Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Revision. Verfahrensmangel bei vorgeschriebenen Erledigungssoll. Geltendmachung einer Verfassungswidrigkeit

 

Orientierungssatz

1. Aus einem beim SG vorgeschriebenen Erledigungssoll von "330 Erledigungen pro Jahr" ergibt sich noch nicht, daß dem SG in einer Sache ein Verfahrensmangel unterlaufen ist.

2. Die formgerechte Geltendmachung der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift erfordert nicht nur die Benennung der verfassungsrechtlichen Norm, gegen die das Gesetz verstoßen haben soll, sondern auch die Darlegung, in welcher Weise das einfache Gesetz mit den vom Beschwerdeführer genannten Normen des GG nicht vereinbar sein soll. Dabei ist sowohl auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung als auch die vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegten Überlegungen einzugehen.

 

Normenkette

SGG § 150 Nr 2, § 160 Abs 2 Nr 1, § 160 Abs 2 S 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 28.08.1990; Aktenzeichen L 13 Kg 142/89)

 

Tatbestand

Die Beklagte hat mit dem durch den Bescheid vom 12. Januar 1988 geänderten Bescheid vom 15. September 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 1988 das Begehren des Klägers auf Zahlung des Kindergeldes für seine Tochter Anja während der Ableistung eines Praktikums für die Zeit vom 15. Oktober 1987 bis August 1988 abgelehnt.

Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die Klage durch Urteil vom 19. Mai 1989 abgewiesen und den Kläger dahin belehrt, daß die Berufung nur nach Maßgabe des § 150 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft sei. Der Kläger hat zur Begründung seiner im Juli 1989 beim Landessozialgericht (LSG) eingegangenen Berufung geltend gemacht, die Berufung sei nicht gemäß § 27 Abs 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) ausgeschlossen, weil auf den Zeitpunkt des Erlasses des SG-Urteils abzustellen sei. Zudem habe in dieser Streitsache auch nicht der gesetzliche Richter entschieden, weil neben den Arbeitnehmervertretern nur Arbeitgeber und nicht auch sonstige Selbständige als ehrenamtliche Richter zur Mitwirkung berufen seien. Zumindest verstoße die Nichtzulassung der Revision gegen das geltende Recht. Das SG habe zu Unrecht die grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreites verneint; es habe die Berufung auch gemäß § 150 Nr 1 SGG zulassen müssen, weil seine Entscheidung von der Rechtsprechung des erkennenden Senats abweiche. Außerdem stelle das Urteil des SG auch eine Überraschungsentscheidung dar, weil das SG den Kläger erst in der mündlichen Verhandlung auf das Urteil des erkennenden Senats vom 3. November 1987 (BSGE 62, 239) hingewiesen habe. Schließlich habe das SG die Berufung auch willkürlich nicht zugelassen.

Das LSG hat mit dem dem Kläger am 31. Oktober 1990 zugestellten Urteil vom 28. August 1990 die Berufung als unzulässig verworfen: Das SG sei zutreffend besetzt gewesen. Das Rechtsmittel sei auch gemäß § 27 Abs 2 BKGG ausgeschlossen. Das SG habe die Berufung auch nicht zulassen müssen. Ob die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe, sei vom Berufungsgericht nicht zu prüfen. Die Nichtzulassung der Berufung sei auch nicht willkürlich gewesen. Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel liege nicht vor; er sei auch durch die Entscheidung des SG nicht überrascht worden.

Hiergegen richtet sich die am 21. November 1990 erhobene Nichtzulassungsbeschwerde. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel innerhalb der verlängerten Begründungsfrist am 28. Dezember 1990 im wesentlichen mit der Wiederholung seines Sachvortrages aus dem Berufungsverfahren begründet.

 

Entscheidungsgründe

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen, weil der Kläger entgegen der von ihm vertretenen Auffassung Zulassungsgründe in dem in § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gesetzlich vorgesehenen Umfang nicht vorgetragen hat.

