Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. revisionsrechtliche Überprüfbarkeit. Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 2108. allgemeine (generelle) Tatsachen. aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand. keine Bindungswirkung: offensichtlich falscher medizinischer Erfahrungssatz. eigenständige kritische Würdigung durch das Revisionsgericht
Orientierungssatz
1. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung (vgl BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R = BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 mwN; vgl nun auch BSG vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 10) entschieden, dass die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK (hier: BK 2108) unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüft werden können. Eine Bindung an die tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) besteht nicht, wenn das LSG von einem offenkundig falschen medizinischen Erfahrungssatz ausgegangen ist.
2. Jedenfalls im Bereich des Rechts der BKen hat das BSG aufgrund der in den Normtexten der jeweiligen BKen in der Anlage zur BKV regelmäßig vertypisierten wissenschaftlichen Aussagen die Existenz der einschlägigen Erfahrungssätze selbst festzustellen und zB auch die Konsensempfehlungen eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Aktualität hin ggf durch Sachverständige zu überprüfen. Es bleibt mithin revisionsrechtlich der Erkenntnisvorgang überprüfbar, ob das LSG nach allgemeinem Verständnis den von ihm festgestellten Sachverhalt (noch) vertretbar den in den Konsensempfehlungen aufgeführten Kategorien zugeordnet hat.
Normenkette
SGG § 163; BKV Anl 1 Nr. 2108
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 17. Mai 2018 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
I. Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 und 2110 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV vom 31.10.1997, BGBl I 2623; in Zukunft BK 2108 und BK 2110) streitig.
Die Beklagte hat die Anerkennung einer BK 2109 und 2108/2110 abgelehnt (Bescheid vom 29.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.2.2013). Das SG hat diese Bescheide abgeändert und die Beklagte verpflichtet, die BK 2108 und BK 2110 anzuerkennen und im Übrigen die Klage auf Anerkennung der BK 2109 abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 26.2.2015). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17.5.2018). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, bei dem Kläger liege eine ausreichende berufliche Belastung und eine bandscheibenbedingte Erkrankung mit korrelierender klinischer Symptomatik vor. Der Kausalzusammenhang zwischen den gefährdenden Einwirkungen während der beruflichen Tätigkeit des Klägers und seiner bandscheibenbedingten Erkrankung sei hinreichend wahrscheinlich, denn es bestehe eine Konstellation B2 bzw B4 im Sinne der sog Konsensempfehlungen (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S 211, 216 ff, 222 ff, im Folgenden Konsensempfehlungen). Das erste erforderliche Zusatzkriterium der B2-Konstellation - eine Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben - liege bei dem Kläger vor. Soweit die Beklagte die Auffassung vertrete, mit der Formulierung "mehrere Bandscheiben" seien mehr als zwei, also mindestens drei gemeint, sei dieser Auffassung nicht zu folgen. Der Mitautor der Konsensempfehlungen Bolm-Audorff habe ausgeführt, dass mit "mehreren" mindestens zwei Bandscheibensegmente gemeint seien. Dem entsprechend halte auch der Sachverständige Dr. W. die Höhenminderung an den beiden unteren Lendenwirbelsäulensegmenten des Klägers mit Prolaps für ausreichend, um das Zusatzkriterium der Konstellation B2 und damit den Kausalzusammenhang bejahen zu können.
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Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht die Beklagte die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG geltend. Sie formuliert die grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage wie folgt: |
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"Kann der für die Bejahung von BKen nach der Nr. 2108 bzw. Nr. 2110 Anlage 1 BKV erforderliche Zusammenhang zwischen bandscheibenbedingter Erkrankung und ausreichend belastender beruflicher Tätigkeit in der Befundkonstellation B2 der Konsensempfehlungen wegen Erfüllung des Zusatzkriteriums 1. Spiegelstrich, 1. Alternative, die eine Höhenminderung und/oder einen Prolaps an mehreren Bandscheiben der LWS voraussetzt, bereits dann angenommen werden, wenn insgesamt Veränderungen an nur zwei Bandscheiben der Lendenwirbelsäule (bisegmentaler Befund) vorhanden sind, oder verlangt die Befundkonstellation "B", die an sich bereits zumindest einen monosegmentalen Schaden der Bandscheibe L5/S1 oder L4/L5 voraussetzt, in Kombination mit dem Zusatzkriterium 1. Spiegelstrich, 1. Alternative, welche Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben fordert, dass insgesamt mindestens drei Segmente vom Schadensbild erfasst werden?" |
II. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des LSG ist unzulässig. Die Beklagte hat entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG den von ihr geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG nicht in der gebotenen Weise dargelegt.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine konkrete Rechtsfrage zu einer Norm des Bundesrechts aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - allgemeine Bedeutung hat und einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. In der Beschwerdebegründung muss daher angegeben werden, welche rechtliche Frage sich zu einer bestimmten Vorschrift des Bundesrechts iS des § 162 SGG stellt. Sodann ist unter Auswertung der Rechtsprechung insbesondere des BSG darzulegen, dass diese Rechtsfrage klärungsbedürftig, dh höchstrichterlich nicht geklärt, und im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65; BSG vom 30.8.2016 - B 2 U 40/16 B - SozR 4-1500 § 183 Nr 12; BSG vom 19.4.2012 - B 2 U 348/11 B - UV-Recht Aktuell 2012, 755; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Anforderungen vgl zB BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24). Schließlich ist auch aufzuzeigen, dass die Rechtssache über den Einzelfall hinaus von allgemeiner Bedeutung ist (vgl BSG vom 26.1.2012 - B 5 R 334/11 B - NZS 2012, 428 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Es kann dahinstehen, ob die Beklagte bereits hinreichend klar eine konkrete Rechtsfrage zur Auslegung und zum Anwendungsbereich einer revisiblen Norm des Bundesrechts formuliert hat. Ebenso kann dahinstehen, ob sie in der erforderlichen Art und Weise dargelegt hat, dass die aufgeworfene Frage klärungsbedürftig ist. Jedenfalls fehlt es an der erforderlichen Darlegung der Klärungsfähigkeit dieser Frage. Die Beklagte zeigt nicht hinreichend auf, dass und aus welchen Gründen das BSG im vorliegenden Verfahren in der Lage sein könnte, die gestellte Frage zu beantworten.
