Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Verbrauch einer Einverständniserklärung gem § 124 Abs 2 SGG. wesentliche Änderung der bisherigen Prozesslage: Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung. Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung
Orientierungssatz
1. Eine Einverständniserklärung im Sinne von § 124 Abs 2 SGG, die das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidungsfindung von Amts wegen zu prüfen hat, verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich geändert hat (vgl BSG vom 7.4.2011 - B 9 SB 45/10 B).
2. Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG (vgl BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B = SozR 4-1500 § 124 Nr 1).
Normenkette
SGG §§ 62, 124 Abs. 1-2; GG Art. 103 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. September 2012 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darum, ob ein Verkehrsunfall des Klägers, den er auf dem Weg von der Wohnung seiner Freundin zur Arbeitsstätte erlitt, ein Arbeitsunfall war. Das SG Koblenz hat die Beklagte zur Feststellung des Ereignisses als Arbeitsunfall verpflichtet (Urteil vom 22.7.2010). Die Beklagte hat hiergegen Berufung zum LSG Rheinland-Pfalz eingelegt.
Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter die Beklagte mit Schreiben vom 2.3.2011 um Prüfung gebeten, ob das Rechtsmittel im Hinblick auf die am 24.2.2011 durchgeführte Beweisaufnahme nicht zurückgenommen werden könne. Eine Abschrift dieses Schreibens haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Kenntnisnahme erhalten. Nachdem die Beklagte mitgeteilt hatte, dass und warum sie die Berufung aufrecht erhalte, haben sich die Beteiligten mit Schreiben vom 18. und 23.5.2011 mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Durch Verfügung vom 4.9.2012 hat der Vorsitzende des 4. Senats des LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf "Donnerstag, den 27.09.2012, 11.10 Uhr" bestimmt. Die Ladung zu diesem Termin ist den Beteiligten jeweils am 10.9.2012 zugegangen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers gibt an, zu dieser mündlichen Verhandlung im LSG erschienen zu sein, von der Protokollführerin aber die Auskunft erhalten zu haben, es werde ohne mündliche Verhandlung entschieden. Das LSG hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 27.9.2012 sodann die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Senat habe im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden können.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensfehler ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Mündlichkeitsgrundsatzes.
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Er beantragt, |
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die Revision zuzulassen. |
Die Beklagte hat sich nicht geäußert.
II. Die Beschwerde ist zulässig.
Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 und 2 SGG) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
Die Beschwerde ist auch begründet. Es liegt ein Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruht. Denn das angegriffene Urteil des Berufungsgerichts ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das LSG nicht ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden dürfen. Infolgedessen können die vom Kläger außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.
Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Eine Einverständniserklärung im Sinne dieser Vorschrift, die das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidungsfindung von Amts wegen zu prüfen hat, verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich geändert hat (BSG vom 7.4.2011 - B 9 SB 45/10 B - Juris RdNr 14). Das war hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am 27.9.2012 der Fall.
Das mit Schreiben der Beteiligten vom 18. und 23.5.2011 jeweils erklärte Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung war mit der Ladung vom 4.9.2012 zur mündlichen Verhandlung am 27.9.2012 verbraucht. Dadurch ist eine wesentliche Änderung in der bisherigen Prozesslage eingetreten. Denn mit der Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung hat das Gericht deutlich gemacht, von der Möglichkeit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nicht Gebrauch machen zu wollen, sondern den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten das Recht einzuräumen, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen und den Streitstoff umfassend zu erörtern. Das LSG hat auch zu keinem Zeitpunkt diese Ladung zur mündlichen Verhandlung wieder aufgehoben.
Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG (BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 12). Gerade die in Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. Obwohl der Vorsitzende den von ihm anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung nicht aufgehoben hat, ist die mündliche Verhandlung nicht durchgeführt und damit dem Kläger die Möglichkeit genommen worden, sich selbst oder über seine Prozessbevollmächtigte zur Sach- und Rechtslage zu äußern.
Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der gebotenen mündlichen Verhandlung zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen