Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 27.11.1997) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 27. November 1997 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte (unter Abänderung des Bescheides vom 11. April 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 1994) verurteilt, dem Kläger unter Zugrundelegung eines am 25. Juli 1991 eingetretenen Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit (BU) die gesetzlichen Leistungen zu gewähren, im übrigen die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen BU (nach Abschluß der Rehabilitationsmaßnahme am 9. August 1993) ergebe sich aus § 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch. Der Kläger könne seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Busfahrer im sog Einmannturnus mit Inkassotätigkeit nicht mehr wahrnehmen. Diese Tätigkeit sei den anerkannten Ausbildungsberufen mit einer mehr als zweijährigen Ausbildung tarifvertraglich qualitativ gleichgestellt. Die entsprechend hohe tarifliche Einstufung (Lohngruppe F 1a des Zusatztarifvertrages Berliner Verkehrs-Betriebe ≪BVG≫ Nr 2 zum BMT-G vom 18. Juni 1991) beruhe nicht auf qualitätsfremden Erwägungen; vielmehr habe sie den besonders schwierigen Bedingungen (ua Wechsel von Früh- in Spätschicht, hohes Verkehrsaufkommen, besondere Umsicht, hohe Belastung, Verantwortlichkeit für die Sicherheit der Fahrgäste, Bereitschaft zur Wochenend- und Feiertagsarbeit) Rechnung getragen. Verweisungstätigkeiten als Verkaufsschaffner, Schaffner im Kontrolldienst oder Qualitätskontrolleur kämen bereits aus gesundheitlichen Gründen nicht in Betracht. Auf die Tätigkeiten eines Sortierers von Kleinteilen, eines Parkhauswächters, eines Bürohilfsarbeiters oder eines einfachen Pförtners könne der Kläger – abgesehen von medizinischen Gründen – nicht zumutbar verwiesen werden, weil es sich um ungelernte Tätigkeiten handele. Andere, dem Kläger nach seinem Restleistungsvermögen zumutbare Verweisungstätigkeiten seien von der Beklagten nicht benannt worden. Dem Gericht seien entsprechende Tätigkeiten auch nicht bekannt. Überdies sei es nicht verpflichtet, von sich aus Beweise „ins Blaue hinein” bezüglich weiterer möglicher Verweisungsberufe zu erheben (Urteil vom 27. November 1997).
Gegen dieses Urteil, in dem die Revision nicht zugelassen wurde, richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten, mit der Divergenz und grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht werden.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht in der erforderlichen Weise dargelegt worden sind (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder, anders gewendet, das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aufgestellt hat (vgl BAG AP Nr 11 zu § 72a ArbGG 1979 Divergenz; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, Kap IX, RdNrn 81 ff; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNrn 163 ff; Meyer-Ladewig, Komm zum SGG, 6. Aufl 1998, § 160 RdNr 13). Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn das Urteil des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Bezogen auf die Darlegungspflicht für eine Divergenzrüge, bedeutet das: Die Beschwerdebegründung muß erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz im herangezogenen Urteil enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 14, 21, 29 und 67). Diesen Anforderungen wird das Beschwerdevorbringen der Beklagten nicht gerecht.
Die Beklagte nimmt in ihren umfangreichen Ausführungen zwar auf mehrere Urteile des BSG (BSG vom 21. Juli 1987 – 4a RJ 39/86 – SozR 2200 § 1246 Nr 143, 7. Oktober 1987 – 4a RJ 91/86 – SozR 2200 § 1246 Nr 149, 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 13, 12. September 1991 – 5 RJ 60/90 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 18, 27. Februar 1997 – 13 RJ 5/96 –, 24. April 1997 – 13 RJ 59/96 – und 30. Juli 1997 – 5 RJ 8/96 –) mit der Begründung Bezug, die Entscheidung des LSG weiche von ihnen ab, weil der Tarifvertrag der Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) für das Verkehrspersonal keine Facharbeiterlohngruppe enthalte; auch hätte das LSG nicht allein die tarifliche Einstufung des Klägers als Maßstab für seine Einordnung in das Mehrstufenschema zugrunde legen dürfen, denn ihr komme lediglich Indizwirkung zu; überdies ließen hohe Anforderungen an Verantwortung und Sorgfalt bei einem Berufskraftfahrer nicht auf Facharbeiterqualität schließen. Diesem Vorbringen ist indes nicht zu entnehmen, welcher im Urteil des LSG enthaltene (abstrakte) Rechtssatz einem (abstrakten) Rechtssatz in einem der vorgenannten BSG-Urteile entgegenstehen sollte. Vielmehr wendet sich die Beklagte mit ihrem Vortrag im Grunde allein gegen die (konkrete) Rechtsanwendung des LSG im vorliegenden Einzelfall. Unterstrichen wird dies durch Formulierungen der Beklagten wie: „Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des 4a-Senates des BSG wäre der Kläger jedoch noch nicht einmal als Angelernter im oberen Bereich anzusehen, da er nicht in voller Breite über den Wissens- und Könnensstand eines ausgebildeten Berufskraftfahrers verfügen dürfte”. Diese Kritik an der (konkreten) Rechtsanwendung des LSG, die das Beschwerdevorbringen durchzieht, mag in der Sache berechtigt sein. Doch ist sie im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Mit bloßen Angriffen gegen die inhaltliche Richtigkeit der Berufungsentscheidung läßt sich eine Divergenzrüge nicht begründen; denn Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist lediglich, ob die Revision zuzulassen ist, nicht, ob das Berufungsgericht in der Sache richtig entschieden hat (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
