Entscheidungsstichwort (Thema)
Gegenbeweis gegen eine Postzustellungsurkunde
Orientierungssatz
1. Der Gegenbeweis gegen eine Zustellungsurkunde, eine öffentliche Urkunde nach § 418 Abs 2 ZPO, kann nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt werden. Der Gegenbeweis wird nicht schon durch die bloße Behauptung, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben, erbracht, weil es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Vielmehr erfordert der Gegenbeweis der Unrichtigkeit den Beweis eines anderen als in der Zustellungsurkunde bezeugten Geschehensablaufs; nur so wird ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt (vgl BFH vom 10.11.2003 - VII B 366/02 = BFH/NV 2004, 509 und BSG vom 27.1.2005 - B 7a/7 AL 194/04 B).
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 2. Kammer vom 22.1.2009 - 1 BvR 3576/08).
Normenkette
ZPO § 182 Abs. 1 S. 2, § 418 Abs. 2; SGG § 202
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Beschluss vom 08.02.2007; Aktenzeichen L 5 R 330/06) |
SG Darmstadt (Urteil vom 25.04.2006; Aktenzeichen S 2 R 586/05) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Mit Beschluss vom 8.2.2007 hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Darmstadt (SG) vom 25.4.2006 als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das erstinstanzliche Urteil sei dem Kläger ausweislich der Postzustellungsurkunde am 11.7.2006 zugestellt worden. Seine Berufungsschrift vom 30.9.2006 sei erst am 9.10.2006 beim SG eingegangen. Dem Kläger sei mit Schreiben vom 7.11.2006 Gelegenheit gegeben worden, bis zum 10.12.2006 Wiedereinsetzungsgründe glaubhaft zu machen. Diese Frist sei ungenutzt verstrichen. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.
Mit seiner Beschwerde hiergegen rügt der Kläger, das LSG habe verfahrensfehlerhaft nicht in der Sache entschieden, sondern die Berufung als unzulässig verworfen. Das erstinstanzliche Urteil sei ihm jedoch nicht wirksam zugestellt worden, sodass die Berufungsfrist nicht in Gang gesetzt worden sei. Verschiedenen in den Akten des SG befindlichen Schreiben und ärztlichen Befundberichten sei zu entnehmen, dass er bereits seit Sommer 2004 nicht mehr in M. , sondern in B. gewohnt habe. Dies hätte auch das SG erkennen müssen. Auf Wiedereinsetzungsgründe komme es unter diesen Umständen nicht an.
Der Senat hat den ehemaligen Nachbarn des Klägers in M., den Zeugen M., schriftlich dazu befragt, wie lange der Kläger seine Wohnung in M. bewohnt bzw noch regelmäßig aufgesucht und ob er dort einen Briefkasten unterhalten habe. Der Zeuge M. hat am 24.10. und 21.12.2007 bekundet, ihm sei das Datum des Auszugs des Klägers nicht bekannt; dieser habe danach noch wenige Male seine Wohnung besucht und einen Briefkasten unterhalten. Wie lange dies der Fall gewesen sei, sei ihm nicht bekannt; er habe auch - von einer oberflächlichen Begegnung im Treppenhaus abgesehen - weder Kontakt zum Kläger gehabt noch für diesen Post in Empfang genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Der gerügte Verfahrensverstoß lässt sich nicht feststellen.
Das LSG hat die Berufung des Klägers zu Recht als unzulässig, weil verspätet, verworfen. Seine am 9.10.2006 beim SG eingegangene Berufung war verspätet, weil sie nicht innerhalb der insoweit geltenden Monatsfrist nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils (§ 151 Abs 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) eingelegt worden ist.
Das Urteil des SG ist dem Kläger ausweislich der in den Akten des SG befindlichen Zustellungsurkunde am 11.7.2006 durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung zugestellt worden. Der sich hieraus ergebende Urkundsbeweis nach § 202 SGG iVm §§ 418, 182 Abs 1 Satz 2 der Zivilprozessordnung ≪ZPO≫ (vgl dazu BSG vom 27.1.2005 - B 7a/7 AL 194/04 B - mwN, veröffentlicht bei Juris) ist nicht widerlegt. Hiernach kann der Gegenbeweis gegen die Zustellungsurkunde, eine öffentliche Urkunde nach § 418 Abs 2 ZPO, nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt werden. Der Gegenbeweis wird nicht schon durch die bloße Behauptung, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben, erbracht, weil es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat (vgl BFH/NV 2004, 509) . Vielmehr erfordert der Gegenbeweis der Unrichtigkeit den Beweis eines anderen als in der Zustellungsurkunde bezeugten Geschehensablaufs; nur so wird ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt.
Dass die Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung an den Kläger in diesem Sinne falsch beurkundet worden ist, ist nicht nachgewiesen. Der Zusteller hat beurkundet, dass er das Urteil des SG am 11.7.2006 in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt habe. "Wohnung" sind die Räume, die den räumlichen Mittelpunkt im Leben des Betroffenen darstellen, den dieser regelmäßig aufsucht, auch wenn der Aufenthalt nur ein vorübergehender ist; vorübergehende - selbst länger andauernde - Abwesenheit schadet nicht (vgl Stöber in: Zöller, ZPO, 24. Aufl 2004, RdNr 4 zu § 178) . Gewährleistet werden soll, dass das Schriftstück den Empfänger erreicht. Wer sich nach außen den Anschein gibt, an einem bestimmten Ort eine Wohnung zu haben, muss dies auch bei Zustellungen gegen sich gelten lassen (vgl Zöller, aaO, RdNr 7 mwN) .
