Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Unfallversicherung. Widersprüchliche Gutachten. Verletzung der Amtsermittlungspflicht. Zurückverweisung durch Beschluss gem § 160a Abs. 5 SGG

 

Leitsatz (redaktionell)

Liegen unterschiedliche, sich widersprechende ärztliche Gutachten zur Höhe der BK-bedingten MdE vor, bedarf es einer ausdrücklichen Begründung des Gerichts, warum es einem Beweisantrag eines Beteiligten auf Einholung eines weiteren ärztlichen Gutachtens zu dieser Frage nicht folgt. Fehlt es daran, liegt ein Verfahrensfehler im Sinn einer Verletzung des § 103 SGG vor.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 153 Abs. 4, § 158 S. 3, § 160a Abs. 5

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Beschluss vom 16.01.2002; Aktenzeichen L 7 AL 384/00)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. Januar 2002 wird dieser Beschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der im Jahre 1940 geborene Kläger beansprucht die Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen der durch das Urteil des Sozialgerichts (SG) Lüneburg vom 10. April 2001 festgestellten Berufskrankheit (BK) nach der Nr 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) (Lärmschwerhörigkeit). Streitig ist, ob die durch diese BK bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 20 vH erreicht.

Der Kläger hat von 1954 bis 1956 eine Berufsausbildung zum Schmied durchlaufen und war im Anschluss daran bis zum Jahre 1971 in einer Schlosserei tätig. Dort war er beruflichen Lärmeinwirkungen oberhalb eines Beurteilungspegels von 85 dB(A) ausgesetzt. Für die Jahre von 1971 bis 1977 ist der Umfang der Lärmeinwirkung fraglich. Seit dem Jahre 1977 ist der Kläger als Betriebsleiter tätig, wobei es hierbei gelegentlich, insbesondere beim Betreten der Werkhalle, zu Lärmeinwirkungen kommt. Der schichtbezogene Beurteilungspegel erreicht das Maß von 85 db(A) jedoch nicht.

Auf die im Jahre 1995 durch den Arzt für Allgemeinmedizin Dr. W … erstattete Berufskrankheitenanzeige holte die Beklagte ein hals-nasen-ohrenärztliches Gutachten von Dr. K … vom 3. September 1997 (BK-bedingter Hörverlust wahrscheinlich, MdE 20 %) sowie eine Stellungnahme des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. O … vom 26. September 1997 (lärmunabhängige degenerative Schwerhörigkeit) ein. Durch Bescheid vom 14. November 1997 lehnte sie die Gewährung einer Entschädigung wegen einer Lärmschwerhörigkeit als BK ab. Im Widerspruchsverfahren zog die Beklagte ein hals-nasen-ohrenärztliches Gutachten des Dr. C … vom 20. Februar 1998 bei (BK wohl anzunehmen, MdE 15 vH) und wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 1998 zurück.

Das SG hat gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des Dr. W … vom 21. Juli 1999 eingeholt (MdE 20 vH) und die von der Beklagten vorgelegte Stellungnahme des Dr. O … vom 21. September 1999 (BK vorliegend, MdE nur 15 vH, Grundlagen der MdE-Schätzung durch Dr. W … unzureichend) berücksichtigt. Durch Urteil vom 10. April 2001 hat es unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide festgestellt, dass beim Kläger eine BK nach der Nr 2301 der Anlage 1 zur BKVO vorliege und im Übrigen die Klage abgewiesen. Die berufliche Entstehung der beim Kläger vorliegenden Hörschäden im Hochtonbereich sei wahrscheinlich. Entgegen der gutachterlichen Beurteilung des Dr. W … erreiche die MdE wegen des Ausmaßes der erstmals im Jahre 1990 dokumentierten Hörverluste nach den Tabellen von Feldmann und Röser allerdings nicht 20 vH. Die nach dem Jahre 1990 eingetretene Verschlechterung der Hörleistung könne keinesfalls der schon im Jahre 1975 endgültig beendeten Lärmtätigkeit zugerechnet werden.