Auch grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) ist von der Beklagten nicht in der gebotenen Weise dargetan worden.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die – über den Einzelfall hinaus – aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muß daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung sowie des Schrifttums angeben, welche Fragen sich stellen, daß diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und daß das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten läßt (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nrn 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65). Ein Beschwerdeführer muß mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, folgendes aufzeigen: (1) eine konkrete Rechtsfrage; (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit; (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Die Beschwerdeführerin mißt folgenden drei Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung bei:
- In welche Stufe des Mehrstufenschemas des BSG sind Busfahrer im Personennahverkehr, die für die Ausübung ihrer Tätigkeit weniger als drei Monate Anlernzeit benötigen, einzustufen, wenn der Tarifvertrag, nach dem sie entlohnt werden, keine Unterscheidung zwischen ungelernten und angelernten Arbeitern sowie Arbeitern mit Facharbeiterausbildung kennt?
- Darf in einem derartigen Fall ein Tarifvertrag, der bei demselben Arbeitgeber für Arbeiter, die nicht dem Verkehrspersonal angehören, gilt, für die Einordnung eines Busfahrers in das Mehrstufenschema des BSG herangezogen werden?
- Kommt die Einstufung eines Berufskraftfahrers ohne abgeschlossene Ausbildung als Facharbeiter aufgrund der Höhe seines Tariflohnes auch dann noch in Betracht, wenn eine der beiden maßgebenden Tarifvertragsparteien ausdrücklich erklärt, daß es sich bei diesen Berufskraftfahrern weder um gelernte Arbeiter noch um Facharbeiter handelt und durch die Höhe der Entlohnung auch keinesfalls eine Gleichstellung mit diesen beabsichtigt gewesen sei?
Damit mögen drei Rechtsfragen hinreichend klar formuliert worden sein. Indes mangelt es in bezug auf alle drei aufgeworfenen Rechtsfragen an der Darlegung der (abstrakten) Klärungsbedürftigkeit. Insbesondere hat die Beschwerdeführerin es versäumt, sich mit den insoweit einschlägigen Entscheidungen des BSG vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 59/90 – und – 5 RJ 82/89 – (SozR 3-2200 § 1246 Nr 13), 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 11/90 – und 14. Oktober 1992 – 5 RJ 10/92 – (SozR 3-2200 § 1246 Nr 28) auseinanderzusetzen. Ausführungen dazu, weshalb die aufgeworfenen Rechtsfragen trotz der vorerwähnten BSG-Rechtsprechung klärungsbedürftig geblieben bzw wieder klärungsbedürftig geworden sind, fehlen gänzlich.
Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob die Beschwerdeführerin – was ebenfalls zweifelhaft ist – die (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) aller drei von ihr aufgeworfenen Rechtsfragen aufgezeigt hat. „In bezug auf die zu 3) aufgeworfene Rechtsfrage ergeben sich insoweit insbesondere deswegen Bedenken, weil eine Beantwortung dieser Rechtsfrage nach dem eigenen Vorbringen der Beschwerdeführerin ohne Ermittlung neuer Tatsachen nicht möglich ist.”
Schließlich hat die Beschwerdeführerin, worauf es ebenfalls nicht mehr ankommt, nicht aufgezeigt, daß die von ihr aufgeworfenen Rechtsfragen über den Einzelfall hinaus allgemeine Bedeutung haben. Hierfür wären substantiierte Darlegungen notwendig, aus denen hervorgeht, daß und weshalb die angestrebte Entscheidung über den Einzelfall hinaus für die Rechtsordnung bedeutsam ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 39). Letzteres ist nicht selbstverständlich. Vorliegend hat die Beschwerdeführerin nicht einmal vorgebracht, daß der Ausgang des Rechtsstreits für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle Bedeutung habe. Erst recht hat sie nicht solche Streitigkeiten konkret bezeichnet, für die der vorliegende Rechtsstreit relevant sein soll. Sie hat mithin nicht, wie erforderlich (vgl hierzu etwa Meyer-Ladewig, aaO, § 160 RdNrn 6 ff), dargelegt, daß sich Fragen gleicher Art in der Praxis in einer Vielzahl von Fällen stellen.
Entspricht die Begründung der Beschwerde sonach nicht den gesetzlichen Anforderungen, muß die Beschwerde – ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter – in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig verworfen werden (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 1 und 5; vgl auch BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 30).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen