Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Anhörungsrüge. Berufungsverfahren. Zurückweisung der Berufung durch Beschluss. Abweisung einer unzulässig geänderten Klage. Anhörungsmitteilung. Kostenentscheidung
Leitsatz (amtlich)
Die Befugnis des Landessozialgerichts, eine Berufung ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zurückzuweisen, schließt auch die Möglichkeit ein, eine im Berufungsverfahren unzulässig geänderte Klage abzuweisen.
Orientierungssatz
1. Anhörungsmitteilungen verlieren nicht allein durch Zeitablauf ihre Wirksamkeit (vgl BVerwG vom 15.3.1984 - 2 C 24.83 = Buchholz 310 § 88 VwGO Nr 15 = juris RdNr 16).
2. Eine Kostenentscheidung bezüglich des Anhörungsrügeverfahrens im Anschluss an eine ablehnende Prozesskostenhilfeentscheidung ist nicht zu treffen, da es sich um ein Annexverfahren zum Prozesskostenhilfeverfahren handelt, bei dem seinerseits keine Kostenentscheidung zu treffen ist (vgl § 118 Abs 1 S 4 ZPO ).
Normenkette
EMRK Art. 6 Abs. 1; SGG § 73a Abs. 1 S. 1, §§ 99, 153 Abs. 4 S. 1, § 178a; ZPO §§ 114, 118, 343
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Anhörungsrüge der Klägerin vom 16. April 2023 wird das Verfahren über ihren Antrag, ihr zur Durchführung des Verfahrens der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Januar 2023 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt J, B, beizuordnen, fortgeführt.
Der Beschluss des Senats vom 20. März 2023, mit dem der vorbezeichnete Antrag der Klägerin abgelehnt wurde, bleibt aufrechterhalten.
Gründe
1. Auf die zulässige und begründete sinngemäße Anhörungsrüge der Klägerin war das Verfahren fortzuführen (§ 178a Abs 5 Satz 1 SGG), weil sich aus dem Vorbringen der Klägerin ergibt, dass sie den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) fristgerecht gestellt hat.
2. Der Beschluss des Senats vom 20.3.2023 ist aber gemäß § 178a Abs 5 Satz 4 SGG iVm § 343 ZPO (im Ergebnis) aufrechtzuerhalten, weil der Antrag auf Bewilligung von PKH mangels Erfolgsaussichten abzulehnen ist.
Nach § 73a Satz 1 SGG iVm § 114 ZPO kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Nicht ausreichend ist nur eine entfernte Erfolgsaussicht (BVerfG vom 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 ua - BVerfGE 81, 347 [357]; BVerfG [Kammer] vom 25.4.2012 - 1 BvR 2869/11 - BVerfGK 19, 384 [386]). Insofern ist zu berücksichtigen, dass Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG auch einer Besserstellung desjenigen, der seine Prozessführung nicht aus eigenen Mitteln bestreiten muss und daher von vorneherein kein Kostenrisiko trägt, gegenüber dem Bemittelten, der sein Kostenrisiko wägen muss, entgegensteht (BVerfG [Kammer] vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08 - BVerGK 16, 406 [408]; BVerfG [Kammer] vom 2.9.2010 - 1 BvR 1974/08 - SozR 4-1500 § 73a Nr 7 RdNr 13; BVerfG [Kammer] vom 14.12.2011 - 1 BvR 2735/11 - juris RdNr 7; BVerfG [Kammer] vom 25.4.2012 - 1 BvR 2869/11 - BVerfGK 19, 384 [386]). Muss aber PKH selbst nicht schon immer dann gewährt werden, wenn eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich entschieden ist (BVerfG [Kammer] vom 8.12.2020 - 1 BvR 149/16 - juris RdNr 14), ist der Antrag auf PKH jedenfalls insbesondere dann abzulehnen, wenn eine Rechtsfrage bereits höchstrichterlich entschieden ist.
Nach diesen Maßstäben liegen keine hinreichenden Erfolgsaussichten vor. Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs 4 SGG) in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin erfolgreich zu begründen. Da kein Anspruch auf Bewilligung von PKH besteht, sind auch die Anträge auf Beiordnung eines Rechtsanwalts abzulehnen (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 ZPO).
