Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachteilsausgleich bei erfolgreich angegriffener Kündigung
Leitsatz (redaktionell)
Parallelsache zum Urteil vom 31. Oktober 1995 – 1 AZR 372/95 – zur Veröffentlichung vorgesehen.
Normenkette
BetrVG § 113; BGB § 613a
Verfahrensgang
LAG Köln (Urteil vom 21.12.1994; Aktenzeichen 7 (13) Sa 1027/94) |
ArbG Köln (Urteil vom 01.07.1994; Aktenzeichen 1 Ca 9439/93) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 21. Dezember 1994 – 7 (13) Sa 1027/94 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten in den Rechtsmittelinstanzen nur noch darüber, ob der Kläger infolge einer Betriebsänderung entlassen worden ist und gegen die Beklagte einen Anspruch auf Nachteilsausgleich hat.
Die Beklagte betrieb eine im Nah- und im Fernverkehr tätige Spedition. Sie beschäftigte etwa 24 Arbeitnehmer, darunter den Kläger. Er war seit 1982 als Lkw-Fahrer gegen ein Entgelt von zuletzt 3.800,00 DM brutto monatlich tätig. Es bestand ein Betriebsrat. Nachdem die Beklagte in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war, kündigte sie im Oktober 1993 einer nicht näher festgestellten Zahl von Arbeitnehmern, unter denen sich der Kläger befand, zum 15. Oktober 1993. Sie begründete die Kündigungen damit, daß die Geschäftstätigkeit eingestellt werde. Im vorliegenden Rechtsstreit hat das Arbeitsgericht festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Beklagten durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist, weil der Betriebsrat nicht gehört wurde. Insoweit ist das Urteil rechtskräftig.
Die Beklagte hat nicht versucht, über die Einstellung ihrer Geschäftstätigkeit einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat herbeizuführen. Sie hat ihre werbende Tätigkeit im Lauf des Monats Oktober 1993 aufgegeben. Ein Antrag der AOK Köln auf Eröffnung des Konkurses wurde am 20. Dezember 1993 mangels Masse abgelehnt.
Zwischen dem Kläger und einer M. GmbH ist noch ein Rechtsstreit darüber anhängig, ob das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Beklagten auf dieses Unternehmen übergegangen ist. Der Kläger hat geltend gemacht, die M. GmbH habe von der Beklagten die Geschäftsräume und sonstigen sächlichen Betriebsmittel sowie die Kundenbeziehungen im Nahverkehr übernommen und beschäftige einen Teil der früheren Belegschaft der Beklagten. Nach Angaben des Klägers ruht dieses Verfahren, weil über das Vermögen der M. GmbH der Konkurs eröffnet worden sei.
Im vorliegenden Verfahren hat der Kläger die Auffassung vertreten, er habe Anspruch auf Nachteilsausgleich i.H.v. mindestens 10.000,00 DM. Die Beklagte habe einen Betriebsteil, den Tätigkeitsbereich Fernverkehr, stillgelegt, ohne daß ein Interessenausgleich versucht worden sei. Er, der Kläger, sei deswegen entlassen worden. Daß die Kündigung unwirksam gewesen sei, stehe der Annahme einer Entlassung nicht entgegen. Entscheidend sei, daß er durch die Betriebsstillegung tatsächlich seinen Arbeitsplatz verloren habe. Für den Anspruch auf Nachteilsausgleich komme es auch nicht darauf an, daß das Arbeitsverhältnis möglicherweise auf die M. GmbH übergegangen sei. Insoweit müsse es genügen, daß die Beklagte tatsächlich eine Kündigung ausgesprochen habe und – ebenso wie die M. GmbH – das Vorliegen eines Betriebsübergangs leugne. Im übrigen sei ein Nachteil, der einen Anspruch auf Ausgleich begründen könne, auch schon in der Unsicherheit über den Bestand eines Arbeitsverhältnisses zu sehen.
