Verfahrensgang
SG Braunschweig (Entscheidung vom 25.04.2022; Aktenzeichen S 31 KR 366/17) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 07.07.2023; Aktenzeichen L 4 KR 288/22) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 7. Juli 2023 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Versorgung der Klägerin mit einer Bauchdeckenstraffung.
Die 1973 geborene, bei der Beklagten versicherte Klägerin bezieht aufgrund verschiedener Erkrankungen eine Erwerbsminderungsrente. 1998 ließ sie eine Bauchdeckenstraffung sowie eine Mammareduktion durchführen, 2014 eine Magenverkleinerung wegen starken Übergewichts und 2016 eine erneute Mammareduktion. Am 2.2.2017 beantragte sie - nach einer Gewichtsabnahme von 38 kg - eine Straffung des Unterbauchs, des Gesäßes und der Oberschenkelinnenseiten.
Auf der Grundlage von insgesamt drei Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) der Krankenversicherung bewilligte die Beklagte schließlich eine Versorgung mit einer beidseitigen Oberschenkelstraffung, welche die Klägerin im September 2018 durchführen ließ, lehnte den Antrag im Übrigen aber ab(Bescheid vom 22.2.2017 in der Fassung des Bescheides vom 2.10.2017 in der weiteren Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2.11.2017) .
Im Klageverfahren legte die Beklagte ein weiteres Gutachten des MD vor und auch das SG holte ein Gutachten ein. Nachdem die Klägerin ihr Begehren auf die Straffung der Bauchdecke reduziert hatte, hat das SG die Beklagte - insoweit unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide - verurteilt, die Klägerin mit einer Bauchdeckenstraffung zu versorgen. Es hat ausgeführt, das Erscheinungsbild der im Termin zur mündlichen Verhandlung in gewöhnlicher Alltagsbekleidung persönlich anwesenden Klägerin in Augenschein genommen und dabei im Bereich der Bauchdecke eine körperliche ausgeprägte Auffälligkeit im Sinne einer Entstellung festgestellt zu haben(Urteil des SG vom 25.4.2022) .
Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat diese Entscheidung im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter getroffen und begründend ausgeführt: Im Bereich der Bauchdecke liege weder eine behandlungsbedürftige Krankheit noch eine Entstellung vor. Nach Auswertung aller in der Gerichts- und Verwaltungsakte befindlichen Fotodokumentationen sei der erkennende Senat zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin im Bereich der Bauchdecke keine Entstellung im Sinne der Rechtsprechung des BSG vorliege. Das SG beziehe sich für seine gegenteilige Einschätzung auf eine Inaugenscheinnahme der im Termin zur mündlichen Verhandlung persönlich anwesenden Klägerin, obwohl in der Sitzungsniederschrift eine Beweisaufnahme durch Inaugenscheinnahme nicht protokolliert und den Beteiligten auch der Eintritt in eine Beweisaufnahme und deren wesentlicher Inhalt nicht mitgeteilt worden sei. Der Bereich der Bauchdecke werde üblicherweise durch Kleidung bedeckt. Im bekleideten Zustand ergäben sich nach Aktenlage keine Anhaltspunkte für eine Entstellung der Klägerin. Das gelte im Übrigen auch für den unbekleideten Zustand(Urteil vom 7.7.2023) .
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Begründung des geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes des Vorliegens von Verfahrensmängeln.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen(vgl zBBSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN;BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN) . Solche Umstände bezeichnet die Klägerin nicht hinreichend.
1. Die Klägerin führt aus, das LSG habe eine ihm obliegende Beweiserhebung durch eine Inaugenscheinnahme der Klägerin unterlassen und deshalb nicht alle für die Entscheidungsfindung erheblichen Tatsachen einbeziehen können. Die richterliche Überzeugungsbildung von einer Entstellung könne nur durch eine persönliche Inaugenscheinnahme entstehen. Das Berufungsgericht hätte sich zu einer Inaugenscheinnahme gedrängt fühlen müssen, nachdem dieses Beweismittel für die erstinstanzliche Entscheidung ausschlaggebend gewesen sei.
Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten(stRspr; vgl zBBSG vom 20.7.2010 - B 1 KR 29/10 B - RdNr 5 mwN;BSG vom 1.3.2011 - B 1 KR 112/10 B - juris RdNr 3 mwN;BSG vom 14.10.2016 - B 1 KR 59/16 B - juris RdNr 5 ) .
