BAG, Urteil vom 28.6.2023, 5 AZR 335/22
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG kann nach den Umständen des Einzelfalls auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie erschüttert sein.
Sachverhalt
Der Kläger war vom 16.1.2020 bis zum 30.9.2020 bei der Beklagten, die Personalvermittlung und -verleih betreibt, als technischer Sachbearbeiter beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund fristgemäßer Kündigung der Beklagten.
Für die Zeit vom 7.9.2020 bis zum 30.9.2020 legte der Kläger 2 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Im Laufe des Verfahrens hatte der Kläger die Ausfertigungen für den Versicherten vorgelegt, aus denen die "AU-begründenden Diagnose(n) (ICD-10)" ersichtlich waren. Die behandelnde Ärztin hatte jeweils "M25.51 G R" angegeben (Gelenkschmerz Schulterregion gesichert rechts). Der Kläger hatte außerdem Folgebescheinigungen für die Zeit bis zum 15.11.2020 vorgelegt, die ab dem 16.10.2020 zusätzlich zu "M25.51 G R" die ICD-10-Codes "75.5 G R" (Bursitis im Schulterbereich gesichert rechts) und "75.8 G R" (Sonstige Schulterläsionen gesichert rechts) enthielten. Weiter hatte er den Befundbericht/Arztbrief vom 17.9.2020 zu einer MRT-Untersuchung seines rechten Schultergelenks am 16.9.2020 vorgelegt.
Da die Beklagte für September 2020 weder Arbeitsvergütung noch Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zahlte, erhob der Kläger Klage.
Die Beklagte ist der Ansicht, der Beweiswert der für die Zeit ab dem 7.9.2020 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert; denn sie seien nicht entsprechend den Vorgaben der "Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V" (im Folgenden: Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) ausgestellt worden. Nach § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (i. d. F.v. September 2020) müssten Symptome – hier "Schulterschmerzen" – nach spätestens 7 Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose ersetzt werden.
Die Entscheidung
Die Klage hatte Erfolg.Die Beklagte hatte keine Umstände aufgezeigt, die geeignet waren, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern.
Das BAG führte aus, dass nach allgemeinen Grundsätzen der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG habe. Dies werde i. d. R. durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt.
Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung komme daher aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Der Arbeitgeber könne deshalb den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukomme. Nach Auffassung des Gerichts könne der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG nach den Umständen des Einzelfalls auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie erschüttert sein. Allerdings seien hierbei nicht alle Bestimmungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie relevant. Formale Vorgaben, die in 1. Linie kassenrechtliche Bedeutung haben und das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen, wie Formulare und Angaben für die Abrechnung, seien grundsätzlich ohne Belang. Anders zu beurteilen seien hingegen die Regelungen in § 4 und § 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen. Hierzu gehörten beispielsweise die Bestimmungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund persönlicher ärztlicher Untersuchung und zur Dauer der zu bescheinigenden Arbeitsunfähigkeit. Es handele sich dabei zwar um keine zwingenden Vorgaben, die die Arbeitsvertragsparteien und Arbeitsgerichte binden. Solche Bestimmungen enthielten jedoch eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, so dass Verstöße hiergegen nach der Lebenserfahrung geeignet seien, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Rahmen der nach § 286 ZPO vorzunehmenden Beweiswürdigung zu erschüttern.
Im vorliegenden Fall betraf jedoch die Kodierung nach ICD-10 primär das Abrechnungsrecht und damit zunächst das Verhältnis zwischen Vertragsärzten und Kassen.
Allerdings könne in Einzelfällen auch die angegebenen ICD-10-Codes – in Zusammenschau mit der Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit – Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung aufwerfen. Auch wenn die nach § 5 Abs. 1 EFZG a. F. für den Arbeitgeber vorgesehene Durchschrift der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Angaben zur Ursache und Art ...