Tenor
Die Ablehnung des Richters Dr. P.… wird als unbegründet zurückgewiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger nach Abschluß des Examens als Doktorrand weiterhin der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Studenten (KVdS) unterliegt. Die Beklagte verneinte dies. Klage und Berufung blieben erfolglos. Mit der Revision beantragt der Kläger, ihn in der KVdS weiterzuversichern.
Mit Schreiben vom 12. September 1992 hat der Kläger den dem erkennenden Senat als Mitberichterstatter angehörenden Richter am Bundessozialgericht Dr. P.… (im folgenden: Dr. P.) wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zur Begründung trägt der Kläger vor: Dr. P. führe im Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht (Stand: Oktober 1991 ) zu § 5 des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V), RdNr 83 aus: “Diejenigen, die nach dem Abschlußexamen ihres Faches noch an der Hochschule verbleiben, um zu promovieren, können nicht mehr als Studenten in diesem Sinne gelten, auch wenn sie noch eingeschrieben sind. Anders allenfalls, wenn sie ein reguläres Zweitstudium betreiben und die zeitlichen und altersgemäßen Grenzen des Abs 1 Nr 9 dem nicht entgegenstehen.” Unter RdNr 88 führe Dr. P. aus, daß bei einem Studium in – nebeneinander oder nacheinander – mehreren Studiengängen § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V dahin zu interpretieren sei, “daß für die Mitgliedschaft in der KVdS nur einmal ein Studium bis zu 14 Semestern akzeptiert wird.” Diese lapidare Feststellung in der zitierten Kommentierung sei auf das Gemeinsame Rundschreiben der Krankenversicherungsträger zurückzuführen. Äußerungen, die von Bundesrichtern zu bisher höchstrichterlich noch nicht entschiedenen Streitfragen publiziert würden, hätten die Wirkung einer authentischen Interpretation, die es den Untergerichten geraten sein ließe, ihr zu folgen. Es stehe einem Bundesrichter frei, bisher ungeklärte Rechtsfragen literarisch zu behandeln. Sobald er sie aber in Ausübung seines Richteramtes erneut zu entscheiden habe, könne er an der Entscheidung nicht mehr mitwirken. Die zitierte Äußerung des Dr. P. sei geeignet, bei ihm – dem Kläger – die Befürchtung wachzurufen, daß Dr. P. an der bevorstehenden Entscheidung nicht mehr unvoreingenommen mitwirken könne. Die Zielrichtung, § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V restriktiv im Sinne des Kasseler Kommentars auszulegen, werde unterstrichen durch das Schreiben vom 20. August 1992, mit dem Dr. P. als Berichterstatter in einer anderen Streitsache vom Verband der privaten Krankenversicherung e.V. eine Auskunft eingeholt habe.
Richter Dr. P. hat sich am 2. Oktober 1992 dienstlich geäußert: Er halte sich nicht für befangen; bei Abfassung der Kommentierung zu § 5 SGB V sei ihm weder ein Revisionsverfahren zur studentischen Krankenversicherung noch das Gemeinsame Rundschreiben der Krankenversicherungsträger bekannt gewesen.
Entscheidungsgründe
II
Das Ablehnungsgesuch ist nicht begründet. Die vom Kläger zur Rechtfertigung seines Gesuchs vorgetragenen Umstände erfüllen nicht den Tatbestand eines Ablehnungsgrundes. Nach § 60 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gilt für die Ablehnung eines Richters § 42 Zivilprozeßordnung (ZPO) entsprechend. Danach kann ein Richter sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Die hier allein in Betracht zu ziehende Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit findet nach § 42 Abs 2 ZPO statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Eine Besorgnis der Befangenheit liegt nur dann vor, wenn ein objektiv vernünftiger Grund gegeben ist, der den am Verfahren Beteiligten auch von seinem Standpunkt aus befürchten lassen kann, der Richter werde nicht unparteiisch sachlich entscheiden. Eine rein subjektive, unvernünftige Vorstellung ist unerheblich (vgl Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, Zivilprozeßordnung, 48. Aufl, § 42 Anm 2 A). Es kommt auch nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich “parteilich” oder “befangen” ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist ausschließlich, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ in BVerfGE 82, 30 [38]); 73, 330 [335]; Bundessozialgericht ≪BSG≫ in SozR 1500 § 60 Nr 3).