Einen Beweisantrag zur Inaugenscheinnahme vor dem LSG bezeichnet die Klägerin nicht. Vielmehr hat die im Berufungsverfahren durch einen berufsmäßigen Bevollmächtigten, den Sozialverband eV, vertretene Klägerin ausdrücklich einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt, wobei ihr klar gewesen sein musste, dass eine erneute Inaugenscheinnahme in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr möglich sein würde. Auf die Frage, ob sich das LSG zu der beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen(stRspr; vgl zBBSG vom 7.4.2011 - B 9 SB 47/10 B - juris RdNr 4 ) , kommt es daher gar nicht an. Es fehlt schon an der Darlegung, dass mit der Zustimmung zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zumindest hilfsweise eine entsprechende Beweiserhebung beantragt worden war.
Hinsichtlich der richterlichen Überzeugungsbildung gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung(§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG ) , auf dessen Verletzung die Zulassung der Revision grundsätzlich nicht gestützt werden kann(§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ) . Dass das LSG die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten haben könnte, legt die Klägerin nicht dar.
2. Die Klägerin bezeichnet auch einen auf einer Überraschungsentscheidung beruhenden Verfahrensmangel nicht hinreichend. Sie führt hierzu aus, durch die Nichtberücksichtigung des bereits verwendeten Beweismittels der Inaugenscheinnahme sei die Entscheidung des LSG überraschend gewesen. Ein förmlicher Beweisbeschluss sei zu ihrer Durchführung nicht erforderlich.
Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht(vgl nur BVerfG ≪Kammer≫ vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 -NJW 2012, 2262 = juris RdNr 18 mwN;BSG vom 22.4.2015 - B 3 P 8/13 R - BSGE 118, 239 = SozR 4-3300 § 23 Nr 7, RdNr 37 mwN) . Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern(vglBSG vom 30.10.2019 - B 1 KR 99/18 B - juris RdNr 10 mwN;BSG vom 21.6.2000 - B 5 RJ 24/00 B - SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 mwN) . Eine solche Verpflichtung des Gerichts wird insbesondere weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG bzwArt 103 Abs 1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten(§ 106 Abs 1 ,§ 112 Abs 2 Satz 2 SGG ) begründet(vglBSG vom 29.4.2021 - B 5 RS 3/21 B - juris RdNr 5 ) .
Mit dem Vortrag der Nichtberücksichtigung der vom SG durchgeführten Inaugenscheinnahme durch das LSG bezeichnet die Klägerin allerdings keinen Gesichtspunkt, der bisher nicht erörtert wurde und mit dem ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen brauchte. Denn die Beklagte hat ausweislich ihrer Berufungsschrift im Berufungsverfahren von Anfang an die Auffassung vertreten, dass eine rechtlich beachtliche Inaugenscheinnahme gar nicht stattgefunden habe. Eine Inaugenscheinnahme in der mündlichen Verhandlung vor dem SG ergebe sich nicht aus dem Protokoll. Diese Auffassung steht in Übereinstimmung mit dem zweiten Leitsatz zu einem Beschluss des BSG vom 31.8.2017( B 2 U 74/17 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 19) , nach dem eine nicht in der Sitzungsniederschrift erwähnte Inaugenscheinnahme als nicht durchgeführt gelte. Die Frage der Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung der Inaugenscheinnahme vor dem SG wurde mithin bereits im Laufe des Verfahrens thematisiert. Unerheblich ist dabei, dass dieser zweite Leitsatz zum Beschluss des BSG vom 31.8.2017 sich nicht als tragender Rechtssatz in den dortigen Gründen wiederfindet und das BSG seine dortige Entscheidung zutreffend nur auf einen Gehörsverstoß unter dem Aspekt der Überraschungsentscheidung gestützt hat. Für einen gewissenhaften Prozessbeteiligten stellt es jedenfalls im vorliegenden Verfahren keine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung dar, dass das LSG die vom SG durchgeführte Inaugenscheinnahme unter Hinweis auf die fehlende Protokollierung in der Sitzungsniederschrift des SG nicht weiter berücksichtigt hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dem LSG in der Sache zu folgen wäre.
Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs unter dem Aspekt der Überraschungsentscheidung legt die Klägerin schließlich insoweit nicht hinreichend dar, als das LSG seine Auffassung auf die sich bei den Akten befindliche Fotodokumentation gestützt hat.
3. Einen Verfahrensmangel bezeichnet die Klägerin auch nicht hinreichend mit der Rüge, die angegriffene Entscheidung sei nicht mit ausreichenden Gründen versehen, weil sie keine Aussage zur Zulässigkeit, zur Aussagekraft oder zum Beweiswert der Inaugenscheinnahme durch das SG und auch keine Begründung dafür enthalte, warum das Berufungsgericht selbst dieses Mittel nicht genutzt habe.
