Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifvertragliche Altersgrenze. Tarifautonomie. Schutzpflicht des Staates für Grundrechte. Arbeitsgerichtliche Befristungskontrolle. Befristungsrecht. Tarifrecht
Leitsatz (amtlich)
Die in § 27 Abs. 2 Satz 1 MTV-Bordpersonal HF für das Kabinenpersonal normierte Altersgrenze von 55 Jahren ist wegen Fehlens eines sie rechtfertigenden Sachgrunds unwirksam.
Orientierungssatz
- Regelungen über die Befristung von Arbeitsverträgen und über auflösende Bedingungen gehören zu den materiellen Arbeitsbedingungen, welche die Tarifvertragsparteien in Tarifverträgen regeln können.
- Die durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien findet ihre Grenzen an zwingendem Gesetzes- und gesetzesvertretendem Richterrecht. Dieses darf seinerseits nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG verstoßen, sondern muß im Lichte dieses Grundrechts ausgelegt und entwickelt werden.
- Die aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht verpflichtet die staatlichen Grundrechtsadressaten und damit auch die Gerichte, die Arbeitnehmer vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung des Bestandsschutzes durch privatautonome Regelungen zu bewahren.
- Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur arbeitsgerichtlichen Befristungskontrolle sind nicht tarifdispositiv. Daher bedürfen auch tarifliche Normen über Befristungen und auflösende Bedingungen zu ihrer Wirksamkeit eines sie rechtfertigenden Sachgrunds. Den Tarifvertragsparteien steht allerdings eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen zu.
- Die in § 27 Abs. 2 Satz 1 MTV-Bordpersonal HF für das Kabinenpersonal normierte Altersgrenze von 55 Jahren ist unwirksam. Es fehlt an einem sie rechtfertigenden Sachgrund.
Normenkette
Manteltarifvertrag Nr. 4 für das Bordpersonal der Hapag-Lloyd Fluggesellschaft mbH (MTV-Bordpersonal HF) §§ 27, 28 Abs. 1 S. 1, § 7 Abs. 3; GG Art. 9 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12; TzBfG § 22 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 31. Januar 2001 – 12 Sa 1501/00 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß das Arbeitsverhältnis nicht am 31. März 2000 beendet ist.
Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis auf Grund einer tarifvertraglichen Altersgrenzenregelung am 31. März 2000 geendet hat.
Die am 18. März 1945 geborene Klägerin ist seit dem 1. August 1972 als Stewardess bei der beklagten Luftfahrtgesellschaft bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit und kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme die für die Beklagte geltenden Haustarifverträge, darunter der Manteltarifvertrag Nr. 4 für das Bordpersonal der Hapag-Lloyd Fluggesellschaft mbH (nachfolgend: MTV-Bordpersonal HF), Anwendung.
- § 27 MTV-Bordpersonal HF in der Fassung vom 8. November 1998 lautet:
- “
Das Arbeitsverhältnis des Cockpitpersonals endet, ohne daß es einer Kündigung bedarf, spätestens mit Ablauf des Jahres, in dem das 60. Lebensjahr vollendet wird. Es kann im gegenseitigen Einvernehmen auch vor dem 60. Lebensjahr, aber nicht vor Vollendung des 55. Lebensjahres beendet werden.
…
- Das Arbeitsverhältnis des Kabinenpersonals endet, ohne daß es einer Kündigung bedarf, grundsätzlich mit Ablauf des Monats, in dem das 55. Lebensjahr vollendet wird. Die Mitarbeiter erhalten die Möglichkeit, das Beschäftigungsverhältnis zweimal bis max. zur Vollendung des 57. Lebensjahres zu verlängern. Diese Verlängerung erfolgt grundsätzlich in Teilzeit nach den üblichen Modellen. HF wird ab Erreichen der tarifvertraglichen Altersgrenze eine angemessene Weiterbeschäftigung am Boden anbieten, wenn dem keine wichtigen persönlichen Gründe des Arbeitnehmers oder betriebliche Gründe von HF entgegenstehen. In diesem Fall kann jedoch aus der vorangegangenen Tätigkeit als Bordpersonal kein Anspruch auf Fortzahlung der bis dahin gezahlten Bezüge abgeleitet werden.”
Nach dem Tarifvertrag Nr. 2 Versorgung und Versicherungen für das Bordpersonal vom 15. Oktober 1998 hat das Kabinenpersonal bei Ausscheiden wegen Erreichens der tariflichen Altersgrenze einen Anspruch wahlweise auf Abfindung oder auf Übergangsversorgung.
Im Dezember 1999 verlangte die Klägerin vergeblich von der Beklagten die Fortsetzung des Vollzeitarbeitsverhältnisses über die Vollendung des 55. Lebensjahres hinaus.
Mit der am 17. März 2000 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat die Klägerin die Unwirksamkeit der tariflichen Altersgrenzenregelung sowie den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses über den 31. März 2000 hinaus geltend gemacht.
Die Klägerin hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien über den 31. März 2000 hinaus als Vollzeitarbeitsverhältnis fortbesteht und nicht auf Grund einer tariflichen Altersgrenze gemäß § 27 Abs. 2 des Manteltarifvertrags Nr. 4 für das Bordpersonal der Hapag-Lloyd Fluggesellschaft mbH in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 6. November 1998 vor Vollendung des 60. Lebensjahrs der Klägerin aufgelöst werden kann.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die Altersgrenzenregelung für wirksam. Die Tarifvertragsparteien hätten mit dieser die ihnen auf Grund der Tarifautonomie zustehende Einschätzungsprärogative nicht überschritten. Die Altersgrenze sei sachlich gerechtfertigt. Das Kabinenpersonal müsse schwere körperliche Arbeiten verrichten. Ein altersbedingter Leistungsabfall oder Ausfallerscheinungen würden insbesondere bei einer Notlandung die Sicherheit erheblich gefährden. Denn in diesem Fall müßten die Kabinenmitarbeiter die “Bergerrolle” übernehmen und ua. durch aktive körperliche Hilfe die Passagiere über Notrutschen von Bord bringen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Klageabweisung. Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Das Arbeitsverhältnis der Parteien hat am 31. März 2000 nicht auf Grund der Altersgrenzenregelung in § 27 Abs. 2 MTV-Bordpersonal HF geendet.
Unterschriften
Dörner, Gräfl, Linsenmaier, G. Metzinger, Wilke
Fundstellen
BAGE 2004, 65 |
BB 2002, 2504 |
DB 2003, 158 |
NWB 2002, 2672 |
ARST 2002, 263 |
FA 2003, 93 |
NZA 2002, 1155 |
ZTR 2002, 471 |
ZTR 2003, 23 |
AP, 0 |
AuA 2002, 424 |
EzA-SD 2002, 23 |
EzA-SD 2002, 3 |
EzA |
MDR 2003, 34 |
AUR 2002, 349 |
AUR 2002, 438 |
ArbRB 2002, 331 |
BAGReport 2003, 27 |
GdWZ 2002, 304 |
Personalmagazin 2002, 30 |
SPA 2002, 8 |