Der Kläger hat, soweit für die Revision von Interesse, zuletzt noch beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger eine Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens aber 10.000,00 DM, nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit der Klageerhöhung zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach ihrer Meinung hat der Kläger keinen Anspruch auf die begehrte Abfindung. Ein Interessenausgleich sei nicht in Betracht gekommen, da sie, die Beklagte, keine Betriebsänderung geplant habe. Die Einstellung der Geschäftstätigkeit sei vielmehr kurzfristig wegen ihrer Zahlungsunfähigkeit notwendig geworden. Diese sei die Folge der Pfändung sämtlicher Forderungen und nicht sicherungsübereigneter Fahrzeuge durch das Finanzamt Ende September 1993 gewesen. Es komme hinzu, daß der Kläger nicht entlassen worden sei. Er habe seinen Arbeitsplatz nicht verloren, da der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses rechtskräftig festgestellt wurde. Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich wegen Entlassung könne nur dann in Betracht kommen, wenn die Kündigung Bestand habe, weil der betroffene Arbeitnehmer sie nicht – oder nicht erfolgreich – angreife. Dafür, daß der Kläger trotz Fortbestands des Arbeitsverhältnisses wirtschaftliche Nachteile erlitten habe, sei nichts vorgetragen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage auf Zahlung einer Abfindung abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den Abfindungsantrag mit Ausnahme des Zinsanspruchs weiter. Die Beklagte bittet, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Abfindung. Er hat keinen Nachteil erlitten, der nach § 113 BetrVG auszugleichen wäre.
I. Ein Abfindungsanspruch nach § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG scheitert daran, daß der Kläger nicht infolge einer Betriebsänderung, für die ein Interessenausgleich versucht werden mußte, entlassen worden ist.
1. Es erscheint schon zweifelhaft, ob überhaupt eine Betriebsänderung i.S. des § 113 Abs. 1 BetrVG vorliegt.
a) Bei der Maßnahme, von welcher der Kläger betroffen war, handelte es sich möglicherweise um einen Betriebsübergang. Der Kläger vertritt selbst diese Auffassung. Das Landesarbeitsgericht hat hierzu keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Folge eines Betriebsübergangs wäre nach § 613 a BGB, daß das Arbeitsverhältnis des Klägers auf die M. GmbH überginge.
Sollte tatsächlich ein Betriebsübergang vorliegen, so würde das die Annahme verbieten, der Kläger sei von einer Betriebsstillegung und damit von einer Betriebsänderung betroffen. Ein Betriebsübergang ist als solcher keine Betriebsänderung. Allerdings hat der Senat kürzlich entschieden, daß ein Arbeitgeber, der mit dem Ziel der Betriebsstillegung alle Arbeitnehmer entläßt, obwohl der Betrieb auf einen anderen Arbeitgeber übergeht, gegen die Sozialplanpflichtigkeit dieses Vorgangs nicht einwenden kann, in Wirklichkeit habe ein Betriebsübergang vorgelegen. Dies hat der Senat aus dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) hergeleitet (Beschluß vom 27. Juni 1995 – 1 ABR 62/94 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen, zu B III 2 c der Gründe). Hier liegt der Fall indessen anders. Die Beklagte beruft sich nicht auf einen Betriebsübergang, sondern leugnet ihn. Hingegen macht der Kläger selbst geltend, der Betrieb sei übergegangen. Er ist es also, der sich insoweit widersprüchlich verhält.
b) Läßt man die Möglichkeit eines Betriebsübergangs unberücksichtigt und unterstellt zugunsten des Klägers, bei der Maßnahme der Beklagten habe es sich um eine Betriebsstillegung und damit um eine Betriebsänderung gehandelt, so ergibt sich daraus noch nicht zwingend, daß § 113 BetrVG anzuwenden ist.