Einen derartigen Anlaß hat der abgelehnte Richter nicht gegeben. Von jeher wird von einem Richter erwartet, daß er auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantritt, wenn er sich schon früher über die entscheidungserheblichen Rechtsfragen ein Urteil gebildet hat (BVerfGE 82, 30 [38]); 78, 331 [337f]); 30, 149 [153]). Dies gilt auch dann, wenn diese frühere Urteilsbildung nicht im Wege richterlicher Rechtsfindung, sondern, wie hier, in einer wissenschaftlichen Äußerung erfolgt ist (vgl § 18 Abs 3 Nr 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz ≪BVerfGG≫). Unsere Rechtsordnung setzt den wissenschaftlich arbeitenden Richter voraus. Es liegt in der Natur des Richterberufes begründet, sich ständig Ansichten über Rechtsfragen zu bilden. Wenn der Richter seine Rechtsmeinung – wie hier – in einer Kommentierung niederlegt, so bedeutet dies keine Festlegung, sondern die Eröffnung bzw Fortführung einer in der Öffentlichkeit breit angelegten Diskussion. Der wissenschaftlich arbeitende Richter, der seine Meinung veröffentlicht, gibt anders als der Richter, der sich seine Meinung im stillen unter Ausschluß der Öffentlichkeit bildet, den Anstoß für neue Argumente, vor deren Hintergrund er seine einmal gefaßte Rechtsmeinung überdenken, in Frage stellen und ggf revidieren kann (vgl unveröffentlichten Beschluß des Bundesfinanzhofs ≪BFH≫ vom 7. Dezember 1983 – V S 6/83).
Der Kläger beruft sich auf zwei Entscheidungen des BVerfG aus dem Jahre 1966 (BVerfGE 20, 1 ff und 9 ff). Damit läßt sich das Ablehnungsgesuch nicht begründen, weil der Gesetzgeber inzwischen durch das 4. Gesetz zur Änderung des BVerfGG vom 21. Dezember 1970 (BGBl I 1765) klargestellt hat, daß durch die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung ein Richter nicht von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen wird. Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages (BT) hat “diese an sich selbstverständliche Feststellung im Hinblick auf tatsächliche Ereignisse in der Vergangenheit für erforderlich” gehalten (so BT-Drucks VI 1471 S 4). Das wird allgemein auf die genannten beiden Entscheidungen des BVerfG aus dem Jahre 1966 (aaO) bezogen (vgl Maunz, Schmidt-Bleibtreu, Klein, Ulsamer, BVerfGG, Stand März 1992, § 18 Rz 10, § 19 Rz 9). Die neue Bestimmung in § 18 Abs 3 Nr 2 BVerfGG soll verhindern, daß ein Richter wegen einer wissenschaftlichen Meinungsäußerung von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wird. Entsprechendes hat für Richter am BSG zu gelten.
Der Kläger trägt vor, eine literarische Äußerung binde einen Autor, wenn er glaubwürdig bleiben wolle, mindestens ebenso wie eine vorausgegangene Entscheidung. In dieser Argumentation kann dem Kläger nicht gefolgt werden. Sie ist auch nicht mit der neueren Rechtsprechung des BVerfG zu vereinbaren. Dieses hat im Beschluß vom 21. Juni 1988 (BVerfGE 78, 331, 336f) die Mitwirkung eines Richters am BVerfG an einer Stellungnahme, die vom BVerfG im verfassungsgerichtlichen Verfahren selbst gemäß § 82 Abs 4 BVerfGG eingeholt worden ist, im Rahmen von § 18 BVerfGG als unschädlich angesehen. Die vorausgegangene Entscheidung, die der Kläger hier zum Vergleich anführt, bedingt nur dann den Ausschluß des Richters, wenn sie in einem früheren Rechtszug erfolgt ist und eine Mitwirkung an der angefochtenen Entscheidung zum Inhalt hat (so BVerfG aaO). Die Stellungnahme eines obersten Gerichtshofs des Bundes zu einer Rechtsfrage kann aber in ihrer Bedeutung in dem hier entscheidenden Zusammenhang keinesfalls geringer eingeschätzt werden als eine wissenschaftliche Meinungsäußerung. Auch unter diesem Aspekt kann das Ablehnungsgesuch des Klägers keinen Erfolg haben.
