Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtsverfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Gehörsverletzung. Anhörungsmitteilung
Orientierungssatz
Die nicht in jeder Hinsicht ordnungsgemäß durchgeführte Anhörung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG stellt eine Gehörsverletzung dar, deren Kausalität für die angegriffene Entscheidung allerdings nicht zu unterstellen ist (vgl BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 61/12 B = juris RdNr 8). Denn weder die unvollkommen formulierte Anhörungsmitteilung noch der mangelnde Zustellungsnachweis lassen die in § 153 Abs 4 S 1 SGG festgelegten Voraussetzungen für die Befugnis des LSG, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, zwangsläufig entfallen. Davon könnte nur dann die Rede sein, wenn der Fehler den Betroffenen an Vorbringen gehindert hat, welches das LSG hätte veranlassen müssen, von einem Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG Abstand zu nehmen (vgl BSG vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B = SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 19).
Normenkette
SGG § 153 Abs. 4 Sätze 1-2, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
SG Landshut (Urteil vom 24.05.2016; Aktenzeichen S 10 R 575/15 A) |
Bayerisches LSG (Beschluss vom 01.06.2017; Aktenzeichen L 6 R 570/16) |
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für die Durchführung des Verfahrens der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Juni 2017 Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem benannten Beschluss wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I. Mit Beschluss vom 1.6.2017 hat das Bayerische LSG einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X verneint.
Die Beklagte lehnte die Gewährung der begehrten Rente erstmals mit Bescheid vom 28.6.2010 sowie nach Auswertung eines in Bosnien am 18.6.2009 erstellten Gutachtens wiederholend mit Bescheid vom 27.9.2010 ab. Sie sah den Kläger ab 14.4.2007, dem Tag der vorerst letzten stationären Aufnahme wegen seiner paranoid halluzinatorischen Psychose, als voll erwerbsgemindert an. Zu diesem Zeitpunkt seien aber die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.
Widerspruch und Klage dagegen blieben erfolglos. Das SG holte ein nervenärztliches Gutachten nach Aktenlage ein, wonach sich eine Erwerbsminderung bis zur Begutachtung in Bosnien nicht belegen lasse, zumal die festgestellte Erkrankung schubförmig auftrete. Das SG verneinte auf dieser Grundlage einen Anspruch des Klägers; die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente seien letztmals am 30.4.2002 erfüllt gewesen. Im nachfolgenden Berufungsverfahren hat der Kläger medizinische Unterlagen aus der Klinik in Nova Bila ab dem Jahr 2000 vorgelegt, in der der Kläger bis zum Jahr 2007 regelmäßig behandelt worden ist. Das LSG holte hierzu eine ergänzende Stellungnahme des Nervenarztes ein. Der Kläger nahm die Berufung in der mündlichen Verhandlung am 7.8.2014 zurück.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 15.4.2015 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag des Klägers ab. Neue ärztliche Unterlagen seien nicht vorgelegt worden. Klage und Berufung dagegen sind unter Bezugnahme auf die früheren Verfahren erfolglos geblieben.
Der Kläger hat - vertreten durch seinen Schwager - gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten Beschluss Beschwerde eingelegt und Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt. Zugleich hat er eine Vollmacht und einen bosnischen Bescheid des Zentrums für Sozialarbeit vom 27.11.2008 über eine finanzielle Hilfe vorgelegt, die mit einer am 12.11.2008 festgestellten Körperbeschädigung von 90% begründet wird.
II. 1. Der PKH-Antrag des Klägers ist abzulehnen. Nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 Abs 1 S 1 ZPO kann einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten für die Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Die Rechtsverfolgung des Klägers bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs 4 SGG) in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erfolgreich zu begründen.
Im Verfahren der als Rechtsmittel gegen die LSG-Entscheidung allein statthaften Nichtzulassungsbeschwerde (§§ 160, 160a SGG) geht es nicht darum, ob die Entscheidung des LSG richtig oder falsch ist. Vielmehr darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), die Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3).
Ein solcher Zulassungsgrund ist nach Prüfung des Streitstoffs unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers sowie des Inhalts der Gerichts- und Verwaltungsakten nicht gegeben.
Der Rechtssache kommt nach Aktenlage keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), denn sie wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen auf, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig sind. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Wertung im Einzelfall.
Anhaltspunkte dafür, dass eine Divergenzrüge (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) Aussicht auf Erfolg versprechen könnte, bestehen nicht. Eine Divergenz kann nur dann zur Revisionszulassung führen, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem abstrakten Rechtssatz in einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat (vgl BSG Beschluss vom 29.11.1989 - 7 BAr 130/88 - SozR 1500 § 160a Nr 67 S 89). Derartige Rechtssätze sind nicht auszumachen.
Die summarische Prüfung des Senats hat ebenso wenig einen Anhalt für das Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) ergeben, auf dem die Entscheidung des LSG beruhen kann.
