Verfahrensgang

LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 19.12.2016; Aktenzeichen L 10 SB 54/15)

SG Braunschweig (Aktenzeichen S 11 SB 556/13)

 

Tenor

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 19. Dezember 2016 wird als unzulässig verworfen.

Der Beklagte hat dem Kläger die für das Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Das LSG Niedersachsen-Bremen hat mit Urteil vom 19.12.2016 einen Anspruch des Klägers auf Erstattung seiner Aufwendungen in Höhe von 36 Euro für ein Beiblatt mit Wertmarke zum Schwerbehindertenausweis für die Zeit vom 1.11.2013 bis 30.4.2014 bejaht und den Beklagten entsprechend verurteilt. Gemäß § 145 Abs 1 S 10 Nr 2 SGB IX sei die Wertmarke ohne Eigenbeteiligung auszugeben, wenn der schwerbehinderte Mensch ua für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII erhalte. Diese Voraussetzungen hätten in dem streitigen Zeitraum in der Person des Klägers vorgelegen. Nach dem Bescheid vom 16.9.2011 seien dem Kläger ausdrücklich Leistungen als Hilfe zur Pflege gemäß § 61 SGB XII, also nach dem Siebten Kapitel des SGB XII, bewilligt worden. In diesem Bescheid sei zugleich klargestellt worden, dass ein Barbetrag nach § 27b Abs 2 SGB XII berücksichtigt worden sei und dass dem Grunde nach auch die Kosten für notwendige Bekleidung nach der genannten Vorschrift auf Antrag übernommen werden würden. Bei beiden Leistungen handele es sich um solche nach dem Dritten Kapitel des SGB XII. Zudem sei auf die Vorschrift des § 19 Abs 1 SGB XII Bezug genommen worden, die die Voraussetzungen für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII beschrieben. Dem müsse der Senat allerdings nicht weiter nachgehen, da nach der Rechtsprechung des BSG (vgl Urteile vom 6.10.2011 - B 9 SB 6/10 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 3 sowie B 9 SB 7/10 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 2) die Voraussetzungen für die Ausgabe einer kostenlosen Wertmarke nicht nur bei den Personen erfüllt seien, die tatsächlich Leistungen für den laufenden Lebensunterhalt in unmittelbarer Anwendung des Dritten oder Vierten Kapitels des SGB XII bezögen, sondern auch bei solchen Personen, die diese Leistungen nur in entsprechender Anwendung dieser Vorschriften erhielten, aber materiell-rechtlich weitgehend Sozialhilfeempfängern gleichgestellt seien. Dementsprechend habe der Kläger Leistungen von dem Landkreis G. in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII bezogen. Auch bei einer Person, die - wie der Kläger - in einer stationären Einrichtung untergebracht sei, beinhalte die Hilfe zur Pflege nach § 61 SGB XII allein die durch die pflegerischen Leistungen bedingten Kosten. Dies werde aus § 61 Abs 2 S 1 und 2 SGB XII deutlich, der wegen des Inhalts der Leistungen auf § 28 Abs 1 Nr 1, 5 bis 8 SGB XI verweise. Dass dem Kläger somit gleichwohl Sozialhilfe gewährt worden sei, folge allein aus einer Anwendung der Vorschriften des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII. Ein Anspruch des Klägers auf die Berücksichtigung des Regelsatzes für den allgemeinen Lebensunterhalt ohne Unterkunft und Heizung folge allein aus § 42 Nr 1 iVm § 27a SGB XII. Auch die Berücksichtigung des Bedarfs für Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bzw des darüber hinausgehenden Barbetrages folge aus § 42 Nr 2 iVm § 32 und § 27b Abs 2 SGB XII. Bei all den genannten Vorschriften handele es sich um solche des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII. Dass der Kläger darüber hinaus als Bezieher von Hilfe zur Pflege materiell-rechtlich weitgehend Sozialhilfeempfängern gleichgestellt sei, folge auch daraus, dass der rein rechnerische Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt bei gleichzeitigem Bezug von Hilfe zur Pflege nicht seinen selbstständigen Charakter verliere.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Beklagte Beschwerde zum BSG eingelegt und diese mit dem Bestehen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sowie mit einer grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) begründet.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil weder eine geltend gemachte Divergenz (1.) noch eine grundsätzliche Bedeutung (2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).

1. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz entsprechend den gesetzlichen Anforderungen (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.10.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich das Recht fehlerhaft angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN). Der Beklagte legt allerdings die für eine Divergenz notwendigen Voraussetzungen nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar.

