Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßurteil anstatt Sachurteil als Verfahrensmangel

 

Orientierungssatz

Zwar kann es einen Mangel des Verfahrens iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG darstellen, wenn das Berufungsgericht anstatt einer nach den Umständen des Falles gebotenen Sachentscheidung ein Prozeßurteil erläßt. Das hat jedoch notwendigerweise zur Voraussetzung, daß das Berufungsgericht über die Berufung nicht sachlich entschieden, sondern sie als unzulässig verworfen hat. Die Zulässigkeit der Klage ist jedoch von derjenigen der Berufung zu unterscheiden. Wird letztere mit der Begründung zurückgewiesen, schon die Klage sei unzulässig gewesen, so stellt auch dies eine Sachentscheidung über die Berufung und der Hinweis auf die Unzulässigkeit der Klage lediglich die Begründung dieser Sachentscheidung dar.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 2 Nr 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.08.1988; Aktenzeichen L 13 An 37/88)

 

Gründe

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. August 1988 ist unbegründet.

Auf die Beschwerde ist die Revision ua zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, wobei der geltend gemachte Verfahrensmangel auf die Verletzung bestimmter Verfahrensvorschriften nicht oder nur unter eingeschränkten Voraussetzungen gestützt werden kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). In der Begründung der Beschwerde muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

Die von der Klägerin angeführten Zulassungsgründe liegen nicht vor. Die Rechtssache hat nicht die ihr von der Klägerin beigelegte grundsätzliche Bedeutung, und der geltend gemachte Verfahrensmangel ist nicht gegeben.

Einen Verfahrensmangel erblickt die Klägerin darin, daß das LSG den Klageanspruch, bezogen auf einen Versicherungsfall vom Februar 1985, wegen Nichterfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für unbegründet und im übrigen für unzulässig gehalten habe, weil über die Frage einer etwaigen Nachentrichtung von Beiträgen bislang ein Verwaltungsverfahren nicht stattgefunden habe. Die insoweit getroffene Prozeßentscheidung anstatt der gebotenen Sachentscheidung stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Mit der Neuformulierung ihrer Klageanträge habe sie (Klägerin) nicht einen neuen selbständigen Anspruch auf Zulassung zur nachträglichen Beitragsentrichtung geltend gemacht, sondern bei unverändertem Klagegrund lediglich unter Berücksichtigung der sich aus dem bisherigen Verfahrensverlauf und dem zwischenzeitlich ergangenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. April 1987 (BVerfGE 75, 78 = SozR 2200 § 1246 Nr 142) ergebenden Konsequenzen ihre Ausführungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ergänzt, so daß nach § 99 Abs 3 Nrn 1 und 2 SGG eine Klageänderung nicht vorgelegen habe. Selbst wenn es sich aber um eine Klageänderung gehandelt habe, hätte diese ohne nochmaliges Verwaltungsverfahren als sachdienlich zugelassen werden müssen. Gehe man schließlich davon aus, daß ein erneutes Verwaltungsverfahren wegen der Zulassung zur Beitragsnachentrichtung unabdingbare Voraussetzung einer Sachentscheidung über den erhobenen Rentenanspruch gewesen wäre, hätte das Berufungsgericht nach § 202 SGG iVm § 148 der Zivilprozeßordnung (ZPO) das Verfahren zur Durchführung eines Verwaltungsverfahrens aussetzen müssen, um den dann ergehenden weiteren Bescheid gemäß § 96 SGG in die Sachentscheidung einzubeziehen.

Diese Begründung kann schon von ihrem Ausgangspunkt her nicht durchgreifen. Zwar kann es einen Mangel des Verfahrens iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG darstellen, wenn das Berufungsgericht anstatt einer nach den Umständen des Falles gebotenen Sachentscheidung ein Prozeßurteil erläßt (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160a Nr 55 S 73). Das hat jedoch notwendigerweise zur Voraussetzung, daß das Berufungsgericht über die Berufung nicht sachlich entschieden, sondern sie als unzulässig verworfen hat. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Das LSG hat - auch im Zusammenhang mit der von der Klägerin begehrten Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Ablauf des hierfür in § 140 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorgeschriebenen Zeitraums - ihre Berufung nicht als unzulässig verworfen, sondern als unbegründet zurückgewiesen. Zwar hat es dazu zur Begründung ausgeführt, an einer Entscheidung über die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung sehe es sich deshalb gehindert, weil hierüber ein Verwaltungsverfahren bisher nicht stattgefunden habe und die Klage insoweit unzulässig sei. Die Zulässigkeit der Klage ist jedoch von derjenigen der Berufung zu unterscheiden. Wird letztere mit der Begründung zurückgewiesen, schon die Klage sei unzulässig gewesen, so stellt auch dies eine Sachentscheidung über die Berufung und der Hinweis auf die Unzulässigkeit der Klage lediglich die Begründung dieser Sachentscheidung dar. Damit liegt der von der Klägerin gerügte Mangel des Berufungsverfahrens nicht vor. Bei zutreffender Beurteilung der prozeßrechtlichen Situation beinhaltet das Beschwerdevorbringen in Wirklichkeit die Rüge, das LSG habe bezüglich der Frage einer Zulassung zur Beitragsnachentrichtung in der Sache "unrichtig" entschieden. Auf eine solche Rüge kann die Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