Zwar kann ein Verfahrensmangel darin gesehen werden, dass das LSG in seiner Anhörungsmitteilung vom 6.3.2017 über das weitere Vorgehen nach § 153 Abs 4 SGG - Beschluss ohne mündliche Verhandlung - nicht ausdrücklich auf die Äußerungsmöglichkeit des Klägers hierzu hingewiesen hat (zu diesem Erfordernis bei Naturalparteien vgl BSG Urteil vom 21.6.2001 - B 7 AL 94/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 14 S 45, Juris RdNr 22). Darauf kann die Entscheidung des LSG unter Berücksichtigung der Aktenlage und des Verfahrensgangs jedoch nicht beruhen.
Die nicht in jeder Hinsicht ordnungsgemäß durchgeführte Anhörung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG stellt eine Gehörsverletzung dar, deren Kausalität für die angegriffene Entscheidung allerdings nicht zu unterstellen ist (vgl BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 61/12 B - Juris RdNr 8). Denn weder die unvollkommen formulierte Anhörungsmitteilung noch der mangelnde Zustellungsnachweis lassen die in § 153 Abs 4 S 1 SGG festgelegten Voraussetzungen für die Befugnis des LSG, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, zwangsläufig entfallen. Davon könnte nur dann die Rede sein, wenn der Fehler den Betroffenen an Vorbringen gehindert hat, welches das LSG hätte veranlassen müssen, von einem Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG Abstand zu nehmen (vgl BSG Beschluss vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 19).
Dies ist jedoch nicht ansatzweise ersichtlich. Die Entscheidung des LSG ist erst knapp drei Monate nach der Anhörungsmitteilung ergangen. Der Kläger hatte im Laufe des gesamten Verfahrens ausreichend Gelegenheit zum Vortrag und zur Vorlage von Unterlagen. Zudem war er durch den ausführlich begründeten ablehnenden PKH-Beschluss des LSG vom 20.2.2017 über die Einschätzung der Sach- und Rechtslage durch das LSG informiert. Hierauf hat er auch mit Schriftsatz vom 28.2.2017 reagiert, jedoch nur seine Forderung nach Befragung der behandelnden Ärzte wiederholt. Eine weitere Stellungnahme war daher nach Lage der Dinge nicht zu erwarten (vgl BSG Beschluss vom 31.3.2017 - B 12 KR 28/16 B - Juris RdNr 8). Auch der dem BSG vorgelegte bosnische Bescheid vom 27.11.2008 hätte zu keiner Änderung im Verfahrensgang des LSG führen können. Denn dieser Bescheid ist materiell-rechtlich nicht entscheidungserheblich, weil er Rückschlüsse auf den Eintritt der Erwerbsminderung zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht zulässt.
Soweit das LSG den Antrag des Klägers im Schriftsatz vom 28.2.2017 abgelehnt hat, seine Klinik bzw seine behandelnden Ärzte zum Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum 2002 zu befragen, ergibt sich daraus keine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 SGG). Dem nicht durch einen Rechtsanwalt vertretenen Kläger kann zwar nicht entgegengehalten werden, dass er den Antrag nicht nach Erhalt der Anhörungsmitteilung ausdrücklich aufrechterhalten hat (vgl zu diesem Erfordernis bei rechtskundig vertretenen Klägern zB BSG Beschluss vom 18.12.2000 - B 2 U 336/00 B - SozR 3-1500 § 153 Nr 12, Juris RdNr 4). Das LSG musste sich aber nicht zu weiterer Aufklärung gedrängt fühlen. Denn dem LSG waren bereits im vorangegangenen Verfahren die Dokumentation der Klinik seit August 2000 und ein Attest vom 26.4.2013 vorgelegen, wonach der Kläger seit dem Jahr 2000 unter ständiger Kontrolle und Therapie gewesen sei und es zu vorübergehenden Remissionen aber auch Verschlechterungen des Zustands gekommen sei, sodass er seitdem nicht in der Lage gewesen sei, seinen Beruf auszuüben. Nach gutachterlicher Auswertung hatte das LSG aus diesen Angaben jedoch keinen Nachweis über das Vorliegen einer Erwerbsminderung zum relevanten Zeitpunkt (spätestens April 2002) abgeleitet. Aus dem Antrag des Klägers vom 28.2.2017 wird insoweit nicht ersichtlich, welche neuen entscheidungserheblichen Tatsachen er unter Beweis stellen wollte, aus denen sich im Verfahren nach § 44 SGB X eine Unrichtigkeit des Bescheids vom 27.9.2010 wegen fehlerhafter Sachverhaltsannahme ergeben sollte.
Dass der Kläger mit der Auswertung und Würdigung der medizinischen Unterlagen durch das LSG nicht einverstanden ist, ist für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unerheblich. Denn insoweit wendet er sich gegen die Beweiswürdigung des LSG. Auf Angriffe gegen die Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) kann aber nach dem eindeutigen Wortlaut des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden.
Da kein Anspruch auf Bewilligung von PKH besteht, ist auch der Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts abzulehnen (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
2. Die von dem Schwager des Klägers eingelegte Beschwerde ist unzulässig. Sie leidet an einem Formmangel, denn sie ist - anders als § 73 Abs 4 SGG es vorschreibt - nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt worden. Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14434315 |