Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsschutz. Rechtsfrage. Nachträgliche Klärung. Grundsätzliche Bedeutung. Darlegung. Nachträgliche Divergenz. Begründungsfrist. 24-stündige Anwesenheit. Facharzt. Assistenzarzt. Neurologie. Sozialgerichtliches Verfahren. Geltendmachung. nachträgliche Divergenz. Krankenhaus. Schlaganfallstation. Facharzt für Neurologie oder Assistenzarzt in der Weiterbildung zum Facharzt für Neurologie
Leitsatz (amtlich)
Der Beschwerdeführer kann Divergenz auch dann geltend machen, wenn das Beschwerdegericht nach Erlass der angegriffenen Nichtzulassungsentscheidung und vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist einen Rechtssatz aufstellt, von dem die angegriffene vorinstanzliche Entscheidung entscheidungstragend abweicht (Fortentwicklung von BSG vom 15.12.1976 - 4 BJ 1/76 = SozR 1500 § 160 Nr 25).
Leitsatz (redaktionell)
1. Die einem Beschwerdeführer zunächst gegen eine Entscheidung eröffnete Rechtsschutzmöglichkeit darf ihm nicht dadurch aus der Hand geschlagen werden, dass das Revisionsgericht in einem anderen Rechtsstreit nachträglich die Rechtsfrage in seinem Sinne entgegen der ergangenen, ihn belastenden Entscheidung des Instanzgerichts klärt und ihm die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nunmehr verschließt, so dass der Beschwerdeführer sich in einem solchen Fall darauf beschränken kann, nur die nachträgliche Divergenz entsprechend den sich aus § 160a Abs. 2 S. 3 SGG abzuleitenden Anforderungen zu rügen, wenn ihm dies während der Begründungsfrist für die Beschwerde möglich ist.
2. Die 24-stündige Anwesenheit eines „Facharztes oder eines Assistenzarztes in der Weiterbildung zum Facharzt” i.S. des OPS (2007) 8-981 (insoweit regelungsgleich mit OPS ≪2011≫ 8-981) muss durch einen Facharzt für Neurologie oder einen Assistenzarzt in der Weiterbildung zum Facharzt für Neurologie gewährleistet sein.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 160a Abs. 2 S. 3; SGB V § 108; SGG § 160 Abs 2 Nr 2, § 160a Abs 2 S 3; GG Art 19 Abs 4 S 1; SGB 5 § 301 Abs 2 S 2; OPS Nr 8-981; OPS 2011 Nr 8-981; OPS 2007 Nr 8-981
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.03.2015; Aktenzeichen L 11 KR 5077/13) |
SG Reutlingen (Urteil vom 09.10.2013; Aktenzeichen S 1 KR 1165/12) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Beklagten wird die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. März 2015 zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin, Trägerin eines nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhauses, behandelte in der Zeit von August bis November 2011 auf ihrer Schlaganfallstation, die über keine ständig präsenten Neurologen oder dazu in Ausbildung sich befindenden Assistenzärzte verfügte, 22 Versicherte der beklagten Krankenkasse. Sie kodierte jeweils wegen Behandlung eines Schlaganfalls für die Rechnung den 2011 anzuwendenden Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS 2011) 8-981 (Neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls) und erhielt hierfür insgesamt 38 706,13 Euro. Die Beklagte rechnete später in dieser Höhe mit anderen unstreitigen Vergütungsforderungen auf, weil die Klägerin den OPS nicht hätte kodieren dürfen. Das SG hat die Beklagte zur Zahlung von 38 706,13 Euro nebst Zinsen verurteilt. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die von OPS (2011) 8-981 geforderte ärztliche Präsenz in der Schlaganfallstation habe vorgelegen. Nach dem maßgeblichen Wortlaut der Regelung hätte bereits die Anwesenheit beliebiger Ärzte, die weder Neurologen noch in Weiterbildung dazu begriffen waren, diese Anforderung erfüllt (Urteil vom 24.3.2015).
Die Beklagte wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II. Der gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil eingelegten Beschwerde ist stattzugeben und die Revision zuzulassen. Die Beschwerde der Beklagten, mit der sie Divergenz rügt (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG), ist zulässig (dazu 1.) und begründet (dazu 2.).