Nach der Rechtsprechung des Senats können Arbeitnehmer nicht in jedem Fall einen Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG beanspruchen, wenn der Unternehmer einen Betrieb stillegt, ohne vorher einen Interessenausgleich versucht zu haben. Solche Ansprüche sind ausnahmsweise dann ausgeschlossen, wenn plötzlich eintretende Ereignisse eine sofortige Schließung des Betriebs unausweichlich machen und ein Hinausschieben der Stillegung, nur um noch einen Interessenausgleich zu versuchen, den Arbeitnehmern nicht nützen, sondern allenfalls weitere Nachteile bringen könnte. Der Senat hat dies in einem Fall angenommen, in dem die Hauptgläubiger eines überschuldeten Unternehmens überraschend ihre Bereitschaft zum Stillhalten widerriefen, weil ein anderer Gläubiger mit der Verwertung von Sicherheiten begonnen hatte. Die Konkurseröffnung wurde mangels Masse abgelehnt, die Übernahme des Betriebs durch ein anderes Unternehmen zerschlug sich. Das Unternehmen konnte keine Löhne mehr zahlen, seine Fortführung bis zum Abschluß des für den Versuch eines Interessenausgleichs vorgeschriebenen Verfahrens hätte nur Kosten verursacht, für die keine Deckung mehr vorhanden war; die Arbeitnehmer hätten für ihre Weiterarbeit keine Gegenleistung mehr erwarten können (Urteil vom 23. Januar 1979 – 1 AZR 64/76 – AP Nr. 4 zu § 113 BetrVG 1972).
Ein solcher Ausnahmefall ist freilich nicht schon dann anzunehmen, wenn die Betriebsstillegung unausweichlich wird. Vielmehr muß hinzukommen, daß auch hinsichtlich des Zeitpunkts und aller sonstigen Modalitäten kein Spielraum mehr besteht, der einer Regelung durch Interessenausgleich zugänglich wäre (BAGE 47, 329, 338 f. = AP Nr. 11 zu § 113 BetrVG 1972, zu I 3 b und c der Gründe). Ob dies hier, wie die Beklagte behauptet, nach der vom Finanzamt vorgenommenen Pfändung der Fall war, hat das Landesarbeitsgericht offengelassen. Es hat insoweit auch keine näheren Feststellungen getroffen.
2. Die Frage, ob hier eine Betriebsänderung vorlag, für die ein Interessenausgleich versucht werden mußte, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Auch wenn die Beklagte den Betrieb oder einen Betriebsteil stillgelegt und dabei gegen ihre Verpflichtungen aus § 112 BetrVG verstoßen haben sollte, scheitert der geltend gemachte Anspruch daran, daß der Kläger nicht, wie in § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG gefordert, infolge der Betriebsänderung entlassen worden ist.
a) Die zum 15. Oktober 1993 von der Beklagten ausgesprochene Kündigung hat nicht zur Entlassung des Klägers geführt. Das Arbeitsverhältnis ist durch sie nicht beendet worden. Das hat das Arbeitsgericht rechtskräftig festgestellt. Eine Entlassung nach § 113 Abs. 1 BetrVG setzt aber voraus, daß das Arbeitsverhältnis beendet wird. Der hiermit verbundene Verlust des Arbeitsplatzes ist der wirtschaftliche Nachteil, der nach § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG durch eine Abfindung ausgeglichen werden soll. Wirtschaftliche Nachteile in einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis, z.B. aufgrund einer Versetzung oder Umgruppierung, sind nach § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 BetrVG in anderer Form zu kompensieren (BAGE 59, 242, 251 = AP Nr. 17 zu § 113 BetrVG 1972, zu II 2 b aa der Gründe; dazu vgl. nachstehend zu II).
Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß das fortbestehende Arbeitsverhältnis für den Kläger kaum noch einen wirtschaftlichen Wert hat. Dies hat seinen Grund nicht in einer auf den Kläger bezogenen Maßnahme, sondern allein in der Zahlungsunfähigkeit der Beklagten. Hiergegen soll und kann aber der Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG nicht schützen. Im übrigen würde für den wirtschaftlichen Wert eines vom Kläger erstrittenen Abfindungsanspruchs nichts anderes gelten als für denjenigen der anderen Rechte aus dem fortbestehenden Arbeitsverhältnis. Es ist Sache des Klägers, ob er Rechte geltend machen will, die ihm wertlos erscheinen.