Der Senat hatte insoweit die zur Beurteilung eines - vermeintlichen - Verfahrensfehlers notwendigen Tatsachenfeststellungen selbst zu treffen (Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, RdNr 22a zu § 160) . Dass der Kläger zum Zeitpunkt der Zustellung am 11.7.2006 eine Wohnung in M. tatsächlich nicht mehr unterhalten hat, sodass der Briefkasten (oder die ähnliche Vorrichtung), in den der Postzusteller die Zustellungsurkunde eingelegt hat, nicht zur "Wohnung" des Klägers gehörte, haben diese Feststellungen nicht ergeben. Zwar hat der Kläger in einer eidesstattlichen Versicherung vom 5.6.2007 angegeben, er habe den Wohnsitz in seinem Geburtshaus in B. nie aufgegeben, sei immer dort gemeldet gewesen und habe auch durch Umzug im Sommer 2004 seinen Lebensmittelpunkt dorthin verlegt; den Wohnsitz in M. habe er im Sommer 2004 vollständig aufgegeben. Auch wird die Tatsache der Wohnsitznahme seit 2004 durch weitere eidesstattliche Erklärung der S. F. vom selben Tag bestätigt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass sich der Kläger nicht nach außen hin den Anschein gegeben hat, in M. zumindest auch eine Wohnung unterhalten zu haben.
Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass er in dem seit 2005 laufenden Rentenverfahren sowohl gegenüber der Beklagten als auch gegenüber dem SG, dort letztmalig mit Schriftsatz vom 29.3.2006, stets seine M. Adresse angegeben und die Adresse in B. lediglich in einem vorher datierten Schriftsatz vom 20.3.2006 aufgeführt hatte. Der vom Senat gehörte Nachbar des Klägers in M., der Zeuge M., hat am 24.10.2007 angegeben, das Datum des Auszugs des Klägers sei ihm nicht bekannt; der Kläger habe jedenfalls auch danach die Wohnung noch besucht. Wörtlich hat er angegeben: "Die Wohnung ist durch die Stadt M. neu vermietet". Diese Angabe hat er nachträglich durch das Durchstreichen des Wortes "ist" dahingehend berichtigt, dass die Wohnung durch die Stadt M. neu vermietet "wird"; Angaben zum Zeitpunkt hat er nicht gemacht. Der Zeuge bestätigt ferner, dass der Kläger einen Briefkasten unterhalten habe, wie lange, sei ihm nicht bekannt. Auch sei am Eingang nach dem Auszug des Klägers weiter sein Name vermerkt gewesen. Am 21.12.2007 hat der Zeuge M. bekundet, dass er zu keiner Zeit für den Kläger Post in Empfang genommen und an ihn weitergeleitet habe; es sei möglich, dass er den Kläger vor einem halben Jahr im Treppenhaus getroffen und kurz oberflächlich mit ihm gesprochen habe.
Die Würdigung der Zeugenaussage ergibt, dass der Kläger auch nach dem Sommer 2004 zumindest den Anschein gesetzt hat, in M. weiterhin eine Wohnung zu unterhalten. Weiterhin ist nicht widerlegt, dass zu dieser Wohnung ein mit Namen des Klägers versehener Briefkasten (oder eine ähnliche Vorrichtung) existierte, in den der Postzusteller auch am 11.7.2006 das Urteil des SG einlegen konnte.
Gleiches gilt für die Ausführungen des Klägers, wonach Arztbriefe des Dr. S. vom 6.2.2006 und des Dr. Sch. vom 8.7.2005 jeweils die klägerische Anschrift in B. ausweisen und er selbst am 20.3.2006 Unterlagen unter Angabe seiner Anschrift in B. eingereicht habe. Beides schließt nicht aus, dass der Kläger - zumindest auch - in M. weiterhin eine Wohnung unterhalten oder zumindest den Anschein hervorgerufen hat. Immerhin hat er nach dem von ihm angegebenen Umzugszeitpunkt Sommer 2004 auch den an die Anschrift in M. gesandten Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 26.10.2005 in Empfang genommen. Ferner hat er offenkundig die Ladung des SG zu einem Termin am 21.3.2006 erhalten, die am 3.3.2006 ebenfalls durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung zugestellt worden ist. Am 29.3.2006 hat der Kläger schließlich einen Bescheid des Versorgungsamts Darmstadt vom 16.3.2006 (ebenfalls zugestellt an die Anschrift in M.) an das SG weitergeleitet und dabei im Briefkopf wieder die Anschrift in M. angegeben. Noch das Schreiben vom LSG vom 7.11.2006 ist dem Kläger in M. am 16.11.2006 laut Postzustellungsurkunde durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung zugestellt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2136283 |
JurBüro 2009, 224 |