1. Wer sich - wie hier die Beklagte - auf den Zulassungsgrund der Divergenz beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat, sondern erst dann, wenn es diesem Rechtssatz widersprochen, also einen anderen Rechtssatz aufgestellt und angewandt hat; nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz (vgl zum Ganzen BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67; BSG Beschluss vom 15.8.2007 - B 1 KR 65/07 B - Juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - Juris RdNr 6; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN; BSG Beschluss vom 7.10.2009 - B 1 KR 15/09 B - Juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 22.10.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 21; BSG Beschluss vom 10.4.2014 - B 1 KR 13/14 B - NZS 2014, 479 RdNr 10; BSG Beschluss vom 1.7.2014 - B 1 KR 99/13 B - Juris RdNr 6). Hiernach liegt Divergenz grundsätzlich nur dann vor, wenn das LSG von einem im Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits vorhandenen höchstrichterlichen Rechtssatz im beschriebenen Sinne abweicht. Ein Beschwerdeführer kann ausnahmsweise Divergenz aber auch dann zulässig rügen, wenn das BSG nach der vorinstanzlichen Entscheidung in einem einen anderen Rechtsstreit betreffenden, später ergangenen Urteil einen Rechtssatz aufstellt, der vom Rechtssatz der mit der Beschwerde angegriffenen LSG-Entscheidung abweicht, sodass eine Divergenz erst nachträglich, aber noch innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist eintritt (anders dagegen, wenn die Entscheidung des BSG noch gar nicht ergangen ist, sondern nur erwartet wird; vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 10). Dies gilt jedenfalls dann, wenn das LSG oder das BSG in dem anderen, die Divergenz nachträglich herbeiführenden Rechtsstreit die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) zugelassen haben. Denn dies impliziert die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer ohne die spätere Entscheidung des BSG auch in seinem Rechtstreit die Grundsatzrüge hätte erheben können.
Die verfassungskonforme Auslegung der Regelung der Nichtzulassungsbeschwerde in § 160 Abs 2 Nr 1 und Nr 2 SGG gebietet, Beschwerdeführern das Recht einzuräumen, auch eine nachträgliche Divergenz - bei zunächst vorhanden gewesener Möglichkeit der Grundsatzrüge - rügen zu können. Art 19 Abs 4 S 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfach-gesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden. Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf aber nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Insbesondere darf ein Gericht nicht durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzen.
Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art 19 Abs 4 S 1 GG auch in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Zwar gewährleisten weder Art 19 Abs 4 GG noch andere Verfassungsbestimmungen einen Instanzenzug. Sehen aber prozessrechtliche Vorschriften Rechtsbehelfe oder - wie vorliegend § 160a SGG - die Möglichkeit vor, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, so verbietet Art 19 Abs 4 GG eine Auslegung und Anwendung dieser Rechtsnormen, die die Beschreitung des eröffneten (Teil-)Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschweren. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes (Teil-)Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (vgl BVerfG Beschluss vom 21.1.2000 - 2 BvR 2125/97 - DVBl 2000, 407 = Juris RdNr 30 ff mit zahlreichen wN). In diesem Sinne hat das BVerfG auch die Notwendigkeit bejaht, eine Berufung zum OVG wegen nachträglicher Divergenz zuzulassen. Es hat darauf verwiesen, dass im Verwaltungsprozessrecht nach allgemeiner Auffassung ein Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung in einen Antrag auf Berufungszulassung wegen Divergenz umzudeuten sei, wenn zwischenzeitlich die aufgeworfene grundsätzliche Frage durch eine Entscheidung des OVG beantwortet worden sei (vgl ebenda). Gleiches gilt in dem Fall, wenn eine im Übrigen zulässige Beschwerde nur daran zu scheitern drohte, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Zeitpunkte der Entscheidungen des LSG und des BSG einerseits nicht mehr die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache rügen kann, weil deren Klärung durch das BSG schon vor der Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil erfolgt ist, und ihm andererseits die Divergenzrüge nur deshalb versagt würde, weil der zur Divergenz führende höchstrichterliche Rechtssatz zwar vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist, aber erst nach der LSG-Entscheidung Geltung erlangt hat.
