Verfahrensgang
SG Lübeck (Entscheidung vom 23.05.2017; Aktenzeichen S 34 U 52/14) |
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 15.11.2021; Aktenzeichen L 8 U 32/17) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. November 2021 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Im Verwaltungsverfahren hat es die Beklagte abgelehnt, die Festsetzung des Mindest-JAV in dem Verletztenrentenbescheid vom 18.12.1996 zurückzunehmen und die Festsetzung der MdE auf 40 vH in dem Bescheid vom 1.12.2009 wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse auf 50 vH zu erhöhen (Bescheide vom 28.8. und 10.9.2013; Widerspruchsbescheid vom 25.3.2014). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile vom 23.5.2017 und vom 15.11.2021). Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem vorgenannten Urteil des LSG hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Er macht Verfahrensmängel (dazu A.) und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (dazu B.) geltend.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht formgerecht begründet ist (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG). Die geltend gemachten Zulassungsgründe des Vorliegens von Verfahrensmängeln, auf denen die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) sind entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht hinreichend dargelegt bzw bezeichnet.
A. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (vgl dazu Senatsbeschluss vom 19.4.2022 - B 2 U 70/21 B - juris RdNr 10).
1. Soweit der Kläger rügt (Seite 3 der Beschwerdebegründung), das LSG habe "die Gutachter H und W nicht zur Erläuterung ihrer Gutachten im Rahmen der mündlichen Verhandlung geladen", macht er die Verletzung seines Fragerechts (§ 116 Satz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO) und damit seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) geltend. Er versäumt es jedoch darzulegen, welche objektiv sachdienlichen Fragen er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Erstattung der Gutachten rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung gestellt hat (zu diesen Anforderungen vgl nur Senatsbeschluss vom 12.4.2005 - B 2 U 222/04 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 6 sowie grundlegend BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - juris RdNr 7).
2. Auch die Sachaufklärungsrügen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 103 SGG, § 411 Abs 3, § 412 ZPO) sind nicht schlüssig bezeichnet.
a) Wenn die Beschwerdebegründung (auf Seite 3) beanstandet, das LSG habe kein "weiteres Gutachten auf internistischem Fachgebiet … eingeholt …, obwohl sich eine entzündliche Veränderung am Oberlappen des Klägers eingestellt" habe, versäumt sie es bereits, Fundstelle und Wortlaut eines prozessordnungskonformen Beweisantrags - im hier maßgeblichen Sinn der ZPO (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 402 ZPO ff) - wiederzugeben und darzulegen, der im Berufungsverfahren rechtskundig vertretene Beschwerdeführer habe einen derartigen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem LSG durch einen entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten (stRspr; vgl zB Senatsbeschluss vom 17.5.2022 - B 2 U 167/21 B - juris RdNr 12). Im Gegenteil: Die Beschwerdebegründung räumt auf Seite 3 selbst ein, dass der Kläger keinen förmlichen Beweisantrag gestellt hat.
b) Soweit der Kläger ferner rügt, das LSG habe es ermessensfehlerhaft unterlassen, das Erscheinen der Sachverständigen von Amts wegen anzuordnen, damit sie ihre schriftlichen Gutachten erläutern (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO), muss sich diese Sachaufklärungsrüge gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ebenfalls auf einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag beziehen, der bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch einen entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten worden ist und dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (dazu BSG Beschlüsse vom 21.7.2010 - B 5 R 154/10 B - juris = BeckRS 2010, 72088, RdNr 7 f, vom 1.3.2010 - B 13 R 583/09 B - BeckRS 2010, 67533 RdNr 7 und grundlegend vom 27.11.2007 - B 5a/5 R 60/07 B - SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 11). Auch hieran fehlt es.
c) Erst recht lässt das Beschwerdevorbringen nicht erkennen, dass der Kläger gegenüber dem LSG substantiiert geltend gemacht hätte, beide Sachverständigengutachten seien "ungenügend" (iS des § 412 Abs 1 ZPO iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG) und deshalb als Beweisgrundlage völlig ungeeignet, sodass von Amts wegen die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens veranlasst gewesen wäre. Der Kläger verkennt, dass die Prozessordnungen keinen allgemeinen Anspruch auf Beiziehung eines Obergutachtens vorsehen (BSG Beschlüsse vom 24.6.2020 - B 9 SB 79/19 B - juris RdNr 11 und grundlegend vom 23.5.2006 - B 13 RJ 272/05 B - juris RdNr 5, 11). Vielmehr ist es Aufgabe des Tatrichters, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegenstehenden Gutachtenergebnissen auseinanderzusetzen (Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 749). Hält das Gericht eines oder mehrere Gutachten für überzeugend, darf es sich diesen anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen (BSG Beschluss vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8; Kummer aaO). Das gilt erst recht im Rahmen der MdE-Bewertung, die auf der Basis allgemeiner Erfahrungssätze (MdE-Tabellen) durch Schätzung des Tatrichters festzustellen ist. Zwar mögen ärztliche Schätzungen dafür bedeutsame, vielfach unentbehrliche Anhaltspunkte bieten (Senatsbeschluss vom 11.9.1958 - 2 RU 68/56 - SozR Nr 3 zu § 608 RVO aF = juris RdNr 6). Verwaltung und Gerichte sind an ärztliche Schätzungen aber nicht gebunden, sondern haben die MdE in eigener Verantwortung zu prüfen und ggf zu korrigieren. Denn die Bemessung des Grades der MdE ist eine tatsächliche Feststellung, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamtem Umstände des Einzelfalls gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung trifft (Senatsurteile vom 20.12.2016 - B 2 U 11/15 R - BSGE 122, 232 = SozR 4-2700 § 56 Nr 4, RdNr 15, vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3 RdNr 16, vom 19.12.2000 - B 2 U 49/99 R - juris RdNr 17 und grundlegend vom 29.11.1956 - 2 RU 121/56 - BSGE 4, 147, 149 = SozR Nr 2 zu § 555 RVO aF). Dass und warum vorliegend ausnahmsweise etwas anderes gelten könnte, legt die Beschwerdebegründung nicht hinreichend dar.
B. Die Grundsatzrüge bleibt ebenfalls erfolglos. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit, also Entscheidungserheblichkeit, sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (stRspr; vgl zB Senatsbeschlüsse vom 23.3.2022 - B 2 U 197/21 B - juris RdNr 7, vom 16.3.2022 - B 2 U 164/21 B - juris RdNr 9, vom 30.7.2019 - B 2 U 239/18 B - juris RdNr 2, vom 7.3.2017 - B 2 U 140/16 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 5 und vom 30.8.2016 - B 2 U 40/16 B - SozR 4-1500 § 183 Nr 12 RdNr 5; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Anforderungen vgl zB BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24). Diese Voraussetzungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
"ob für die Festsetzung des JAV bei einem Arbeitsunfall vor dem Eintritt der Gesetzesänderung mit Ablauf des 31.12.1994 bei einer Bescheiderteilung nach diesem Datum zugrunde zu legen ist oder die ab dem 01.01.1995 geltende Vorschrift des § 15 Abs. 1 Sz. 2 SGB IV ist bislang höchstrichterlich seitens des Bundessozialgerichts nicht entschieden worden und bedarf einer abschließenden Klärung." (Bl 6 Beschwerdebegründung)
Damit ist die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht dargetan. Die Beschwerdebegründung versäumt es bereits, auf die umfangreiche Rechtsprechung des BSG zum intertemporalen Recht im Allgemeinen und zum anwendbaren Recht im Rahmen des § 44 SGB X im Besonderen einzugehen und die Klärungsbedürftigkeit der angesprochenen Problematik darzulegen. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht bzw das BVerfG diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl zB Senatsbeschluss vom 7.3.2017 - B 2 U 140/16 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 8 und grundlegend BSG Beschluss vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17). Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG sowie ggf der einschlägigen Rechtsprechung aller obersten Bundesgerichte zu dem Problemkreis substantiiert vorgetragen werden, dass zu dem angesprochenen Fragenbereich noch keine Entscheidung gefällt oder durch die schon vorliegenden Urteile die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet ist (BSG Senatsbeschluss vom 7.3.2017 - B 2 U 140/16 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 8 und BSG Beschluss vom 7.12.2017 - B 5 R 246/17 B - juris RdNr 9). Hieran fehlt es.
Nach den allgemeinen Regeln des intertemporalen Rechts beurteilt sich die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche bzw Rechtsverhältnisse grundsätzlich nach dem Recht, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat, soweit später in Kraft getretenes Recht nicht ausnahmsweise etwas anderes bestimmt (Senatsurteil vom 28.4.2004 - B 2 U 12/03 R - juris RdNr 22 f - SozR 4-2700 § 70 Nr 1 RdNr 13 f; BSG Urteile vom 4.9.2013 - B 10 EG 6/12 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 24 RdNr 37 mwN, vom 22.6.2010 - B 1 KR 29/09 R - SozR 4-2500 § 275 Nr 4 RdNr 14, vom 24.3.2009 - B 8 SO 34/07 R - SozR 4-5910 § 111 Nr 1 RdNr 9, vom 27.8.2008 - B 11 AL 11/07 R - SozR 4-4300 § 335 Nr 1 RdNr 13 mwN und vom 23.1.2008 - B 10 EG 5/07 R - BSGE 99, 293 = SozR 4-7837 § 27 Nr 1, RdNr 20; ebenso Kopp, SGb 1993, 593, 595 f: Grundsatz der Sofortwirkung und Nicht-Rückwirkung des neuen Rechts sowie Grundsatz des "tempus regit actum"). Für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit "bei Erlass eines Verwaltungsaktes" (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X) ist auf die damalige Sach- und Rechtslage, jedoch aus heutiger Sicht ("geläuterte Rechtsauffassung") abzustellen (Senatsurteile vom 30.1.2020 - B 2 U 2/18 R - BSGE 130, 1 = SozR 4-2700 § 8 Nr 70 und vom 26.1.1988 - 2 RU 5/87 - BSGE 63, 18, 23 = SozR 1300 § 44 Nr 31 S 84; BSG Urteil vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 14; Steinwedel in Kasseler Kommentar, Stand 12/2021, § 44 SGB X RdNr 38). Auf dieser Basis hätte der Kläger im Einzelnen darlegen müssen, welche Übergangs- bzw Überleitungsbestimmung(en) das am 1.1.1995 in Kraft getretene Recht mit Blick auf die Neufassung des § 15 Abs 1 Satz 2 SGB IV ggf enthält und warum sich die Frage mit den bereits vorhandenen Rechtsgrundsätzen des intertemporalen Rechts und zum anwendbaren Recht im Rahmen des § 44 SGB X nicht beantworten lässt. Im Übrigen fehlen jegliche Ausführungen zur Breitenwirkung der angesprochenen Problematik, die sich auf eine Rechtsänderung zum 1.1.1995 und auf deren Wirkung für davorliegende Zeiträume bezieht.
Auf die vermeintliche Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung und bzw oder der herangezogenen ärztlichen Gutachten kann die Nichtzulassungsbeschwerde keinesfalls gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Hüttmann-Stoll Karl Karmanski
Fundstellen
Dokument-Index HI15365134 |