Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 19.08.1993) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. August 1993 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Bei der Klägerin hatte der Beklagte mit Bescheid vom 31. August 1989 idF des Widerspruchsbescheides vom 25. April 1990 als Behinderungen „depressive Verstimmung, Schulter-Arm-Syndrom, Wirbelsäulensyndrom bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, Wurzelkompressionssymptomatik, Hemicolektomie rechts nach Divertikelperforation, operativ behandeltes Sulcus-ulnaris-Syndrom links und Varikosis” mit einem Gesamt-GdB von 60 anerkannt. Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten zur Anerkennung der weiteren Behinderungen „Diabetes mellitus” und „Hörminderung beidseits” sowie zur Feststellung der Voraussetzungen für die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und B (Notwendigkeit einer Begleitperson bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG insofern abgeändert, als es die Klage hinsichtlich der Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B abwies. Die Klägerin begehrt Zulassung der Revision mit der Begründung, das LSG habe festgestellt, sie leide infolge ihrer mit Angstzuständen und Eifersuchtswahn verbundenen Depression an einer starken Antriebsminderung, deretwegen sie sich nicht mehr zutraue, das Haus allein zu verlassen. Fest stehe auch, daß auf den Spaziergängen in Begleitung ihres Ehemannes gelegentlich Bewegungsstopps aufträten, die nur nach Aufforderung durch den Ehemann überwunden werden könnten. Gleichwohl habe das LSG keine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr angenommen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für diesen Nachteilsausgleich durch eine Begleitperson (Ehemann) beseitigt werden könnten. Die Frage, ob dies zulässig sei, sei von grundsätzliche Bedeutung.
Entscheidungsgründe
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unbegründet. Der Rechtssache fehlt die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Es mag sein, daß die aufgeworfene Rechtsfrage klärungsbedürftig ist, weil es für eine größere Anzahl von Fällen Bedeutung erlangen könnte, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens G dann verneint werden können, wenn sie nur wegen des – notwendigen – Vorhandenseins einer Begleitperson nicht vorliegen. Der unterbreiteten Rechtsfrage fehlt aber die Klärungsfähigkeit, weil die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von ihrer Beantwortung abhängt.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens G fehlen nämlich bei der Klägerin schlechthin und nicht erst deswegen, weil ihr Ehemann als Begleitperson zur Verfügung steht. Vielmehr ist die Klägerin von vornherein nicht in ihrer „Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt” iS des § 59 Abs 1 Satz 1, § 60 Abs 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Gemäß der zuletzt genannten Bestimmung idF der Neubekanntmachung des SchwbG vom 26. August 1986 (BGBl I S 1421, berichtigt S 1550) ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Diese Bestimmung hat denselben Wortlaut wie § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 (BGBl I S 989). Mit dieser Regelung sollte gegenüber dem früheren Rechtszustand der Personenkreis der freifahrtberechtigten Schwerbehinderten erweitert werden (vgl BT-Drucks 8/2453 S 9). Zu diesem Zweck wurde anstelle des Begriffs „erhebliche Gehbehinderung” der Begriff „erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr” eingeführt. Im Gegensatz zu früher sollten nicht mehr nur Personen, deren Gehvermögen durch Schädigungen des Stütz- und Bewegungssystems beeinträchtigt war, sondern auch solche Personen Vergünstigungen erhalten, deren Gehvermögen durch innere Leiden eingeschränkt war (vgl Amtliche Begründung zu § 58 des Regierungsentwurfs in BT-Drucks aaO S 10). Außerdem sind im heutigen § 60 Abs 1 Satz 1 SchwbG noch gesundheitliche Beeinträchtigungen genannt, durch welche die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sein kann, ohne daß das Gehvermögen betroffen ist, nämlich „Anfälle” und „Störung der Orientierungsfähigkeit”. Diese zusätzlichen Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit werden der Beeinträchtigung des Gehvermögens gegenübergestellt. Ihre Aufzählung ist abschließend. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich vorgesehen, daß diese Behinderungen zur Störung der Orientierungsfähigkeit geführt haben müssen, soweit es sich nicht um Anfallsleiden handelt. Als nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt gelten daher psychisch erkrankte Personen, deren Leiden nur mit sonstigen Beeinträchtigungen oder Störungen einhergeht, zB – wie im Fall der Klägerin – mit Verstimmungen, Antriebsminderung und Angstzuständen. Nach den Feststellungen des LSG haben die psychischen Behinderungen der Klägerin zu keiner Störung der Orientierungsfähigkeit geführt. Sie sind auch nicht „Anfällen” gleichzusetzen. Hiermit sind hirnorganische Anfälle, insbesondere epileptische Anfälle, aber auch hypoglykämische Schocks bei Zuckerkranken (vgl Nr 30 Abs 4 der „Anhaltspunkte” für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG von 1983) gemeint, also solche Anfälle, die mit Bewußtseinsverlust und Sturzgefahr verbunden sind, nicht aber Antriebsstörungen aufgrund psychischer Leiden.
Da das Leiden der Klägerin mithin auch dann keine erhebliche Beeinträchtigung der Beweglichkeit im Straßenverkehr bedingen würde, wenn seine Auswirkungen nicht durch eine Begleitperson (Ehemann) auszugleichen wären, ist die unterbreitete Rechtsfrage, inwieweit eine vorliegende Bewegungsbeeinträchtigung im Straßenverkehr allein wegen des Vorhandenseins einer Begleitperson als unerheblich gelten müßte, für den vorliegenden Rechtsstreit ohne Bedeutung.
Daß der Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens B von dem Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens G abhängt, hat der Senat bereits entschieden (vgl SozR 3870 § 58 Nr 2).
Fundstellen