Nach § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3).
Solche Zulassungsgründe sind nach summarischer Prüfung des Streitstoffs auf der Grundlage des Inhalts der Gerichtsakten sowie unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin nicht erkennbar.
Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) ist nur anzunehmen, wenn eine Rechtsfrage aufgeworfen wird, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Dies ist hier nicht der Fall. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen, weil die Klage aufgrund anderweitiger Rechtshängigkeit teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet sei, weil die Voraussetzungen des § 44 SGB X und des § 22 Abs 1 SGB II nicht vorlägen. Dies betrifft die Umstände des Einzelfalls, wirft aber keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf. Gleiches gilt für die Beurteilung der Klageerweiterung, die das LSG für unzulässig erachtet hat.
Es ist auch nicht erkennbar, dass die Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht, weshalb eine Divergenzrüge keine Aussicht auf Erfolg verspricht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
Nach Aktenlage ist schließlich nicht ersichtlich, dass ein Verfahrensmangel geltend gemacht werden könnte, auf dem die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG). Insbesondere stellt es keinen Verfahrensmangel dar, dass das LSG auch über die - nach seiner Ansicht vorliegende - Klageerweiterung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG entschieden hat (allgemein zu den Voraussetzungen nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 134/14 B - juris RdNr 7 f mwN). Zwar ermächtigt diese Norm das LSG nur, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen. Dies schließt aber zumindest die Möglichkeit ein, zugleich auch eine im Berufungsverfahren unzulässig geänderte Klage abzuweisen (BSG vom 14.4.2010 - B 8 SO 22/09 B - juris RdNr 6; BSG vom 29.6.2016 - B 1 KR 16/16 B - juris RdNr 6; BSG vom 3.1.2022 - B 1 KR 16/21 B - juris RdNr 11; vgl auch BSG vom 22.5.1997 - 6 BKa 2/97 - juris RdNr 2 f). Anderenfalls hätte es ein Kläger in der Hand, durch jede noch so sinnlose Klageänderung eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG zu verhindern, obwohl diese Verfahrensweise gerade nicht zur Disposition des Klägers steht (vgl zu Letzterem BSG vom 19.9.2019 - B 12 KR 21/19 R - BSGE 129, 106 = SozR 4-2400 § 7 Nr 45, RdNr 11; BSG vom 29.6.2021 - B 4 AS 96/21 B - juris RdNr 4; BSG vom 24.8.2021 - B 4 AS 32/21 BH - juris RdNr 7). Im Übrigen ist auch sonst nach der Rechtsprechung des BSG das LSG nicht darauf beschränkt, die Berufung zurückzuweisen, sondern kann durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG auch darüber entscheiden, ob sich das Verfahren durch Berufungsrücknahme oder Vergleichsschluss erledigt hat (BSG vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris RdNr 7; BSG vom 10.5.2022 - B 1 KR 9/21 BH - juris RdNr 13; implizit auch BSG vom 15.10.2020 - B 13 R 83/20 B - juris RdNr 10 ff), und über Urteilsergänzungsanträge (BSG vom 23.6.2016 - B 3 KR 4/16 B - juris RdNr 10 mwN), obwohl der Tenor auch in diesen Fällen nicht auf die Zurückweisung der Berufung gerichtet ist.