In diesem Zusammenhang bedarf es keiner Auseinandersetzung mit der im Schrifttum verbreiteten Auffassung, nach der ein Anspruch auf Abfindung wegen Entlassung nach § 113 Abs. 1 BetrVG nicht voraussetzt, daß die Kündigung wirksam ist. Auch nach dieser Meinung fehlt es hier an einer Entlassung. Soweit die Wirksamkeit der Kündigung für unerheblich angesehen wird, geht es nämlich nur um Kündigungen, die vom Arbeitnehmer hingenommen und nicht angefochten worden sind. Die Wirksamkeit solcher Kündigungen soll im Streit um eine Abfindung nicht mehr in Frage gestellt werden können. Dagegen nehmen auch die Vertreter dieser Auffassung einhellig an, daß die gerichtliche Feststellung, die Kündigung sei unwirksam, einen Abfindungsanspruch wegen Entlassung nach § 113 Abs. 1 BetrVG ausschließe. Greife der Arbeitnehmer die Wirksamkeit der Kündigung gerichtlich an, so könne er einen auf diese Kündigung gestützten Antrag auf Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG nur hilfsweise für den Fall stellen, daß er mit dem Kündigungsschutzantrag unterliege (Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, BetrVG, 4. Aufl., § 113 Rz 17; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 113 Rz 28 f., 35; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., § 113 Rz 13; GK-BetrVG/Fabricius, 4. Aufl., § 113 Rz 58).
b) Neben der von der Beklagten zum 15. Oktober 1993 ausgesprochenen Kündigung ist ein anderer Vorgang, der als Entlassung i.S. des § 113 Abs. 1 BetrVG zu bewerten sein könnte, nicht ersichtlich. Es ist nichts dafür vorgetragen, daß das Arbeitsverhältnis aufgrund der (unterstellten) Betriebsstillegung zu einem späteren Zeitpunkt geendet hätte. Zutreffend ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, daß selbst dann, wenn man zugunsten des Klägers eine Betriebsstillegung unterstellt, das Arbeitsverhältnis dadurch nicht „erloschen” ist. Die Stillegung eines Betriebs führt als solche nicht zur Auflösung der Vertragsbeziehung (z.B. MünchArbR/Wank, § 111 Rz 6).
II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 BetrVG. Einen solchen Anspruch kann ein Arbeitnehmer haben, der nicht entlassen worden ist, wenn er infolge der Betriebsänderung andere wirtschaftliche Nachteile erleidet, z.B. aufgrund einer Versetzung oder Umgruppierung (BAGE 59, 242, 252 = AP Nr. 17 zu § 113 BetrVG 1972, zu II 4 a der Gründe). Für derartige andere, also nicht im Arbeitsplatzverlust bestehende Nachteile hat der Kläger indessen nichts vorgetragen.
Soweit er geltend gemacht hat, die Rechtsunsicherheit über den Bestand des Arbeitsverhältnisses sei ein solcher Nachteil, konnte er keinen Erfolg haben. Die behauptete Unsicherheit kann einen Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG nicht begründen. § 113 Abs. 2 BetrVG setzt Nachteile wirtschaftlicher Natur voraus, wie Lohnminderungen oder erhöhte Fahrtkosten. Die rechtliche Unsicherheit darüber, ob und mit welchem Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis noch besteht, gehört nicht hierzu. Ein Zahlungsanspruch nach § 113 BetrVG wäre nicht geeignet, sie zu beseitigen oder auch nur zu mildern. Vielmehr muß der Kläger die Unsicherheit durch Gerichtsentscheidung ausräumen lassen. So wurde hier bereits rechtskräftig entschieden, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht beendet worden ist.
Unterschriften
Dieterich, Rost, Wißmann, K.H. Janzen, Wisskirchen
Fundstellen