Zwar führt der Beklagte die bereits vom LSG in der angefochtenen Entscheidung benannten Urteile des BSG vom 6.10.2011 (B 9 SB 6/10 R und B 9 SB 7/10 R) an und macht geltend, dass das LSG von diesen BSG-Entscheidungen abweiche, weil es Beziehern von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII solche Personen gleichstelle, denen für die Bestreitung der Aufwendungen ihres persönlichen Bedarfs nur der Barbetrag nach § 27b Abs 2 SGB XII zur Verfügung stehe. Mit diesen Ausführungen legt der Beklagte allerdings keinen Rechtssatz aus der LSG-Entscheidung dar, der einem Rechtssatz aus den benannten BSG-Entscheidungen widersprechen könnte. Tatsächlich rügt die Beschwerdebegründung, das LSG habe die höchstrichterlichen Vorgaben für die Feststellung der Voraussetzungen nach § 145 Abs 1 S 10 Nr 2 SGB IX unrichtig angewandt und daher den Beklagten zu Unrecht verurteilt, die von dem Kläger gezahlten 36 Euro für die Wertmarke zu erstatten. Damit rügt der Beklagte die unrichtige Anwendung des Gesetzes. Die behaupteten Fehler der Rechtsanwendung sind jedoch für sich allein, wie oben bereits dargestellt, kein Zulassungsgrund (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7). Darüber hinaus behauptet der Beklagte nicht einmal, dass das LSG einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat, mit dem es den vom BSG aufgestellten rechtlichen Kriterien für die Anwendung des § 145 Abs 1 S 10 Nr 2 SGB IX widersprechen wollte. Tatsächlich hat sich das LSG in der angefochtenen Entscheidung gerade auf die Rechtsprechung des BSG berufen und ist dieser gefolgt.

2. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.

Der Beklagte hält die folgende Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung:

"Berechtigt der Bezug von Leistungen allein nach dem Siebten Kapitel des SGB XII zum Anspruch auf Ausgabe einer Wertmarke ohne Eigenbeteiligung, soweit im übrigen die sonstigen Voraussetzungen gemäß § 145 SGB IX erfüllt sind?"

Der Beklagte hat es bereits versäumt darzulegen, weshalb es auf diese Fragestellung für die Entscheidung des LSG überhaupt ankommt, da dieses das Vorliegen von Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII bzw diesen Kapiteln entsprechender Leistungen bejaht hat und nicht auf das Vorliegen von Leistungen nach dem Siebten Kapitel des SGB XII abstellt. Insofern hätte es auch weiterer Ausführungen dazu bedurft, weshalb nicht bereits nach dem Gesetzestext des § 145 Abs 1 S 10 Nr 2 SGB IX alleinige Leistungen nach dem Siebten Kapitel des SGB XII für einen Anspruch auf Ausgabe einer Wertmarke ohne Eigenbeteiligung iS von § 145 SGB IX ausscheiden. Gleiches gilt hinsichtlich der genannten Entscheidungen des BSG, sodass bereits nicht klar ist, ob die formulierte Rechtsfrage überhaupt ungeklärt oder gar entscheidungserheblich ist.

Soweit die Beschwerde eine Auslegung durch das LSG entgegen dem Wortsinn und entgegen der vom BSG zitierten Rechtsprechung in dem Sinne kritisiert, dass auch Leistungen nach dem Siebten Kapitel des SGB XII den Kapiteln Drei und Vier des SGB XII entsprechen könnten, fehlt es an einer Darstellung zur Methodik der Auslegung, um eine grundsätzliche Bedeutung darzulegen. Schließlich kritisiert der Beklagte auch in diesem Zusammenhang tatsächlich die rechtliche Würdigung des Sachverhalts durch das LSG in dessen angefochtener Entscheidung, weil das LSG insoweit übersehe, dass die Gewährung von Taschengeld nach § 27b Abs 2 sowie § 35 Abs 2 aF SGB XII nicht geeignet sei, den Lebensunterhalt zu sichern. Eine Fehlerhaftigkeit der Entscheidung des LSG ist jedoch nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

Schließlich erfordert die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage, dass diese Frage und damit der gesamte Rechtsstreit eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Rechtsfragen haben nur dann übergreifende Relevanz, wenn sie über den Einzelfall hinaus in weiteren Fällen streitig und maßgeblich für eine Vielzahl bereits anhängiger oder konkret zu erwartender gleich gelagerter Prozesse sind und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berühren (BSG Beschluss vom 26.1.2012 - B 5 R 334/11 B - Juris RdNr 8 mwN). Ausführungen zu anhängigen oder konkret bevorstehenden Verfahren lassen sich der Beschwerdebegründung nicht entnehmen.

3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).

4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI10700240

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