Entscheidungsstichwort (Thema)
Besetzung der Richterbank bei Entscheidung über eine Anhörungsrüge
Leitsatz (amtlich)
Über eine Anhörungsrüge gegen eine mit ehrenamtlichen Richtern getroffene Entscheidung beschließt ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter auch dann, wenn der Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens ohne mündliche Verhandlung als unbegründet abgelehnt wird.
Normenkette
SGG § 178a Abs. 4 S. 3, § 40 S. 1, § 33 S. 2, § 12 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Der Antrag der Kläger, das durch Urteil vom 9. Mai 2006 beendete Verfahren mit dem Aktenzeichen – B 2 U 34/05 R – fortzusetzen, wird abgelehnt.
Die Gegenvorstellung der Kläger gegen das Urteil vom 9. Mai 2006 wird als unzulässig zu verworfen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger.
Gründe
Mit Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 34/05 R – hat der Senat die Revision der Kläger gegen ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg zurückgewiesen und damit die Abweisung ihrer Klage gegen einen Veranlagungs- und drei Beitragsbescheide der Beklagten bestätigt.
Die gegen dieses Urteil mit Schreiben vom 23. Oktober 2006 erhobene Anhörungsrüge ist teilweise unzulässig und im Übrigen zumindest unbegründet, sodass das Verfahren nicht fortzusetzen ist. Nach § 178a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) idF des Art 9 des Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vom 9. Dezember 2004 (Anhörungsrügengesetz ≪BGBl I 3220≫) ist das Verfahren auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
Die Rüge der Kläger, ihr Recht auf den gesetzlichen Richter sei verletzt, ist unzulässig, weil dies nach dem Wortlaut des § 178a SGG kein zulässiges Vorbringen im Rahmen einer solchen Anhörungsrüge ist.
Die weitere Rüge, es liege eine Gehörsverletzung vor, ist zumindest nicht begründet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundessozialgerichts (BSG) soll der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 des Grundgesetzes ≪GG≫, §§ 62, 128 Abs 2 SGG) verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen mit einbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Das Gericht muss jedoch nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besondern Umständen des Falles ergibt (BVerfGE aaO).
Zur Begründung der Gehörsrüge wird ausgeführt, der Senat habe in seiner Entscheidung vom 9. Mai 2006 eine mögliche Verletzung von Grundrechten der Kläger nicht berücksichtigt, wegen der nicht erfolgten Vorlage des Verfahrens an das BVerfG und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) verstoßen, die Unterschiede zwischen dem italienischen und dem deutschen System der Unfallversicherung nicht beachtet und der mangelnden Kontrolle der Beitragserhebung der Beklagten auch im Hinblick auf Art 80 Abs 1 GG nicht Rechnung getragen. Dass jeder dieser Punkte im Urteil des Senats vom 9. Mai 2006 behandelt wird, ist dem Urteil zu entnehmen. Die Kläger haben auch nicht explizit aufgezeigt, welcher entscheidungserhebliche, konkrete Vortrag ihrerseits nicht in dem Urteil behandelt wurde. Im Ergebnis wenden sie sich gegen die Entscheidung und Begründung des Senats als solche. Damit kann eine Anhörungsrüge jedoch nicht begründet werden, weil diese nicht der Fortführung des Verfahrens dienen soll, sondern der Überprüfung eines speziellen Verfahrensverstoßes gegen ein verfassungsrechtlich abgesichertes Recht der Beteiligten.
Die hilfsweise erhobene Gegenvorstellung der Kläger ist als unzulässig zu verwerfen. Auch nach Einführung der Anhörungsrüge durch das Gesetz vom 9. Dezember 2004 (BGBl I 3220) ist eine Gegenvorstellung unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise zulässig und begründet (BSG SozR 4-1500 § 178a Nr 3 RdNr 4 mwN). Die Änderung einer an sich unanfechtbaren Entscheidung auf eine Gegenvorstellung hin ist vor allem möglich, wenn die getroffene Entscheidung in offensichtlichem Widerspruch zum Gesetz steht und insbesondere unter Verletzung von Grundrechten ergangen ist, sodass sie im Wege der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden könnte, oder wenn die Entscheidung zu einem groben prozessualen oder sozialen Unrecht führen würde (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 24 mwN; SozR 4-1500 § 178a Nr 3 RdNr 5). Dem Vorbringen der Kläger, das wiederum auf einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter und eine Vorlage an den EuGH abzielt, ist ein derartiger schwerwiegender Rechtsverstoß des Senats in seinem Urteil vom 9. Mai 2006 nicht zu entnehmen. Sie wiederholen vielmehr nur ihre schon bekannten Gesichtspunkte, denen der Senat aus den in dem Urteil dargelegten Gründen nicht gefolgt ist.
Die Zurückweisung der Anhörungsrüge erfolgt gemäß § 40 Satz 1, § 33 Satz 2, § 12 Abs 1 Satz 2 SGG ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter (so auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 178 RdNr 9; Lüdtke, SGG, Handkommentar, 2. Aufl 2006, § 178a RdNr 23; Zeihe, SGG, Stand Mai 2005, § 178a RdNr 38a f; BSG Beschluss vom 16. Februar 2006 – B 9a V 47/05 B – SozR 4-1500 § 178a Nr 4 RdNr 11 für eine Verwerfung wegen Unzulässigkeit). Aus den Überlegungen von Berchtold (in Hennig, SGG, Stand Oktober 2005, § 178a RdNr 66 ff; ders, NZS 2006, 9, 13 f), der ausgehend von einer “Leitentscheidung des Gesetzes für eine Selbstkontrolle durch den judex a quo” eine Entscheidungszuständigkeit in der Besetzung in Betracht zieht, die auch die Ausgangsentscheidung zu verantworten hat, und eine Nachbesserung durch den Gesetzgeber fordert, folgt nichts anderes. Zwar ist nach dem Allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung zum Anhörungsrügengesetz die Rüge “bei dem Gericht zu erheben, das die gerügte Entscheidung erlassen hat (‘judex a quo’)” (BT-Drucks 15/3706 S 13). Dies sagt aber nicht zwangsläufig etwas über die Besetzung aus, in der dieses Gericht zu entscheiden hat, sondern spricht vielmehr die instanzielle Zuständigkeit an, die typischerweise mit dem Begriffspaar judex a quo (= Richter, von dem) und judex ad quem (= Richter, zu dem; vgl nur Deutsches Rechts-Lexikon, Bd 2, 2001 zu diesen Stichwörtern) bezeichnet wird (ähnlich BGH Beschluss vom 28. Juli 2005 – III ZR 443/05 – FamRZ 2005, 1831).
Aus dem Gesetzeswortlaut des § 178a Abs 4 Satz 3 SGG, der eine Entscheidung über die Anhörungsrüge durch Beschluss anordnet, folgt hingegen iVm § 40 Satz 1, § 33 Satz 2, § 12 Abs 1 Satz 2 SGG eindeutig eine Entscheidung ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter. Für eine Entscheidung ohne ehrenamtliche Richter sprechen auch systematische Überlegungen, da eine Entscheidung durch Beschluss unter Beteiligung der ehrenamtlichen Richter nur als Ausnahmeregelung im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde angeordnet wird (§ 160a Abs 4 Satz 2 SGG). Dass der Gesetzgeber diese Konsequenz nicht gesehen habe (so wohl Berchtold aaO), kann angesichts der in Art 7 Nr 8 Anhörungsrügengesetz getroffenen differenzierten Regelung in der Parallel-Vorschrift des § 78a Abs 6 des Arbeitsgerichtsgesetzes, der ausdrücklich eine Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter sowie bestimmte Ausnahmen hiervon anordnet, nicht ohne Weiteres angenommen werden. Aus der Kürze der Begründung zu dem das SGG ändernden Art 9 Anhörungsrügengesetz, der schlicht auf die Begründung zu dem die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ändernden Art 8 verweist (BT-Drucks 15/3706 S 22), kann dies zumindest nicht abgeleitet werden. Dass die Entscheidung über eine Anhörungsrüge in der üblichen Beschluss-Besetzung nicht zwangsläufig zu einer Verkleinerung der Richterbank führt, sondern die systematisch richtige Besetzung ist, zeigen ein Beschluss des Finanzgerichts Hamburg vom 6. Januar 2006 – VI 161/03 –, in dem über eine Anhörungsrüge gegen einen Beschluss über eine Protokollberichtigung zu entscheiden war, und auch die vorliegende Entscheidung, in der eine Anhörungsrüge mit einer Gegenvorstellung verbunden war. Denn auch über eine Gegenvorstellung gegen eine mit ehrenamtlichen Richtern getroffene Entscheidung ist aufgrund der gesetzlichen Regelungen in § 40 Satz 1, § 33 Satz 2, § 12 Abs 1 Satz 2 SGG ohne Hinzuziehung von ehrenamtlichen Richtern zu entscheiden (BSG Beschluss vom 16. Februar 2006 – B 9a V 47/05 B – SozR 4-1500 § 178a Nr 4).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechend Anwendung des § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 2 der VwGO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil sich die Gerichtsgebühr unmittelbar aus Nr 7400 der Anlage 1 des Gerichtskostengesetzes ergibt.
Fundstellen
Haufe-Index 1674468 |
NZS 2007, 504 |