Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde: Prozesskostenhilfe. Hinreichende Erfolgsaussicht. Verfahrensmangell. Erfolg. Unterliegen. Ergänzungsurteil. Versehentliches Übergehen. Aufrechterhaltener Klageanspruch
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Prüfung, ob PKH für ein Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zusteht, ist die hinreichende Erfolgsaussicht nicht allein danach zu beurteilen, ob die Beschwerde – etwa aufgrund eines Verfahrensmangels – Aussicht auf Erfolg hat, sondern PKH ist auch dann zu versagen, wenn der Antragsteller in der Sache letztlich nicht erreichen kann, was er mit dem Prozess erreichen will, wenn die Revision also im Falle ihrer Zulassung nicht zum Erfolg führen kann oder der Antragsteller selbst nach einer Zurückverweisung der Sache an das LSG unterliegen muss.
2. PKH hat nicht den Zweck, Bedürftigen die Durchführung solcher Verfahren auf Staatskosten zu ermöglichen, die im Ergebnis nicht zu ihrem Vorteil ausgehen können.
3. Grundvoraussetzung für ein Ergänzungsurteil ist das versehentliche Übergehen eines von der Klägerin tatsächlich erhobenen und bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Klageanspruchs.
Normenkette
SGG § 73 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, Abs. 4, 6 S. 7, § 73a Abs. 1 S. 1, §§ 123, 140 Abs. 1 S. 1, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 160 Abs. 2; ZPO §§ 85, 114, 115 Abs. 1-2, § 121; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; SGB X § 54
Verfahrensgang
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 18.09.2020; Aktenzeichen S 10 R 2345/20) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 22.02.2021; Aktenzeichen L 8 R 3374/20) |
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Februar 2021 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Z aus A beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt die Verzinsung von Rentenbeträgen, die der beklagte Rentenversicherungsträger vorübergehend einbehalten und später nachgezahlt hat.
Nachdem die Klägerin, die seit 2013 Regelaltersrente bezieht, im Frühjahr 2018 nicht mehr erreichbar war und Nachforschungen über ihren Verbleib bei der bisherigen Wohngemeinde, der Krankenkasse, der Bank und dem damals für sie zuständigen SG Augsburg ohne Ergebnis blieben, stellte die Beklagte die Rentenzahlungen im Hinblick auf ein möglicherweise zu besorgendes Versterben der Klägerin ab Juli 2018 (Fälligkeit zum Monatsende) ein. Am 15.1.2019 meldete sich die Klägerin bei der Beklagten, teilte ihre derzeitige Wohnungslosigkeit mit und gab ein Postamt in Karlsruhe zur postlagernden Zustellung von Schriftstücken an. Daraufhin wies die Beklagte am 11.2.2019 die Zahlung der Altersrente erneut an, behielt aber den Betrag von 4517,28 Euro für die Monate Juli 2018 bis Februar 2019 im Hinblick auf noch bestehende Forderungen gegen die Klägerin zunächst ein. Am 5.3.2019 veranlasste die Beklagte eine Nachzahlung in Höhe von 3093,27 Euro. Der Klage auf Zahlung des restlichen Betrags von 1424,01 Euro hat das SG Karlsruhe in Höhe von 578,52 Euro (hinsichtlich des Einbehalts überzahlter Zuschüsse zur freiwilligen Krankenversicherung) stattgegeben und sie im Übrigen (hinsichtlich offener Beitragsforderungen von 840,49 Euro für die Kranken- und Pflegepflichtversicherung) abgewiesen (Urteil vom 12.9.2019 - S 10 R 771/19).