Zusätzliche Umstände, die insgesamt gesehen aus der Sicht des Klägers dennoch Anlaß geben könnten, an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu zweifeln, liegen nicht vor. Er hat an keiner Stelle seiner Kommentierung die Ebene der sachlichen Darstellung verlassen. Die Kommentierung war bereits abgeschlossen, als 1991 das erste Revisionsverfahren betreffend die studentische Krankenversicherung anhängig und als ihm das vom Kläger angesprochene Gemeinsame Rundschreiben der Krankenversicherungsträger bekannt wurde. Die im Rahmen des Verfahrens 12 RK 40/91 beim Verband der privaten Krankenversicherung e. V. eingeholte Auskunft läßt ebensowenig ein im Sinne der Kommentierung zielgerichtetes Handeln erkennen: Die Auskunft war zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung aufgrund des Vorbringens des dortigen Prozeßbevollmächtigten eingeholt worden. Dieser hatte ua vorgetragen, bei einem Ausscheiden aus der studentischen Krankenversicherung gefährde der dann zu zahlende höhere Beitrag eine Weiterführung des Studiums. Der abgelehnte Richter hat in seiner dienstlichen Äußerung vom 2. Oktober 1992 ausgeführt, er habe die genannte Auskunft eingeholt, um dem Senat für den Fall, daß es darauf ankomme, auch eine Entscheidung der Frage zu ermöglichen, ob das Rechtsstaatsprinzip verletzt sei; die Frage nach der Beitragshöhe bei einer Weiterversicherung in der privaten Krankenversicherung habe er als “von Interesse” bezeichnet. Dies ist nicht zu beanstanden, zumal der Ausgang der Anfrage völlig offen war.
Aus dem Vorbringen des Klägers betreffend das Verfahren im zweiten Rechtszug vor dem Landessozialgericht (LSG) ergeben sich keine besonderen Umstände, die zu einer Besorgnis der Befangenheit führen könnten. Der Kläger hat vorgetragen, das LSG habe sich veranlaßt gesehen, “auf eine (gewichtige) Literatur-Meinung hinzuweisen”, und zwar auf die bereits erwähnte Kommentierung im Kasseler Kommentar. Daran habe das LSG die Frage angeschlossen, ob die Berufung aufrechterhalten bleibe. In der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht sei dem Kläger erklärt worden, die “Gewichtigkeit der Literaturmeinung” folge ua daraus, daß der Kommentator Richter am BSG sei.
In diesem Verfahren hier ist nicht zu entscheiden, wie dieses, vom Kläger geschilderte Verhalten zu beurteilen ist. Etwaige besondere Umstände ergeben sich nicht aus der wissenschaftlichen Meinungsäußerung des abgelehnten Richters, sondern aus der Art und Weise, in der seine Kommentierung vom LSG in den Rechtsstreit eingeführt worden ist. Maßstab für die Besorgnis der Befangenheit ist allein, ob der Beteiligte bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Veranlassung hat, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des abgelehnten Richters zu zweifeln (so BSG aaO). Die Zweifel müssen im eigenen Verhalten des Richters begründet sein und nicht darin, was andere, ohne sein Zutun und ohne Einflußmöglichkeit, aus seiner Äußerung machen. Sonst könnte auf diesem Umweg möglicherweise die Vorinstanz auf die Besetzung der Richterbank in der Revisionsinstanz einwirken. Grundsätzlich darf aber niemand dem gesetzlichen Richter entzogen werden (Art 101 Abs 1 Satz 2 des Grundgesetzes ≪GG≫). Folglich ist äußerste Zurückhaltung geboten, wenn das Verhalten Dritter dazu herangezogen wird, die vermeintliche Befangenheit eines Richters zu begründen.
Demnach lassen weder die Kommentierung noch die Anfrage bei vernünftiger objektiver Würdigung den Eindruck entstehen, der abgelehnte Richter habe sich so festgelegt, daß er in dem zu entscheidenden Fall nicht mehr fähig sei, seine geäußerte Meinung unter Abwägung der vom Kläger geäußerten Rechtsauffassung zu überprüfen.
Fundstellen
Haufe-Index 793336 |
NJW 1993, 2261 |
NVwZ 1993, 1230 |
NZA 1993, 621 |