Mit seiner dagegen eingelegten Berufung hat der Kläger vorgetragen, dass das Gutachten des Dr. W … sehr wohl zutreffe. Bei Zweifeln daran hätte das SG ein weiteres Gutachten einholen oder den Sachverständigen ergänzend befragen müssen. Mit Schreiben vom 20. September 2001 hat das Landessozialgericht (LSG) den Beteiligten mitgeteilt, es beabsichtige gemäß § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2001 dieser Absicht widersprochen und beantragt, „ein weiteres Gutachten zur Frage der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers und der eingeholten Audiogramme einzuholen, das diese erörtert und insbesondere auch die von Herrn Dr. H … W … geäußerte Ansicht zum unterschiedlichem Ausfall der Audiogramme bei Einholung zu unterschiedlichen Tageszeiten”. Nachdem das LSG mit Schreiben vom 23. November 2001 auf das genannte Hinweisschreiben verwiesen und erklärt hatte, danach verfahren zu wollen, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 28. November 2001 mitgeteilt, „dass die im Schriftsatz vom 24.10.2001 gestellten Beweisanträge ausdrücklich als gestellt gelten sollen”.

Durch Beschluss vom 16. Januar 2002 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat unter Hinweis auf § 153 Abs 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil des SG Bezug genommen. Insbesondere sei das SG zu Recht davon ausgegangen, dass für die Beurteilung der durch die Lärmeinwirkung bedingten MdE auf dasjenige Audiogramm zurückzugreifen sei, das die größte zeitliche Nähe zu dem Zeitpunkt der Aufgabe der möglicherweise schädigenden Lärmeinwirkung habe, hier das Audiogramm vom 24. August 1990. Hieraus habe das SG zu Recht abgeleitet, dass auch unter Einbeziehung einer etwaigen Erhöhung der MdE wegen eines Ohrgeräusches eine MdE von 20 vH jedenfalls nicht erreicht werde. Ergänzend werde insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen „auf den Beschluss des Senates vom 31. Juli 2001 Bezug genommen”. Selbst wenn, was der Senat zu Gunsten des Berufungsklägers als zutreffend unterstelle, die Hörleistung auch tageszeitlichen Schwankungen unterliege, führe dies nicht zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis. Auch unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes sei nämlich nicht gewiss, dass beim Kläger im Jahre 1990 eine rentenberechtigende MdE durch die lärmbedingte Hörstörung vorgelegen habe. Könne sich eine lärmbedingte Hörstörung nach Ende des gehörschädigenden Lärms nur durch außerhalb der Lärmeinwirkung liegende Gründe fortentwickeln, so sei für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ohne Bedeutung, ob das Gesamtausmaß der Hörstörung des Klägers zu irgendeinem Zeitpunkt nach August 1990 ein rentenberechtigendes Maß erreicht habe.

Der Kläger macht mit seiner rechtzeitig eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde als Verfahrensfehler geltend, das LSG habe gegen die §§ 153 Abs 4 und 103 SGG verstoßen. Auf die Mitteilung des LSG vom 20. September 2001 habe er mit Schreiben vom 24. Oktober 2001 die Einholung eines weiteren Gutachtens zur Frage der Beurteilung der MdE … beantragt. Diesen Antrag habe er mit Schreiben vom 28. November 2001 ausdrücklich aufrecht erhalten. Das LSG habe durch sein Vorgehen verhindert, dass er diesen Antrag in einer mündlichen Verhandlung habe stellen können, so dass zugleich § 153 Abs 4 SGG verletzt sei. Das LSG habe zu dem Beweisantrag im angefochtenen Beschluss kein Wort mehr verloren. Die angefochtene Entscheidung beruhe auch auf diesem Verfahrensmangel. Hätte das LSG eine mündliche Verhandlung durchgeführt, hätte er – der Kläger – den Beweisantrag gestellt und das Gericht hätte diesem Beweisantrag folgen können oder wäre zumindest gezwungen gewesen, eine schriftliche Entscheidung hierüber zu fassen, wogegen er dann wiederum einen anderen Antrag auf Nichtzulassung der Revision hätte stützen können.

Die Beklagte hält die Nichtzulassungsbeschwerde für unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Beschwerde des Klägers ist begründet.

Der gerügte Verfahrensfehler der Verletzung des § 103 SGG (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) liegt vor. Das LSG ist dem vom Kläger mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2001 wirksam gestellten und mit Schriftsatz 28. November 2001 aufrecht erhaltenen Beweisantrag (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 31) ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.