Die Klägerin hat am 16.9.2019 beim SG eine Ergänzung des Urteils vom 12.9.2019 beantragt. Sie bzw ihr Bruder, der sie im Termin vertrat, habe in der mündlichen Verhandlung versäumt, auch die gesetzliche Verzinsung der einbehaltenen Rentennachzahlung zu beantragen. Das SG hat auf den im Schreiben vom 16.9.2019 gestellten Antrag, "durch Urteilsergänzung (§ 140 SGG) auf die zugestandene Rentennachzahlung von 582,52 Euro den gewollten Anspruch auf deren Verzinsung gemäß § 44 Abs. 1 SGB I von 4 % im Urteil nachträglich ergänzend aufzunehmen", mit Urteil vom 18.9.2020 (S 10 R 2345/20) "die Klage abgewiesen". Die Voraussetzungen für eine Urteilsergänzung lägen nicht vor, weil ausweislich des Protokolls und des Tatbestands des Urteils vom 12.9.2019 ein Anspruch auf Verzinsung der Rentennachzahlung nicht erhoben worden sei. Eine Berufung gegen diese Entscheidung hat das SG nicht zugelassen. Mit Schreiben vom 20.10.2020 an das LSG hat die Klägerin sowohl Berufung (L 8 R 3374/20) als auch Nichtzulassungsbeschwerde (L 8 R 346/21 NZB) gegen das Urteil vom 18.9.2020 eingelegt. Das LSG hat die Berufung (L 8 R 3374/20) mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 22.2.2021 als unzulässig verworfen, weil das Rechtsmittel in Ermangelung der erforderlichen Zulassung nicht statthaft sei. Mit gesondertem Beschluss vom 25.2.2021 (L 8 R 346/21 NZB) hat das LSG nachfolgend die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung zurückgewiesen. Beide Entscheidungen wurden der Klägerin am 17.3.2021 zugestellt.
Die Klägerin hat zudem bereits mit Schreiben vom 2.12.2019 Berufung gegen das Urteil des SG vom 12.9.2019 (S 10 R 771/19) eingelegt (Az des LSG für dieses Verfahren: L 8 R 4082/19). Dabei hat sie unter Ziffer 2 eine Verurteilung der Beklagten zur Auszahlung von 840,49 Euro zuzüglich Zinsen seit dem 1.7.2018 beantragt. Ziffer 3 ihrer Anträge betraf die Verzinsung der als Mahngebühr einbehaltenen Rente in Höhe von 5 Euro seit dem 1.7.2018. Außerdem hat die Klägerin unter Ziffer 4 beantragt, die Beklagte zu verurteilen, die im SG-Urteil zugesprochene Rentennachzahlung in Höhe von "583,52 Euro" (zutreffend wohl: 578,52 Euro) mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1.7.2018 zu verzinsen. Diesen Antrag hat sie auf Seite 8 ihres Schreibens vom 2.12.2019 näher begründet. Die Beklagte hat sodann unter dem 1.2.2021 zu dem Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ein Vergleichsangebot unterbreitet (Auszahlung von 1. 840,49 Euro sowie 2. der 5 Euro Mahngebühr, Verzinsung der Nachzahlung zu Ziffer 1 und 2 mit 4 % ab dem 1.1.2019, Erstattung der außergerichtlichen Kosten in voller Höhe und übereinstimmende Erledigungserklärung des Rechtsstreits im Übrigen). Die Klägerin hat das Vergleichsangebot unter dem 12.2.2021 angenommen und zugleich den Rechtsstreit für erledigt erklärt.
Dennoch hat die Klägerin mit Schreiben vom 13.4.2021, das am 19.4.2021 (Montag) beim BSG eingegangen ist, Prozesskostenhilfe (PKH) für ein Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das ihr am 17.3.2021 zugestellte Urteil des LSG vom 22.2.2021 (L 8 R 3374/20) unter Beiordnung eines von ihr benannten Rechtsanwalts beantragt. Sie beruft sich auf einen Verfahrensmangel. Ihre Berufung gegen das Ergänzungsurteil sei zu Unrecht als unzulässig verworfen worden. Nach einer in der Kommentarliteratur vertretenen Ansicht seien die Beschwerdewerte aus dem ursprünglichen Urteil und dem Ergänzungsurteil zusammenzurechnen; damit sei die Berufungssumme von 750 Euro überschritten. Ihr Anspruch auf Verzinsung des vom SG zugesprochenen Teilbetrags von 578,52 Euro müsse in einem Berufungsverfahren anerkannt werden.
II
Der Antrag auf Bewilligung von PKH ist abzulehnen.
Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH bewilligt, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
1. Die Klägerin hat innerhalb der Rechtsmittelfrist einen vollständigen PKH-Antrag samt Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingereicht. Danach steht ihre wirtschaftliche Situation einer Bewilligung von PKH für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht entgegen. Die anfallenden Kosten für einen Rechtsanwalt (vgl § 73 Abs 4 SGG) könnte sie nur mit von ihr zu leistenden Monatsraten zu 55 Euro aufbringen (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 115 Abs 1 und 2 ZPO).
2. Es fehlt jedoch an hinreichenden Erfolgsaussichten der von der Klägerin in dieser Sache beabsichtigten Nichtzulassungsbeschwerde. Nach § 160 Abs 2 SGG darf die Revision nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), die Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). Bei der Prüfung, ob PKH für ein Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zusteht, ist die hinreichende Erfolgsaussicht aber nicht allein danach zu beurteilen, ob die Beschwerde - etwa aufgrund eines Verfahrensmangels - Aussicht auf Erfolg hat. PKH ist auch dann zu versagen, wenn der Antragsteller in der Sache letztlich nicht erreichen kann, was er mit dem Prozess erreichen will, wenn die Revision also im Falle ihrer Zulassung nicht zum Erfolg führen kann oder der Antragsteller selbst nach einer Zurückverweisung der Sache an das LSG unterliegen muss (stRspr, vgl ua BSG Beschluss vom 26.10.1994 - 8 BH ≪Kn≫ 1/94 - SozR 3-6610 Art 5 Nr 1 S 2; BSG Beschluss vom 20.12.2016 - B 5 R 218/16 B - juris RdNr 4; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 13.7.2005 - 1 BvR 1041/05 - SozR 4-1500 § 73a Nr 3 RdNr 10 f). PKH hat nicht den Zweck, Bedürftigen die Durchführung solcher Verfahren auf Staatskosten zu ermöglichen, die im Ergebnis nicht zu ihrem Vorteil ausgehen können. Das Recht eines jeden Bürgers auf effektiven und gleichen Rechtsschutz (Art 3 Abs 1 iVm Art 19 Abs 4 GG) ist vielmehr auf die Verwirklichung des materiellen Rechts bezogen (vgl BVerfG aaO RdNr 7, 10).
Unabhängig von der prozessualen Frage, ob für die Beurteilung des Überschreitens der Berufungssumme von 750 Euro (vgl § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG) isoliert nur auf den Wert des Beschwerdegegenstands eines Ergänzungsurteils abzustellen ist oder eine Zusammenrechnung mit dem Beschwerdegegenstand des Ausgangsurteils erfolgen muss (zum Streitstand vgl Schütz in jurisPK-SGG, § 140 RdNr 28, Stand der Einzelkommentierung 5.4.2018), kann die Rechtsverfolgung der Klägerin gegen das LSG-Urteil L 8 R 3374/20 vom 22.2.2021 in der Sache aus zwei Gründen keinen Erfolg haben:
a) Das LSG ist in dem angefochtenen Urteil nicht nur von der Unzulässigkeit der Berufung ausgegangen, sondern hat darüber hinaus auch ausgeführt, das SG habe den Antrag der Klägerin auf Ergänzung des Urteils vom 12.9.2019 zu Recht abgelehnt. Jedenfalls die letztgenannte Rechtsansicht des LSG trifft zu. Nach § 140 Abs 1 Satz 1 SGG ist auf Antrag ein Urteil zu ergänzen, wenn es "einen von einem Beteiligten erhobenen Anspruch" ganz oder teilweise übergangen hat. Die Klägerin hat in ihrem Antrag auf Ergänzung vom 16.9.2019 selbst ausgeführt, dass es "die Klägerseite in Vertretung