Diese Rechtsprechung des BSG kollidiert auch nicht mit Art 6 Abs 1 EMRK. Unabhängig davon, ob der Anwendungsbereich dieser Norm ("Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine […] strafrechtliche Anklage") bei Streitigkeiten nach dem SGB II überhaupt eröffnet ist, und abgesehen davon, dass die EMRK nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (BVerfG vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307 [317]; BVerfG vom 29.1.2019 - 2 BvC 62/14 - BVerfGE 151, 1 [26 f., RdNr 61] mwN) und damit keinen höheren Rang als § 153 Abs 4 SGG hat, etabliert Art 6 Abs 1 EMRK keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung (EGMR vom 5.4.2016 - 33060/10 - NJW 2017, 2455 RdNr 70). Vielmehr ist in der Rechtsprechung des EGMR anerkannt, dass es Verfahren geben kann, die einer mündlichen Verhandlung nicht bedürfen, zum Beispiel wenn es nicht um die Glaubwürdigkeit oder um bestrittene Tatsachen geht und die Gerichte fair und angemessen auf der Grundlage des Parteivortrags oder anderer schriftlicher Unterlagen entscheiden können (EGMR vom 5.4.2016 - 33060/10 - NJW 2017, 2455 RdNr 70 mwN). Gemessen daran ist bei der bloßen - und im Beurteilungsspielraum des Gerichts stehenden (vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 99 RdNr 11 mwN) - Entscheidung der reinen Rechtsfrage, ob eine Klageänderung sachdienlich ist (§ 99 Abs 1 Var 2 SGG), eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger - bei Verneinung der Sachdienlichkeit - nicht gehindert ist, hinsichtlich seines zusätzlichen Antrags eine neue, eigenständige Klage zu erheben, weil über die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags nicht entschieden ist, wenn bereits die Zulässigkeit der Klageänderung verneint worden ist. Dies unterscheidet die vorliegende Konstellation auch von den Fällen, in denen ein neuer Verwaltungsakt gemäß § 153 Abs 1 iVm § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens wird.
Es bedurfte auch keiner erneuten Anhörungsmitteilung, nachdem die Anhörungsmitteilung vom 7.9.2021 der Klägerin am nächsten Tag zugestellt wurde, der Beschluss des LSG aber (erst) auf den 9.1.2023 datiert. Anhörungsmitteilungen verlieren nicht allein durch Zeitablauf ihre Wirksamkeit (vgl BVerwG vom 15.3.1984 - 2 C 24.83 - juris RdNr 16; BVerwG vom 16.2.1999 - 9 B 1011.98 - juris RdNr 5 f; Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 153 RdNr 165 ff; zur Anhörung vor Erlass eines Gerichtsbescheids B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 105 RdNr 11 mwN).
Allerdings ist zweifelhaft, ob das LSG jedenfalls für die Jahre 2012 bis 2014 zu Recht davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem Antrag der Klägerin, "die Differenz der Kosten für die Unterkunft gem. § 22 SGB II für die Jahre 2011 bis 2014 mit abschließender Entscheidung in voller Höhe auszugleichen", um eine Klageänderung handelt. Die Klägerin hat damit keinen neuen Streitgegenstand in das Verfahren eingeführt, sondern lediglich eine zusätzliche Begründung für ihr Begehren, höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung zu erhalten. Ob es sich hierbei jedenfalls wegen § 99 Abs 3 Nr 1 und Nr 2 SGG nicht um eine Klageänderung gehandelt hat und ob in einer etwaigen unzutreffenden Beurteilung durch das LSG ein Verfahrensmangel liegt, weil das LSG hierüber im Rahmen der Sachentscheidung hätte befinden müssen, kann dahinstehen. Denn jedenfalls würde die Entscheidung des LSG nicht auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Das LSG hat für die Verneinung eines Anspruchs auf (höhere) Leistungen für Unterkunft und Heizung selbständig tragend darauf abgestellt, dass die Klägerin zwischen Januar 2007 und Oktober 2015 mangels ernstgemeinter Mietforderung keine Kosten für Unterkunft und Heizung hatte; auf die Frage, in welcher Höhe Unterkunftskosten angemessen sind, kann es nicht ankommen, wenn bereits die Entstehung von Unterkunftskosten dem Grunde nach verneint wird.
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3. Eine Kostenentscheidung bzgl des Anhörungsrügeverfahrens ist nicht zu treffen, da es sich um ein Annexverfahren zum PKH-Verfahren handelt, bei dem seinerseits keine Kostenentscheidung zu treffen ist (vgl § 118 Abs 1 Satz 4 ZPO). |
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Estelmann |
Söhngen |
Burkiczak |
Fundstellen
Dokument-Index HI16186699 |