Zwar liegt ein Verstoß gegen die Begründungspflicht(Verfahrensmangel nach§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG ) nicht erst dann vor, wenn überhaupt keine Gründe vorliegen, sondern auch dann, wenn einzelne Ansprüche, Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht behandelt worden sind oder wenn die Erwägungen, die das Gericht in einem entscheidungserheblichen Streitpunkt zum Urteilsausspruch geführt haben, dem Urteil selbst nicht zu entnehmen sind(vglBSG vom 9.9.1993 - 7 RAr 96/92 - BSGE 73, 90, 92 = SozR 3-4100 § 101 Nr 4 S 5 f;BSG vom 11.7.2000 - B 1 KR 14/99 R - SozR 3-1300 § 39 Nr 7 S 8 f = juris RdNr 11 sowie RdNr 12 mwN zur Offenlassung der Frage, ob ein Verstoß gegen die Begründungspflicht zugleich ein absoluter Revisionsgrund iS des § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO ist) . Dass solche grundlegenden Begründungselemente fehlen könnten, legt die Klägerin allerdings nicht dar. Wie bereits unter 1. ausgeführt, ist eine hinreichende Begründung dazu, dass das Gericht keine weiteren Ermittlungen vornimmt, grundsätzlich nur erforderlich, wenn es einem ordnungsgemäßen Beweisantrag nicht folgt.
Die Rüge, das Urteil enthalte keine Aussage zur Zulässigkeit, zur Aussagekraft oder zum Beweiswert der Inaugenscheinnahme durch das SG ist vor dem Hintergrund der Ausführungen auf Seite 9 der Entscheidungsgründe nicht plausibel dargelegt. Nicht oder nicht mit ausreichenden Entscheidungsgründen ist ein Urteil nur dann versehen, wenn ihm solche Gründe objektiv nicht entnommen werden können, etwa weil die angeführten Gründe objektiv unverständlich oder verworren sind, nur nichtssagende Redensarten enthalten oder zu einer vom Beteiligten aufgeworfenen, eingehend begründeten und für die Entscheidung - nach der Rechtsansicht des LSG - erheblichen Rechtsfrage nur ausführt, dass diese Auffassung nicht zutreffe. Eine Entscheidung ist dagegen nicht schon dann nicht mit Gründen versehen, wenn das Gericht sich unter Beschränkung auf den Gegenstand der Entscheidung einer bündigen Kürze befleißigt und nicht jeden Gesichtspunkt, der erwähnt werden könnte, abgehandelt hat. Auch ist die Begründungspflicht nicht schon verletzt, wenn die Ausführungen des Gerichts zu den rechtlichen Voraussetzungen und zum tatsächlichen Geschehen aus der Sicht eines Dritten falsch, oberflächlich oder wenig überzeugend sind; selbst dann nicht, wenn dies sogar zutrifft(vglBSG vom 7.10.2021 - B 1 KR 23/21 B - juris RdNr 6 mwN;BSG vom 6.6.2023 - B 12 KR 34/22 B - juris RdNr 7 mwN) .
Das LSG hat ausgeführt: "Indessen ergeben sich aus der Sitzungsniederschrift des SG vom 25.04.2022 keine Anhaltspunkte für eine Inaugenscheinnahme durch die Kammer. Im Übrigen hätte das SG den Beteiligten mitteilen müssen, dass es in eine Beweisaufnahme durch Inaugenscheinnahme der Klägerin eintritt und es hätte den Beteiligten den wesentlichen Inhalt der Beweisaufnahme mitteilen müssen. Dies ist in der Sitzungsniederschrift des SG indessen nicht protokolliert." Die Klägerin führt dazu nur aus, das LSG hätte auch darlegen müssen, warum es selbst auf dieses Beweismittel verzichtet habe und welche Bedeutung es den anderen Beweismitteln im Verhältnis zur Inaugenscheinnahme beimessen wolle. Damit geht die Klägerin nicht auf die implizite Auffassung des LSG ein, dass die Protokollierung der Inaugenscheinnahme Voraussetzung für eine Verwertbarkeit im Prozess sei. Sie legt nicht dar, warum dadurch die Begründungspflicht im Hinblick auf dieses Beweismittel verletzt worden sein könnte.
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab(§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG ) .
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des§ 193 SGG .
Fundstellen
Dokument-Index HI16461455 |