Entscheidungsstichwort (Thema)

Amtsenthebung eines ehrenamtlichen Richters. Wegfall der Berufungsvoraussetzungen

 

Leitsatz (amtlich)

Fällt bei einem ehrenamtlichen Richter eine der Voraussetzungen für seine Berufung weg, hat die zu treffende Entscheidung über seine Amtsenthebung konstitutive Bedeutung (Aufgabe von BSG vom 23.3.1965 - 11 RA 64/64 = BSGE 23, 26, 28f = SozR Nr 2 zu § 16 SGG).

 

Orientierungssatz

Der Senat läßt offen, ob ein ehrenamtlicher Richter auch schon vor seiner Entlassung an der weiteren Ausübung seines Amtes gehindert ist, wenn er als Arbeitgeber berufen und wegen der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nunmehr dem Kreis der Versicherten angehört. Denn dadurch könnte möglicherweise die im Gesetz vorgesehene (§ 12 Abs 2, § 33 S 2 und § 40 S 1 SGG) gleichmäßige Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Versicherten und der Arbeitgeber in den Kammern bzw Senaten für Angelegenheiten der Sozialversicherung so schwerwiegend gestört sein, daß ein derartiger Wechsel von der Arbeitgeber- zur Versichertenseite die weitere Mitwirkung des ehrenamtlichen Richters ausschließt. Beim Eintritt eines solchen Falles oder beim Vorliegen anderer wichtiger Gründe wäre zu prüfen, ob der die für Entlassung der ehrenamtlichen Richter zuständige Spruchkörper in entsprechender Anwendung des § 35 DRiG oder des § 21 Abs 5 S 5 ArbGG anordnen kann, daß der ehrenamtliche Richter bis zu der Entscheidung über die Entbindung vom Amt nicht heranzuziehen ist.

 

Normenkette

SGG § 22 Abs 1, § 47 S 2, § 40 S 1, § 12 Abs 3, § 12 Abs 2 S 2, § 33 S 2; ArbGG § 21 Abs 5; VwGO § 24; DRiG § 35

 

Gründe

Anläßlich eines Telefongesprächs betreffend die Sitzung vom 28. April 1992 informierte Dr. B das Bundessozialgericht (BSG) darüber, daß er zum 30. September 1991 auf seine Zulassung als Kassenzahnarzt verzichtet habe.

Nach § 22 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), der gemäß § 47 Satz 2 SGG auch für die ehrenamtlichen Richter am BSG gilt, ist ein ehrenamtlicher Richter seines Amtes zu entheben, wenn ua der Wegfall einer Voraussetzung für seine Berufung bekannt wird. Nachdem Dr. B auf seine Zulassung als Kassenzahnarzt verzichtet hat, ist eine Voraussetzung für seine Berufung als ehrenamtlicher Richter in einen Senat des BSG für Angelegenheiten des Kassenarztrechts und der Kassen(zahn)ärzte weggefallen; nach § 40 Satz 1 iVm § 12 Abs 3 SGG wirken in dem für die vorgenannten Angelegenheiten zuständigen Senat des BSG aus den Kreisen der Ärzte (Zahnärzte) nur "Kassenärzte (Kassenzahnärzte)" mit. Dieser Status wird mit der Zulassung als Kassen(zahn)arzt begründet und ua mit dem Wirksamwerden eines Verzichts auf die Zulassung beendet (§ 95 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V)).

Der ehrenamtliche Richter war daher - nach seiner Anhörung (§ 22 Abs 2 Satz 2 SGG) - zu entlassen.

Wegen des Verzichts auf die Zulassung als Kassenzahnarzt hat der 14. Senat des BSG Dr. B bei der Ladung zu Sitzungen bereits zweimal übergangen. Das veranlaßt den beschließenden Senat, auch darüber zu entscheiden, ob ein ehrenamtlicher Richter zwischen dem Wegfall einer Berufungsvoraussetzung und seiner Amtsentbindung noch an Entscheidungen des Gerichts mitwirken darf. Unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung (vgl BSGE 23, 26, 29 ff) ist das zu bejahen.