Die einem Beschwerdeführer zunächst gegen die Entscheidung des LSG eröffnete Rechtsschutzmöglichkeit darf ihm nicht dadurch aus der Hand geschlagen werden, dass das BSG in einem anderen Rechtsstreit nachträglich die Rechtsfrage in seinem Sinne entgegen der ergangenen, ihn belastenden LSG-Entscheidung klärt und ihm die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nunmehr verschließt. Der Beschwerdeführer kann sich in einem solchen Fall darauf beschränken, nur die nachträgliche Divergenz entsprechend den sich aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen zu rügen, wenn ihm dies während der Begründungsfrist für die Beschwerde möglich ist. Anders als in den Fällen, in denen es erst nach Einreichung der Beschwerdebegründung zu höchstrichterlichen Klärung der Rechtsfrage kommt, muss der Beschwerdeführer die - ja nun nicht mehr gegebene - grundsätzliche Bedeutung nicht darlegen (vgl dagegen zur "Klärung" durch oberstgerichtliche Entscheidung erst nach Einreichung der Beschwerdebegründung zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 25- Klärung nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist; BVerwG Beschluss vom 24.5.1965 - 3 B 10.65 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 49 - "Klärung" nach Eingang der Beschwerde; BVerwG Beschluss vom 20.3.1985 - 3 B 83.84 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 230; BVerwG Beschluss vom 7.1.1993 - 4 NB 42.92 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr 74 S 122; BVerwG Beschluss vom 14.2.1997 - 1 B 3.97 - Juris; BVerwG Beschluss vom 22.12.1997 - 1 B 226.97 - Buchholz 132.0 § 1 1. StARegG Nr 8; BVerwG Beschluss vom 21.2.2000 - 9 B 57.00 - Juris RdNr 6; BVerwG Beschluss vom 8.6.2007 - 8 B 101/06 - Buchholz 310 § 132 Abs 2 Ziff 2 VwGO Nr 15; BVerwG Beschluss vom 6.4.2009 - 10 B 62/08 - Juris RdNr 5; BFH Beschluss vom 27.1.1995 - VIII B 105/94 - BFH/NV 1995, 808 = Juris RdNr 5; BFH Beschluss vom 16.12.1999 - IV B 32/99 - BFH/NV 2002, 1160 = Juris RdNr 8; BFH Beschluss vom 19.9.2007 - XI B 52/06 - BFH/NV 2008, 63 = Juris RdNr 18; BFH Beschluss vom 24.8.2000 - IV B 158/99 - Juris RdNr 6; BFH Beschluss vom 11.11.2011 - V B 19/10 - BFH/NV 2012, 459 = Juris RdNr 4; BFH Beschluss vom 5.3.2014 - V B 14/13 - BFH/NV 2014, 918 = Juris RdNr 11; für Divergenzrüge auch im Falle des Ergehens der berufungs- und der revisionsgerichtlichen Entscheidung am selben Tag vgl BVerwG Beschluss vom 7.6.1991 - 3 B 31/91 - Juris; nachträgliche Divergenz als Zulassungsgrund offengelassen von BGH Beschluss vom 5.5.2011 - IX ZB 77/10 - Juris RdNr 2). Ebenso ist kein besonderes Vorbringen des Beschwerdeführers dazu erforderlich, dass das LSG oder das BSG im anderen, die nachträgliche Divergenz begründenden Rechtsstreit die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen haben.
Hiernach ist die von der Beklagten erhobene Rüge der nachträglichen Divergenz zulässig. Denn der früher zuständig gewesene 3. BSG-Senat hat in dem Verfahren B 3 KR 27/13 B (nachfolgend B 3 KR 20/13 R, seit 1.1.2015: B 1 KR 8/15 R) mit Beschluss vom 28.11.2013 die Revision gegen das Urteil des Thüringer LSG (L 6 KR 193/10) wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Die Beklagte hat im Hinblick auf das Urteil des erkennenden Senats vom 21.4.2015 (B 1 KR 8/15 R - Juris = KHE 2015/36) die Verlängerung der Begründungsfrist beantragt (§ 160a Abs 2 S 2 SGG) und ihre Beschwerde nach Veröffentlichung der Urteilsgründe in der verlängerten Begründungsfrist, gestützt auf die Rüge der Divergenz, begründet. Die Beklagte hat die nachträgliche Divergenz des von ihr angegriffenen LSG-Urteils auch entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG bezeichnet (vgl dazu zB BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 10 RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.10.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN).
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2. Die Beschwerde ist begründet. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 21.4.2015 ( B 1 KR 8/15 R - Juris = KHE 2015/36) entschieden, dass die 24-stündige Anwesenheit eines "Facharztes oder eines Assistenzarztes in der Weiterbildung zum Facharzt" iS des OPS (2007) 8-981 (insoweit regelungsgleich mit OPS ≪2011≫ 8-981) durch einen Facharzt für Neurologie oder einen Assistenzarzt in der Weiterbildung zum Facharzt für Neurologie gewährleistet sein muss. Demgegenüber hat das LSG entscheidungstragend den kontradiktorischen Rechtssatz aufgestellt, dass die 24-stündige Anwesenheit iS des OPS (2011) 8-981 keine durchgehende persönliche Anwesenheit eines Facharztes für Neurologie oder eines Assistenzarztes in der Weiterbildung zum Facharzt für Neurologie verlange. |
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Fundstellen