 1. Juni 1994 nach den Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes in seiner jeweiligen Fassung richtet.
Der Umstand, daß in § 12 Eingangssatz MTV 1996 weiterhin auf das Lohnfortzahlungsgesetz verwiesen wird, macht diese Bestimmung nicht zu einer eigenständigen Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
III. Gleichwohl ist die Klageforderung begründet. Sie ergibt sich aus § 12 Nr. 1 MTV 1996.
1. § 12 Nr. 1 MTV enthält die Abkehr vom gesetzlichen Lohnausfallprinzip des § 2 Abs. 1 LFZG. Es wird durch das Referenzprinzip ersetzt. Die Vorschrift weicht von den gesetzlichen Vorgaben in Wahrnehmung der seinerzeit durch § 2 Abs. 3 Satz 1 LFZG eröffneten Möglichkeit inhaltlich ab. In diesem Sinne ist sie normativ eigenständig (konstitutiv). Dies steht zu der fehlenden Eigenständigkeit des § 12 Eingangssatz MTV nicht in Widerspruch. Der konstitutive Charakter eines Teils eines einheitlichen Regelungsbereichs läßt keinen Schluß auf den entsprechenden Charakter des übrigen Teils der Regelung zu(BAG 26. August 1998 – 5 AZR 740/97 – BAGE 89, 330 mwN).
2. § 12 Nr. 1 MTV ist auch nach Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes weiterhin gültig. Konstitutive Tarifnormen verlieren ihre Wirksamkeit und ihren konstitutiven Charakter nicht allein dadurch, daß die bisherige gesetzliche Regelung, die sie modifiziert haben, durch eine andere ersetzt wird. Falls auch das neue Gesetz eine entsprechende Abweichung zuläßt, gelten sie ohne weiteres fort. In § 4 Abs. 4 EFZG ist die entsprechende Möglichkeit weiterhin vorgesehen. Einer Weitergeltung von § 12 Nr. 1 MTV steht dabei nicht entgegen, daß im vorangehenden Eingangssatz das Lohnfortzahlungsgesetz ausdrücklich erwähnt wird. Aus diesem Umstand folgt nicht, daß die Tarifvertragsparteien das gesetzliche Lohnausfallprinzip lediglich unter Geltung des Lohnfortzahlungsgesetzes durch das Referenzprinzip und die von ihnen getroffenen Regelungen hätten ersetzen wollen und nicht auch unter Geltung einer inhaltlich gleichen Nachfolgeregelung. Weil § 12 Eingangssatz MTV eine statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz gerade nicht enthält, gibt es dafür keinen Anhaltspunkt.
3. Nach § 12 Nr. 1 MTV erhält der Arbeitnehmer „für jeden Krankheitstag …, für den er nach dem Lohnfortzahlungsgesetz Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts hat, 1/65 des während der letzten abgerechneten 3 Monate bzw. 13 Wochen erzielten Gesamtverdienstes (Gesamtverdienst geteilt durch 65)”. Es folgen weitere Berechnungsvorgaben. Damit haben die Tarifvertragsparteien eine umfassende, rechnerisch lückenlose Regelung über die Bemessung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall getroffen. Durch die Verknüpfung von Berechnungsmethode (Referenz) und Berechnungsgrundlage (dreimonatiger bzw. 13-wöchiger Gesamtverdienst) mit einem bestimmten Faktor (1/65) haben sie zwangsläufig auch die Höhe der täglichen Entgeltfortzahlung mit 100 % der entsprechenden Vergütung festgelegt. Die Regelung führt ohne weitere Schritte zwangsläufig zu einem auch der Höhe nach feststehenden Anspruch(für ähnliche Tarifregelungen vgl. BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 728/97 – BAGE 89, 119; BAG 26. August 1998 – 5 AZR 740/97 – aaO). Die Klageforderung ist entstanden.
IV. Die Forderung ist auch nicht wegen Verstoßes gegen die tariflichen Ausschlußfristen erloschen. Mit den Erklärungen der Beklagten vom 6. Juni 1997 und 6. April 1998 wurde zwischen den Parteien in der Sache außer Streit gestellt, daß die Ausschlußfristen gewahrt sind. Dies ist Tatsachengrundlage der Rechtsanwendung.
Unterschriften
Griebeling, Müller-Glöge, Kreft, Müller, Zorn
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 30.08.2000 durch Metze, Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
NZA 2001, 1092 |
SAE 2001, 198 |
AP, 0 |