Bei der von der Beklagten formulierten Frage, ob der erforderliche Zusammenhang zwischen bandscheibenbedingter Erkrankung und ausreichend belastender beruflicher Tätigkeit in der Befundkonstellation B2 der Konsensempfehlungen wegen Erfüllung des Zusatzkriteriums 1. Spiegelstrich, 1. Alternative, eine Höhenminderung und/oder einen Prolaps an zwei oder an mehreren Bandscheiben der LWS voraussetzt, handelt es sich um eine Frage zu einem wissenschaftlichen Erfahrungssatz. Der Senat hat hierzu in ständiger Rechtsprechung (vgl BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 mwN; vgl nun auch BSG vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen) entschieden, dass die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüft werden können. Eine Bindung an die tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) besteht nicht, wenn das LSG von einem offenkundig falschen medizinischen Erfahrungssatz ausgegangen ist. Denn jedenfalls im Bereich des Rechts der BKen hat das BSG aufgrund der in den Normtexten der jeweiligen BKen in der Anlage zur BKV regelmäßig vertypisierten wissenschaftlichen Aussagen die Existenz der einschlägigen Erfahrungssätze selbst festzustellen und zB auch die Konsensempfehlungen eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Aktualität hin - ggf durch Sachverständige - zu überprüfen. Es bleibt mithin revisionsrechtlich der Erkenntnisvorgang überprüfbar, ob das LSG nach allgemeinem Verständnis den von ihm festgestellten Sachverhalt (noch) vertretbar den in den Konsensempfehlungen aufgeführten Kategorien zugeordnet hat.
Für eine hinreichende Darlegung der Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage hätte die Beklagte deshalb ausführen müssen, warum der von dem LSG hier zugrunde gelegte wissenschaftliche Erfahrungssatz einer revisionsrechtlichen Überprüfung zugänglich gewesen sein könnte. Hieran fehlt es. Zwar legt die Beklagte dar, dass die LSGe der Bundesländer die Frage, welcher wissenschaftliche Erfahrungssatz der in den Konsensempfehlungen verwendeten Formulierung "an mehreren Bandscheiben" zugrunde liegt, unterschiedlich beantwortet haben. Diese Divergenz der Rechtsprechung der Instanzgerichte genügt jedoch nicht, um die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zu begründen. Die Beschwerde hätte vielmehr aufzeigen müssen, dass das BSG hier aufgrund spezifischer, ggf neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft selbst zu der Prüfung der Frage befugt und in der Lage gewesen wäre, welcher wissenschaftliche Erkenntnissatz der "richtige" ist. Hierzu trägt die Beschwerde nichts vor. Der Senat ist sich bewusst, dass durch diese revisionsrechtliche Akzeptanz unterschiedlicher Erfahrungssätze bei durchaus kontroversem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur BK 2108 die Gefahr besteht, dass Tatsachengerichte zur Feststellung unterschiedlicher Erfahrungssätze gelangen können, die dann jeweils revisionsrechtlich - in den aufgezeigten Grenzen - akzeptiert werden müssten. Dieses Ergebnis ist jedoch zum einen die logische Folge der den Gerichten nur eingeschränkt eröffneten Möglichkeiten, sich den tatsächlichen aktuellen medizinischen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu verschaffen. Die damit verbundene Rechtsunsicherheit ist aber zum anderen zumindest partiell auch Folge des Normtatbestands der BK 2108, dessen Reform der Senat bereits mehrfach angemahnt hat (vgl zum Ganzen BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 mwN; vgl nunmehr auch BSG vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen).
Die Beschwerde ist daher ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG). Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Verfahrensweise vgl BVerfG vom 8.12.2010 - 1 BvR 1382/10 - NJW 2011, 1497).
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13219863 |