Obgleich der Kläger in seiner Beschwerdebegründung in erster Linie die Verletzung des § 153 Abs 4 SGG durch das LSG rügt, weil er an der Stellung des Beweisantrages in der (nicht durchgeführten) mündlichen Verhandlung gehindert worden sei, hat er alle wesentlichen Umstände, welche die Verletzung des § 103 SGG ergeben, schlüssig vorgetragen. Insbesondere hat er den schriftsätzlich wirksam gestellten Beweisantrag bezeichnet. Dass er davon ausgeht, dass dieser Antrag wegen der behaupteten Verletzung des § 153 Abs 4 SGG nicht gestellt worden sei, ist unschädlich.

Der Kläger hat mit seinem Beweisantrag die Einholung eines Sachverständigengutachtens „zur Frage der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit und der eingeholten Audiogramme …” beantragt. Diesem Beweisantrag ist das LSG ohne hinreichende Begründung dh ohne hinreichenden Grund (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 5) nicht gefolgt. Ohne hinreichenden Grund bedeutet hier, dass die Revision zuzulassen ist, wenn das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (BSG aaO sowie ua Beschluss des Senats vom 5. März 2002 – B 2 U 289/01 B –). Das ist hier der Fall. Die Bemessung des Grades der MdE, also die aufgrund des § 581 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch eine Schätzung vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfangs, der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (vgl jetzt: § 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII) ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (ständige Rechtsprechung, vgl zuletzt BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 8 mwN). Neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Die Beurteilung, in welchem Umfang die Fähigkeiten des Verletzten oder des an einer BK Erkrankten durch die Folgen des Unfalls oder durch die BK beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Bei der Beurteilung der MdE sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten (BSG aaO).

Liegen – wie hier – unterschiedliche, sich widersprechende ärztliche Gutachten zur Höhe der BK-bedingten MdE vor, bedarf es einer ausdrücklichen Begründung des Gerichts, warum es einem Beweisantrag eines Beteiligten auf Einholung eines weiteren ärztlichen Gutachtens zu dieser Frage nicht folgt. Daran fehlt es hier. Aus dem im angefochtenen Beschluss ohne dessen nähere Darstellung in Bezug genommenen Beschluss des LSG vom 31. Juli 2001 kann schon deshalb nicht zurückgegriffen werden, weil der Beweisantrag des Klägers in dem späteren Schriftsatz vom 24. Oktober 2001 gestellt worden ist. Im Übrigen enthält der Beschluss vom 31. Juli 2001 allein die Begründung, warum die Kosten des gemäß § 109 SGG vom SG eingeholten Gutachtens des Dr. W … nicht auf die Landeskasse zu übernehmen sind, und befasst sich nicht mit der Frage der durch die BK verursachten MdE. Auch der Hinweis des LSG, es unterstelle zu Gunsten des Klägers, dass die Hörleistung tageszeitlichen Schwankungen unterliege, benennt keinen hinreichenden Grund im og Sinne. Vielmehr wird aus der nachfolgenden Begründung des LSG (Beschlussumdruck Bl 5 unten) deutlich, dass das LSG, wie zuvor auch schon das SG, die Höhe der durch die Lärmschwerhörigkeit bedingten MdE im Jahre 1990 kraft eigener Beurteilung aus dem Audiogramm vom 24. August 1990 unter Auswertung der Tabellen von Feldmann und Röser ermittelt hat.

Auch ohne eine entsprechende Begründung des LSG ist nicht ersichtlich, dass das LSG sich zur Befolgung des Beweisantrages nicht gedrängt fühlen musste. Angesichts des Stands der Sachverhaltsaufklärung (widerstreitende gutachterliche Äußerungen zur Höhe der MdE, nur ein gerichtlich eingeholtes Gutachten nach § 109 SGG, das zudem zu einer dem Kläger günstigen Beurteilung der MdE kommt) und angesichts des Umstandes, dass das LSG sich nicht einem anders lautenden, es überzeugenden Gutachten anschließen konnte, sondern eine eigene Bewertung der MdE anhand der Tabellen von Feldmann und Röser vorgenommen hat, hätte es nahe gelegen, ein ärztliches Gutachten einzuholen, das unter Heranziehung der maßgeblichen allgemeinen Erfahrungssätze zur Höhe der MdE auf der Grundlage der audiografisch gesicherten, lärmbedingten Einschränkung des Hörvermögens des Klägers Stellung nimmt, um die bestehenden Zweifel auszuräumen.

Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschießen, dass das LSG nach vollständiger Aufklärung zu einer anderen Gesamtwürdigung der durch die BK des Klägers bedingten MdE gelangt wäre.

Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn – wie hier – die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1176662

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