Verfahrensgang
Hessisches LSG (Beschluss vom 16.04.1996) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluß des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. April 1996 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin ist seit Mitte Mai 1991 als selbständige Krankengymnastin tätig, beschäftigt jedoch keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer. Sie behandelt Patienten auf ärztliche Verordnung. Die Beklagte stellte die Versicherungspflicht der Klägerin in der gesetzlichen Rentenversicherung ab Juni 1991 fest (Bescheid vom 6. Mai 1992 und Widerspruchsbescheid vom 11. September 1992). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Sie meint, die Entscheidung verletze höherrangiges europäisches Recht; diese Frage habe auch grundsätzliche Bedeutung. Die Rechtsprechung des Senats (Beschluß vom 22. Februar 1996 – 12 BK 35/95 – SozR 3-2600 § 2 Nr 1), nach der auch Krankengymnasten der Versicherungspflicht unterliegen, führe zu einer mittelbaren Diskriminierung iS des Art 4 Abs 1 der Richtlinie (RL) 79/7/EWG vom 19. Dezember 1978, da von der Regelung des § 2 Nr 2 des Sozialgesetzbuchs -Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) erheblich mehr Frauen als Männer betroffen würden. Die Klägerin falle als Selbständige in den Anwendungsbereich der Richtlinie. Es sei nicht ersichtlich, warum freiberuflich tätige Ärzte nicht versicherungspflichtig seien, jedoch selbständig tätige Pflegepersonen der Versicherungspflicht unterworfen würden, sofern sie keine Arbeitnehmer beschäftigen. Insbesondere sei ein sozialpolitisches legitimes Ziel iS der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu Art 4 Abs 1 der RL nicht ersichtlich.
Die Beschwerde ist unzulässig. Die Begründung entspricht nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht ausreichend dargelegt ist. Dargelegt iS des Gesetzes ist die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nur, wenn eine klärungsbedürftige, dh zweifelhafte Rechtsfrage bezeichnet und aufgezeigt wird, daß sie klärungsfähig ist. Dazu sind Ausführungen erforderlich, inwiefern die Beantwortung der Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 60; SozR 3-1500 § 160a Nr 16). Insbesondere die Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage ist in der Beschwerdebegründung nicht schlüssig dargelegt.
Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH steht Art 4 Abs 1 der RL vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79/7, ABl L 6 vom 10. Januar 1979 S 24) der Anwendung einer nationalen Maßnahme entgegen, die zwar neutral formuliert ist, tatsächlich aber einen wesentlich höheren Prozentsatz Frauen als Männer benachteiligt, sofern diese Maßnahme nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (vgl EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995 – C-444/93 – SozR 3-6083 Art 4 Nr 12 mwN). Die mit der Beschwerde aufgeworfene Rechtsfrage einer mittelbaren Diskriminierung stellt sich demnach nur, wenn in tatsächlicher Hinsicht feststeht, daß von der Versicherungspflicht nach § 2 Nr 2 SGB VI ein wesentlich höherer Prozentsatz Frauen als Männer betroffen wird. Die Beschwerde behauptet zwar, daß eine solche Betroffenheit gegeben sei. Damit hat sie ihrer Darlegungspflicht jedoch nicht genügt; denn es handelt sich nicht um eine allgemein bekannte Tatsache, die der Senat als gesicherte Erkenntnis ohne Ermittlungen seiner Entscheidung zugrunde legen könnte. Das ergibt sich zum einen schon daraus, daß bisher ungeklärt ist, in welchem Verhältnis Krankengymnasten und Krankengymnastinnen unter Einschluß der unter der für diesen Berufszweig seit dem 1. Januar 1995 geltenden Berufsbezeichnung tätigen Physiotherapeuten (vgl § 1 Nr 2 des Masseur- und Physiotherapeutengesetzes ≪MPhG≫ vom 26. Mai 1994 ≪BGBl I 1084≫) von der Versicherungspflicht betroffen werden. Die Unsicherheit folgt zum anderen daraus, daß der für den Vergleich maßgebende Personenkreis bisher nicht abgegrenzt ist; in Betracht kommt neben der Gruppe der Krankengymnasten/Physiotherapeuten auch die vom MPhG insgesamt geregelte Berufsgruppe der Masseure und Physiotherapeuten oder allgemein die Gruppe der von § 2 Nr 2 SGB VI betroffenen Pflegepersonen. Erforderlich wäre daher, daß mit der Beschwerdebegründung schlüssig dargelegt wird, auf welche der möglichen Vergleichsgruppen abzustellen ist und daß das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) zu der wesentlichen Benachteiligung von Frauen innerhalb dieser Vergleichsgruppe verwertbare tatsächliche Feststellungen enthält. Nur dann könnte davon ausgegangen werden, daß dem Revisionsgericht nach Zulassung der Revision eine Entscheidung über die materiell-rechtliche Frage einer Diskriminierung nach den vom EuGH aufgestellten Grundsätzen möglich ist. Solche Darlegungen fehlen in der Beschwerdebegründung. Das LSG hat auch erkennbar keine Feststellungen zu einer wesentlichen Benachteiligung von Frauen durch die Pflichtversicherung nach § 2 Nr 2 SGB VI getroffen, weil die Klägerin in beiden Tatsacheninstanzen die Betroffenheit iS einer Diskriminierung nicht vorgetragen und das LSG sie nicht für problematisch angesehen und daher nicht geprüft hat.
Von der Verpflichtung, verwertbare Tatsachenfeststellungen zu der behaupteten Diskriminierung darzulegen, kann auch nicht deshalb abgesehen werden, weil in einem künftigen Revisionsverfahren die Sache zu weiteren Ermittlungen an das LSG zurückverwiesen werden könnte (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), wenn die materiell-rechtliche Prüfung ergeben sollte, daß für den Fall einer (noch festzustellenden) Betroffenheit die Voraussetzungen der Diskriminierung erfüllt sind. Denn es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, über eine abstrakte Rechtsfrage zu entscheiden, deren Bedeutung für den konkreten Rechtsstreit (noch) nicht feststeht. Außerdem würde die Revisionszulassung hier zur Umgehung der Beschränkung der Verfahrensrevision in § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG führen. Über die Grundsatzrevision würde die Heilung eines Verfahrensmangels ermöglicht, der als solcher nicht zur Zulassung der Revision führen kann. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann die Zulassung der Revision auf Fehler bei der Ermittlung des Sachverhalts (§ 103 SGG) nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag beziehen, dem das LSG ohne hinreichenden Grund nicht gefolgt ist. Die Klägerin hat beim LSG keinen Beweisantrag zur Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen einer Diskriminierung gestellt und hätte daher mit ihrer Beschwerde auch nicht eine unterlassene Sachverhaltsaufklärung durch das LSG mit Erfolg rügen können. Sollte das Berufungsverfahren insoweit an einem Verfahrensmangel leiden, wäre die Zulassung der Revision dennoch nicht statthaft. Dieser Mangel kann auch nicht über die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung geheilt werden.
Der Hinweis in der Beschwerdebegründung auf die nicht der Versicherungspflicht unterliegenden freiberuflich tätigen Ärzte ist im Zusammenhang mit Art 4 Abs 1 der RL unverständlich. Die Erwägungen könnten allenfalls auf einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes) hinweisen. Die Rechtsfrage wird mit der Beschwerde jedoch nicht aufgeworfen. Auf sie kann die Zulassung der Revision daher nicht gestützt werden (Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 154). Im übrigen hat der Senat die Gründe für die unterschiedliche versicherungsrechtliche Behandlung der in der Krankenpflege tätigen Personen und der freiberuflich tätigen Ärzte und Heilpraktiker in seiner Rechtsprechung dargelegt (BSG SozR 2400 § 2 Nrn 4 und 5). Die Beschwerde hätte, wenn Sie die Frage eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz erneut als klärungsbedürftig bezeichnen wollte, auch hierzu Ausführungen machen müssen.
Genügt die Begründung der Beschwerde somit nicht den gesetzlichen Anforderungen, muß sie in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung ist entsprechend § 193 SGG ergangen.
Fundstellen