Da das LSG die Berufung als unzulässig verworfen hat, war vom erkennenden Senat im Beschwerdeverfahren in erster Linie zu prüfen, ob diese Entscheidung zutreffend ist. Das ist der Fall:

1.

Entgegen der Meinung des Klägers war die Berufung gemäß § 27 Abs 2 BKGG ausgeschlossen, weil sie nur das Ende des Anspruchs auf Kindergeld betraf. Für die Zulässigkeit des Rechtsmittels ist auf den Zeitpunkt der Einlegung desselben abzustellen (st Rspr, BSGE 16, 134; 37, 34). Hingegen kommt es nicht, worauf der Kläger selbst abhebt, darauf an, wann die Klage erhoben wurde. Bei Einlegung der Berufung seitens des Klägers im Juli 1989 war nurmehr Kindergeld vom Oktober 1987 bis August 1988 streitig.

2.

Das LSG ist zunächst richtig davon ausgegangen, daß die Nichtzulassung der Berufung durch das SG für das LSG grundsätzlich bindend ist und daß es deshalb auch nicht darauf ankommt, ob, wie der Kläger meint, das SG die Berufung aus einem der in § 150 Nr 1 SGG genannten Gründe hätte zulassen müssen. Auch ein "glatter Gesetzesverstoß", der dem SG nach Ansicht des Klägers unterlaufen ist, änderte daran nichts. Nur wenn das SG die Berufung willkürlich nicht zugelassen hat, hätte das LSG das Rechtsmittel als zulässig behandeln müssen (vgl dazu BSG, Urteil vom 18. Dezember 1985 - 9a RVs 8/85 -, SozR 1500 § 150 Nr 27). Der Kläger hat aber Umstände, aus denen sich ergibt, daß das SG den Zugang des Klägers zum LSG in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert oder ausgeschlossen hat (BSG aaO), nicht dargetan. Infolgedessen ist die Entscheidung des LSG zutreffend, soweit es das Vorliegen der Voraussetzungen des § 150 Nr 1 SGG nicht geprüft hat.

3.

Das LSG hat auch zutreffend entschieden, daß dem SG die vom Kläger gerügten Verfahrensmängel nicht unterlaufen sind. Denn die Zulassung nach § 150 Nr 2 SGG setzt voraus, daß der Verfahrensmangel tatsächlich vorliegt (st Rspr, BSG SozR 1500 § 150 Nr 28 mwN).

Zunächst hat es mit Recht festgestellt, daß das SG-Urteil keine Überraschungsentscheidung war; eine solche Entscheidung hätte zwar einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) zur Folge. Dieser ist indessen zu verneinen. Denn selbst nach dem Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz hatte der Vorsitzende des SG auf die neuere Rechtsprechung des BSG verwiesen und damit Rechtserwägungen angestellt, zu denen er sich in der mündlichen Verhandlung vor dem SG hatte äußern können und worauf letztendlich das SG seine Entscheidung gestützt hat. Dann kann aber von einer Überraschungsentscheidung nicht mehr die Rede sein (BSG SozR 1500 § 150 Nr 28).

Zu Recht nicht als Mangel des SG-Verfahrens hat das LSG es auch angesehen, daß, wie der Kläger geltend gemacht hat, beim SG ein Erledigungssoll von "330 Erledigungen pro Jahr vorgeschrieben" sei. Selbst wenn das der Fall wäre, würde sich daraus noch nicht, wie der Kläger meint, ergeben, daß dem SG in seiner Sache ein Verfahrensmangel unterlaufen ist.

Schließlich hat das LSG zu Recht auch die Rüge des Klägers als unzutreffend angesehen, das SG sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, weil in seiner Sache auf der Arbeitgeberseite kein "Freiberufler" beteiligt gewesen sei. Die Richtigkeit der Besetzung des SG folgt aus § 12 Abs 1 SGG. Da, wie das LSG entschieden hat, Arbeitgeber in diesem Sinne auch freiberuflich Tätige sind, ist nicht erkennbar, inwiefern die Besetzungsregelung des Sozialgerichtsgesetzes überhaupt und speziell im Falle des Klägers gegen die Vorschriften des Art 1 Abs 1 Satz 2, Art 97 Abs 2 des Grundgesetzes (GG) verstoßen haben solle.