Von grundsätzlicher Bedeutung ist nach Meinung der Klägerin die Rechtsfrage, ob die Erschwerung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) oder wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I S 1532; HBeglG 1984) entsprechend dem Beschluß des BVerfG vom 8. April 1987 (aaO) auch dann verfassungsgemäß sei, wenn der Versicherte von der Neuregelung keine Kenntnis erlangt habe und deshalb nicht in der Lage gewesen sei, innerhalb der Frist des § 140 Abs 1 AVG weitere Beiträge zu entrichten, oder ob nicht in diesen Fällen eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend geboten sei, daß Beiträge nach Art 2 § 7b Abs 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) idF des HBeglG 1984 auch außerhalb der Frist des § 140 Abs 1 AVG entrichtet werden könnten bzw die für Pflichtbeiträge geltende Härteregelung des § 140 Abs 3 AVG entsprechend anzuwenden sei.

Bezüglich dieser Rüge bestehen Bedenken bereits gegen die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde. Zweifelhaft ist, ob iS des §160a Abs 2 Satz 3 SGG die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache formgerecht dargelegt worden ist. Eine Rechtsfrage ist regelmäßig nicht mehr klärungsbedürftig, wenn sie vom Revisionsgericht bereits geklärt worden ist. Von der Regel kann abgewichen und die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage ausnahmsweise bejaht werden, wenn der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen worden ist und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht worden sind. Eine Klärungsbedürftigkeit in diesem Sinne hat der Beschwerdeführer darzulegen (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 S 19 f). Das BSG hat bereits ausgesprochen, es gelte auch im öffentlichen Recht der Grundsatz "Unkenntnis des Rechts schadet immer" (BSGE 34, 1, 13 = SozR Nr 24 zu § 29 RVO), und es bestehe eine unwiderlegliche Vermutung dafür, daß ordnungsgemäß veröffentlichte Rechtsvorschriften jedem Staatsbürger bekannt seien (BSG SozR Nr 6 zu § 145 SGG). Daß, von welcher Seite und mit welcher Begründung dieser Rechtsprechung speziell im Zusammenhang mit der zur Aufrechterhaltung des Invaliditätsschutzes gemäß Art 2 § 7b Abs 1 AnVNG erforderlichen Beitragsentrichtung (dazu auch Urteil des beschließenden Senats in BSG SozR 5750 Art 2 § 6 Nr 5) widersprochen worden ist, ist der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen.

Die hieraus resultierenden Zulässigkeitsbedenken brauchen jedoch nicht abschließend erörtert zu werden. Jedenfalls ist die Nichtzulassungsbeschwerde auch insoweit, als mit ihr eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht worden ist, unbegründet. Zur grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtsfrage gehört neben deren Klärungsbedürftigkeit auch ihre Klärungsfähigkeit. Das Revisionsgericht muß nach und aufgrund der Zulassung der Revision in der Lage sein, über die klärungsbedürftige Rechtsfrage auch sachlich entscheiden zu können, weil nur unter dieser Voraussetzung die angestrebte Entscheidung geeignet ist, bezüglich der klärungsbedürftigen Rechtsfrage die Rechtseinheit zu wahren oder zu sichern oder die Fortbildung des Rechts zu fördern (vgl Beschluß des Senats in BSG SozR 1500 § 160 Nr 53 S 55). Die nach Meinung der Klägerin grundsätzliche Rechtsfrage ist nicht in diesem Sinne klärungsfähig. Wie das LSG ausgeführt hat, ist im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits nicht über eine Zulassung der Klägerin zur Beitragsnachentrichtung und damit auch nicht darüber, ob diese Nachentrichtung nach Ablauf des in § 140 Abs 1 AVG vorgesehenen Zeitraums zulässig ist, zu entscheiden und die Klage insoweit unzulässig. Hiervon ist auch bei der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde auszugehen, weil aus den bereits dargelegten Erwägungen der demgegenüber geltend gemachte Grund für eine Zulassung der Revision nicht vorliegt. Dann aber wäre es selbst nach und aufgrund einer Zulassung der Revision dem Bundessozialgericht verwehrt, sachlich darüber zu entscheiden, ob und ggf innerhalb welcher Fristen die Klägerin zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge für das Jahr vor Eintritt des Versicherungsfalles berechtigt ist. Diese Frage ist somit mangels Klärungsfähigkeit nicht von grundsätzlicher Bedeutung.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660889

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