Die in § 22 Abs 1 SGG vorgeschriebene Amtsenthebung hat - jedenfalls beim Wegfall einer Voraussetzung für die Berufung - konstitutive Bedeutung (ebenso zB Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 188 w III; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 22 RdNr 15 mwN). Hierfür spricht bereits das förmliche Verfahren, das der Gesetzgeber zur Beendigung der Amtstätigkeit eines ehrenamtlichen Richters eingeführt hat. Dieses Verfahren dient der Unabhängigkeit des ehrenamtlichen Richters und vor allem der Rechtssicherheit. Denn es kann im Einzelfall durchaus zweifelhaft sein, ob die Voraussetzungen für die Berufung weggefallen sind. So bereitet beispielsweise die Frage der Arbeitgebereigenschaft iS von § 16 Abs 4 Nr 1 SGG dann Probleme, wenn der ehrenamtliche Richter in seinem Betrieb nur Mitarbeiter hat, deren Versicherungspflicht streitig ist. Wenn man in derartigen Fällen die Fähigkeit, ehrenamtlicher Richter zu sein, nicht erst mit der Entscheidung des für die Amtsenthebung zuständigen Senats wegfallen lassen wollte, bestünde die Gefahr, daß Entscheidungen, an denen er seit dem Wegfall der Berufungsvoraussetzungen mitgewirkt hat, wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels mit Erfolg gerügt werden könnten. Die gegenteilige Auffassung würde die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit verpflichten, ständig bei allen ehrenamtlichen Richtern zu prüfen, ob zwischenzeitlich die Voraussetzungen für die Berufung weggefallen sind. Eine derartige Pflicht obliegt den Gerichten indessen nicht. Das macht schon der Wortlaut des § 22 Abs 1 SGG deutlich. Die Amtsenthebung hat nur zu erfolgen, wenn "... der Wegfall einer Voraussetzung für seine Berufung bekannt wird".

Daß die Entlassungsentscheidung konstitutive Wirkung hat, also die Rechte und Pflichten als ehrenamtlicher Richter erst mit der Entlassung enden, wird im übrigen auch zu den - § 22 SGG entsprechenden - Vorschriften des § 21 Abs 5 des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) und des § 24 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vertreten (vgl dazu Grunzky, Kommentar zum ArbGG, 5. Aufl, § 21 Anm 13; Eyermann/Fröhler, Kommentar zur VwGO, 9. Aufl, § 24 Anm 7; Kopp, Kommentar zur VwGO, 7. Aufl, § 20 Anm 2 und § 24 Anm 3 mwN; aA Redeker/von Oertzen, Kommentar zur VwGO, 9. Aufl, § 20 Anm 2 und § 24 Anm 4, der nur in bestimmten Fällen - nicht im Fall des § 24 Abs 1 Ziff 1 VwGO - dem Beschluß konstitutive Wirkung beimessen will).

Der Senat läßt allerdings offen, ob ein ehrenamtlicher Richter auch schon vor seiner Entlassung an der weiteren Ausübung seines Amtes gehindert ist, wenn er als Arbeitgeber berufen und wegen der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nunmehr dem Kreis der Versicherten angehört. Denn dadurch könnte möglicherweise die im Gesetz vorgesehene (§ 12 Abs 2, § 33 Satz 2 und § 40 Satz 1 SGG) gleichmäßige Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Versicherten und der Arbeitgeber in den Kammern bzw Senaten für Angelegenheiten der Sozialversicherung so schwerwiegend gestört sein, daß ein derartiger Wechsel von der Arbeitgeber- zur Versichertenseite die weitere Mitwirkung des ehrenamtlichen Richters ausschließt. Beim Eintritt eines solchen Falles oder beim Vorliegen anderer wichtiger Gründe wäre zu prüfen, ob der für Entlassung der ehrenamtlichen Richter zuständige Spruchkörper in entsprechender Anwendung des § 35 Deutsches Richtergesetz (DRiG) oder des § 21 Abs 5 Satz 5 ArbGG anordnen kann, daß der ehrenamtliche Richter bis zu der Entscheidung über die Entbindung vom Amt nicht heranzuziehen ist.

Zwar hat der 11. Senat im Urteil vom 23. März 1965 - 11 RA 64/64 - (BSGE 23, 26, 28 f) die Auffassung vertreten, daß die Mitwirkung eines ehrenamtlichen Richters, bei dem die Voraussetzungen für das Richteramt erst nach der Berufung zum ehrenamtlichen Richter entfallen, der aber noch nicht seines Amtes enthoben ist, einen wesentlichen Verfahrensmangel (unrichtige Besetzung des Gerichts) darstellt. Diese Entscheidung hindert den beschließenden Senat indessen nicht, der Entlassungsentscheidung konstitutive Wirkung beizumessen. Denn der 11. Senat hat auf Anfrage mitgeteilt, daß er an seiner Rechtsauffassung nicht mehr festhalte (Beschluß vom 29. Juli 1992 - 11 S 13/92 -).

Aus Gründen der Rechtssicherheit ist davon auszugehen, daß die Änderung der Rechtsprechung erst mit der Bekanntgabe dieses Beschlusses vollzogen wird. Der Zeitpunkt der Aufgabe der Rechtsprechung durch den 11. Senat hat dabei keine Bedeutung, weil die Beantwortung der Anfrage des beschließenden Senats einen gerichtsinternen Vorgang darstellt.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662605

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