deren Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung am 12.09.2019 versäumt" habe, "bei der Stellung der Anträge die gesetzliche Verzinsung auf die einbehaltene Rentennachzahlung (1.424,01 €) zu beantragen". Damit fehlt es an der Grundvoraussetzung für ein Ergänzungsurteil, nämlich das versehentliche Übergehen eines von der Klägerin tatsächlich erhobenen und bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Klageanspruchs (vgl BSG Beschluss vom 2.4.2014 - B 3 KR 3/14 B - SozR 4-1500 § 140 Nr 2 RdNr 10; BSG Beschluss vom 23.6.2016 - B 3 KR 4/16 B - SozR 4-1500 § 140 Nr 3 RdNr 6). Dass die Klägerin bzw ihr Bevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung einen Antrag auf Verzinsung eigentlich hätte stellen wollen, dies aber bei der Antragstellung "übersehen" hat, reicht nicht aus. Das Gericht darf nur über tatsächlich erhobene Ansprüche entscheiden (vgl § 123 SGG). Wird ein Anspruch vom Bevollmächtigten zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht mehr geltend gemacht, muss sich die Klägerin das Verhalten ihres Bevollmächtigten zurechnen lassen (vgl § 73 Abs 2 Satz 2 Nr 2, Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 ZPO).
b) Ungeachtet dieses verfahrensrechtlichen Gesichtspunkts will die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde letztlich einen Anspruch auf Verzinsung auch des von der Beklagten ursprünglich einbehaltenen Teilbetrags von 578,52 Euro zuzüglich 5 Euro Mahngebühr durchsetzen. Diesen Anspruch hat sie, noch ehe das LSG über ihre gesondert eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde und die Berufung gegen das ablehnende Ergänzungsurteil des SG entschieden hatte, bereits in dem Berufungsverfahren L 8 R 4082/19 zum Gegenstand des Verfahrens gemacht (vgl Antrag Ziffer 3 und 4 sowie Abschnitt III des Schriftsatzes vom 2.12.2019, Bl 13 LSG-Akte). Nachfolgend hat die Beklagte unter dem 1.2.2021 ein Vergleichsangebot unterbreitet, das sowohl eine Nachzahlung der einbehaltenen 5 Euro (für die Mahngebühr) als auch eine Verzinsung dieses Betrags sowie von 840,49 Euro mit 4 % ab 1.1.2019, jedoch keine Verzinsung des weiteren Teilbetrags von 578,52 Euro vorsah. Die Klägerin hat dieses Vergleichsangebot im Rahmen des für einen Vergleichsabschluss charakteristischen gegenseitigen Nachgebens am 12.2.2021 vorbehaltlos angenommen und den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Damit hat sie einen Vergleichsvertrag (vgl § 54 SGB X) abgeschlossen, dessen Regelungen nunmehr die maßgebliche Rechtsgrundlagen für den von ihm erfassten Regelungsgegenstand enthalten (vgl Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 54 RdNr 20; zur Doppelnatur eines gerichtlichen Vergleichs vgl zuletzt BSG Urteil vom 7.7.2020 - B 12 KR 18/18 R - juris RdNr 12 mwN). Die Klägerin kann auf dieser Grundlage materiell-rechtlich gegenüber der Beklagten keine weitergehenden Ansprüche aufgrund dieses Sachverhalts durchsetzen. Deshalb kann auch ihre Rechtsverfolgung in dem dazu noch anhängigen weiteren Verfahren (L 8 R 3374/20 bzw nachfolgendes Beschwerdeverfahren) letztlich nicht erfolgreich sein.
4. Da der Klägerin mithin PKH für das erstrebte Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht zusteht, kommt auch die Beiordnung des von ihr benannten Rechtsanwalts im Rahmen der PKH nicht in Betracht (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
Fundstellen
Dokument-Index HI14685289 |