Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter. Zurückweisung der Berufung durch Beschluss vor Ablauf der gerichtlich gesetzten Anhörungsfrist. unvorschriftsmäßige Besetzung des Berufungsgerichts. absoluter Revisionsgrund. Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Weil bei der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts dessen Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist (§ 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO), kommt es auf Ausführungen zu einer möglichen Kausalität zwischen Besetzungsfehler und Verfahrensergebnis nicht an (vgl BSG vom 10.11.2022 - B 5 R 110/22 B = juris RdNr 11).
2. Nach der Rechtsprechung des BSG darf das LSG vor Ablauf einer selbst gesetzten Anhörungsfrist die Berufung grundsätzlich nicht nach § 153 Abs 4 SGG zurückweisen (vgl nur BSG vom 20.8.2009 - B 14 AS 52/09 B = juris RdNr 6).
3. Ausnahmsweise muss es den Ablauf der von ihm gesetzten, angemessenen Frist zur Stellungnahme dann nicht abwarten, wenn ein Beteiligter sich vor Fristablauf abschließend geäußert hat (vgl BSG vom 12.10.2016 - B 11 AL 48/16 B = juris RdNr 7) und weitere Stellungnahmen nach Lage der Dinge nicht zu erwarten sind (vgl BSG vom 31.3.2017 - B 12 KR 28/16 B = juris RdNr 8 und vom 16.2.2022 - B 8 SO 96/20 B = juris RdNr 7 mwN). Ob solche Gründe vorliegen, ist ausgehend vom dargestellten Regel-Ausnahme-Verhältnis nach strengen Maßstäben zu bewerten.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; SGG § 33 Abs. 1 S. 1, § 153 Abs. 4 S. 2, § 202 S. 1; ZPO § 547 Nr. 1
Verfahrensgang
SG München (Entscheidung vom 19.08.2021; Aktenzeichen S 13 AS 130/20) |
Bayerisches LSG (Beschluss vom 10.02.2022; Aktenzeichen L 7 AS 563/21) |
Tenor
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Februar 2022 gewährt.
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird der Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Februar 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zu-rückverwiesen.
Gründe
I. Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens waren Feststellungs- und Unterlassungsanträge des Klägers im Rahmen des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II.
Auf die am 7.12.2021 eingegangene Berufung hörte die Berichterstatterin beim LSG mit Schreiben vom 2.2.2022 den Kläger zur Zurückweisung der Berufung an. Der 7. Senat halte die Berufung einstimmig für unbegründet und beabsichtige, diese durch Beschluss zurückzuweisen. Es bestehe Gelegenheit, sich binnen zwei Wochen nach Zugang des Schreibens zu äußern. Die Anhörung hat der Kläger am 4.2.2022 erhalten. Mit beim LSG am 6.2.2022 eingegangenem Schreiben hat er die Richterinnen und Richter des 7. Senats des LSG abgelehnt, sinngemäß den Geschäftsverteilungsplan angefordert, sich gegen das Schreiben vom 2.2.2022 gewandt und erklärt, eine Begründung werde zurückgestellt. Mit Beschluss vom 10.2.2022 hat das LSG die Berufung gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua die unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, weil das LSG vor Ablauf der Anhörungsfrist entschieden hat.
II. Dem Kläger wird antragsgemäß Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist gewährt (§ 67 Abs 1 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch ihn und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung seiner Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.
Die zulässige Beschwerde des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Der Kläger hat einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend gemacht, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Bezogen auf die Verletzung seines Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) hat er den Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Weil bei der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts dessen Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO), kommt es auf Ausführungen zu einer möglichen Kausalität zwischen Besetzungsfehler und Verfahrensergebnis nicht an (BSG vom 10.11.2022 - B 5 R 110/22 B - RdNr 11).
Gemäß § 33 Abs 1 Satz 1 SGG wird jeder Senat beim LSG in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig. Zu Entscheidungen des Gerichts in hiervon abweichender Besetzung, zB wie hier durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG, an dem die ehrenamtlichen Richter nicht mitwirken (§ 33 Abs 1 Satz 2 iVm § 12 Abs 1 Satz 2 SGG), muss angehört werden. Für die Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG ergibt sich das unmittelbar aus § 153 Abs 4 Satz 2 SGG.
Fehler im Rahmen des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG können sich unterschiedlich auswirken. Eine unterbliebene Anhörung führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern. Dagegen tritt diese Wirkung bei nur nicht ordnungsgemäß durchgeführter Anhörung nicht in jedem Fall ein (BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 56/19 R - RdNr 10 mwN). Nach der Rechtsprechung des BSG darf das LSG vor Ablauf einer selbst gesetzten Anhörungsfrist die Berufung grundsätzlich nicht nach § 153 Abs 4 SGG zurückweisen (vgl nur BSG vom 20.8.2009 - B 14 AS 52/09 B - RdNr 6). Ausnahmsweise muss es den Ablauf der von ihm gesetzten, angemessenen Frist zur Stellungnahme dann nicht abwarten, wenn ein Beteiligter sich vor Fristablauf abschließend geäußert hat (so schon BSG vom 12.10.2016 - B 11 AL 48/16 B - RdNr 7) und weitere Stellungnahmen nach Lage der Dinge nicht zu erwarten sind (BSG vom 31.3.2017 - B 12 KR 28/16 B - RdNr 8; BSG vom 16.2.2022 - B 8 SO 96/20 B - RdNr 7 mwN). Ob solche Gründe vorliegen, ist ausgehend vom dargestellten Regel-Ausnahme-Verhältnis nach strengen Maßstäben zu bewerten. Anderenfalls ist die Entscheidung vor Fristablauf vergleichbar mit einer unterbliebenen Anhörung (BSG vom 24.2.2016 - B 13 R 341/15 B - RdNr 6; BSG vom 27.1.2021 - B 14 AS 346/19 B - RdNr 6).
Die Entscheidung des LSG vor Ablauf der Anhörungsfrist am 18.2.2022 durch Beschluss vom 10.2.2022 ist einer unterbliebenen Anhörung gleichzustellen. Ein Ausnahmefall, der die verfahrensfehlerfreie Entscheidung vor Ablauf der Anhörungsfrist ermöglichen könnte, liegt nicht vor. Insoweit hat der Kläger auf die Anhörung (erneut) vorgebracht, über Anträge aus dem Klageverfahren sei noch gar nicht entschieden, worauf das Anhörungsschreiben der Berichterstatterin nicht eingegangen war. Ungeachtet dessen hatte der Kläger die Richter des 7. Senats wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und zu ihrer namentlichen Benennung den Geschäftsverteilungsplan des LSG angefordert. Bei dieser Sachlage kann nicht davon ausgegangen werden, dass weitere Stellungnahmen nicht zu erwarten waren.
Da die Sache schon wegen der unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird (§ 160a Abs 5 SGG), ist nicht darüber zu entscheiden, ob die Entscheidung des Berufungsgerichts für ein Vorgehen nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG ermessensfehlerhaft gewesen ist (zum Prüfmaßstab BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13).
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Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten. |
S. Knickrehm |
Harich |
Neumann |
Fundstellen
Dokument-Index HI15670360 |