4.

Mit der Wiederholung des letztgenannten Teiles seiner Berufungsbegründung zur Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde hat der Kläger auch die Voraussetzungen des § 160a Abs 2 SGG nicht hinreichend dargetan.

Der Kläger hat zunächst nicht dargelegt, weshalb das LSG aus seiner - das Revisionsgericht bindenden - rechtlichen Sicht die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung in der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hätte zulassen müssen. Ebensowenig, wie es überprüfbar ist, ob das SG einen Zulassungsgrund iS des § 150 Nr 1 SGG zu Unrecht verneint hat, ist es für das Revisionsgericht überprüfbar, ob das LSG von seinem rechtlichen Ausgangspunkt einen der Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 Nr 1 oder § 160 Abs 2 Nr 2 SGG zu Recht verneint hat. Gründe dafür, daß das LSG etwa die Revision willkürlich nicht zugelassen hätte, hat der Kläger nicht vorgetragen. Im übrigen hat der Kläger mit der Wiederholung seiner Berufungsbegründung, soweit es sich um die vermeintlichen Verfahrensmängel des Umfanges der "vorgeschriebenen" Erledigungen und der Zusammensetzung des Gerichts handelt, weder eine Divergenz der Rechtsprechung des LSG zur Rechtsprechung des BSG (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) geltend gemacht noch die Grundsätzlichkeit seiner Rechtssache vorgetragen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).

Hinsichtlich der von ihm erhobenen Divergenzrüge beruft sich der Kläger zwar auf zwei Entscheidungen des erkennenden Senats. Er legt aber nicht dar, für welche konkrete Rechtsfrage eine das Berufungsurteil tragende Abweichung in dessen rechtlichen Darlegungen enthalten ist (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 14, 21, 29). Dazu wäre es notwendig gewesen, den von der Rechtsprechung des BSG abweichenden Rechtssatz des LSG herauszuarbeiten. Das ist indessen nicht geschehen. Es genügt nicht, daß der Beschwerdeführer behauptet, die Vorinstanz habe sich nicht an diese Urteile gehalten oder bestimmte von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelte Rechtsgrundsätze nicht beachtet.

Auch die Darlegung des Klägers, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) genügt den Darlegungsanforderungen nicht. Es ist zwar allgemein anerkannt (vgl BSG in SozR 1500 § 160a Nr 17 mwN), daß die Frage der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Norm die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung einer Rechtssache rechtfertigen kann. Die Beschwerdebegründung erfüllt aber nicht die an die Darlegungspflicht dieses Zulassungsgrundes gestellten Anforderungen. Die formgerechte Geltendmachung der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift erfordert nämlich nicht nur die Benennung der verfassungsrechtlichen Norm, gegen die das Gesetz verstoßen haben soll, sondern auch die Darlegung, in welcher Weise das einfache Gesetz mit den vom Beschwerdeführer genannten Normen des GG nicht vereinbar sein soll. Dabei ist sowohl auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung als auch die vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegten Überlegungen einzugehen.

Eine Begründung in dieser Form ist der Beschwerdeführer schuldig geblieben. Alles das, was er in erster Instanz zu § 12 SGG vorgetragen hat und in zweiter Instanz zu § 35 SGG iVm § 12 SGG wiederholt, gibt nicht die Unvereinbarkeit dieser Regelungen mit den vom Kläger angeführten Vorschriften des GG wieder. Es wird nicht erkennbar, weshalb und inwiefern in der gesetzlichen Abgrenzung des Begriffes des Arbeitgebers die Bestimmung freiberuflich Tätiger zu ehrenamtlichen Richtern auf der Arbeitgeberseite ausgeschlossen werden soll, noch inwiefern diese Regelungen gegen Art 101 Abs 1 Satz 1 GG verstoßen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651571

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