Verfahrensgang
SG Hannover (Entscheidung vom 08.02.2017; Aktenzeichen S 18 VE 31/12) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 22.06.2021; Aktenzeichen L 10 VE 22/17) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. Juni 2021 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
In dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten über die Feststellung eines höheren Grads der Schädigungsfolgen (GdS) und die Gewährung einer Rente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) zu Gunsten der Klägerin wegen der Folgen körperlicher Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs durch ihren früheren Ehemann. Das LSG hat hierauf gerichtete Ansprüche der Klägerin mit Urteil vom 22.6.2021 verneint. Insbesondere hat es die Feststellung einer zweimaligen Vergewaltigung der Klägerin am 6.2.2009 als weitere tatsächliche Angriffe iS des § 1 Abs 1 OEG abgelehnt.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt und diese mit einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, Divergenz und Verfahrensmängeln begründet.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Die Klägerin hat darin weder die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG) noch einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet.
1. Zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) muss die Beschwerdebegründung ausführen, welche Rechtsfrage sich stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist. Die Beschwerdebegründung hat deshalb anhand des anwendbaren Rechts auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Schrifttum nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (stRspr; zB BSG Beschluss vom 28.1.2019 - B 12 KR 94/18 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 29.1.2018 - B 9 V 39/17 B - juris RdNr 5).
Die Klägerin misst der Frage grundsätzliche Bedeutung zu,
"wie sich das Gericht zu verhalten hat, wenn unterschiedliche Gutachten/Stellungnahmen vorliegen die jeweils zu anderen Ergebnissen gelangen, die jedoch für den Verfahrensausgang essentiell wichtig sind".
Des Weiteren gehe es um die Frage,
"ob und inwiefern sich Gerichte hinsichtlich ihrer Entscheidung an den Einzelfall orientieren müssen und jedes Verfahren für sich bewerten muss".
Zur Erläuterung führt sie aus, das LSG habe bei seiner Entscheidung keine eigenständige Argumentation bzw Begründung hinsichtlich des Sachverhalts vorgenommen, sondern sich die Ausführungen des fehlerhaften erstinstanzlichen Urteils zu eigen gemacht. Eine eigene Bewertung habe nicht stattgefunden. Zudem hätten die von ihr (der Klägerin) dargelegten Punkte zu ihrem Gesundheitszustand keine hinreichende Beachtung gefunden und seien bei der Entscheidung nicht hinreichend bewertet worden.
Damit hat die Klägerin bereits keine hinreichend konkreten Rechtsfragen zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht aufgeworfen. Vielmehr zielen die Fragestellungen auf die Klärung und Bewertung von Tatsachen ab und beinhalten im Kern letztlich Fragen der Beweiswürdigung und der Sachaufklärung. Die Zulassung der Revision kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG aber nicht mit der Behauptung verlangt werden, das LSG habe gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung verstoßen. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass die Beschwerde ausdrücklich eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG geltend macht, sondern auch dann, wenn sie ihre Angriffe gegen die Beweiswürdigung des LSG in das Gewand einer Grundsatzrüge zu kleiden versucht. Ein Beschwerdeführer kann diese gesetzlichen Beschränkungen der Verfahrensrüge in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - soweit sie reichen - nicht erfolgreich dadurch umgehen, dass er die Rügen in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung kleidet (vgl BSG Beschluss vom 14.2.2020 - B 9 V 41/19 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 28.2.2018 - B 1 KR 65/17 B - juris RdNr 5). Die Klägerin zeigt nicht auf, dass es hier um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung geht, bei denen die gesetzlichen Beschränkungen der Verfahrensrüge nicht greifen.
Selbst wenn man die von der Klägerin formulierten Fragen in Rechtsfragen "umdeuten" könnte und wollte, hat sie es unterlassen, die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellungen darzulegen. Sie geht nicht darauf ein, inwieweit die Fragen bereits durch Gesetz oder höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt sind. Insbesondere hätte sich die Klägerin zunächst mit der ständigen Rechtsprechung des BSG auseinandersetzen müssen, wonach es Aufgabe des Tatsachengerichts ist, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegenstehenden Gutachten auseinanderzusetzen, und sich das Gericht, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen, grundsätzlich einem von mehreren Gutachten anschließen darf, sofern es dieses für überzeugend hält (vgl zB BSG Beschluss vom 20.2.2018 - B 10 LW 3/17 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8). Denn das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt, wenn die Frage bereits höchstrichterlich geklärt ist und ihre Beantwortung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt (vgl zB BSG Beschluss vom 7.3.2019 - B 9 V 40/18 B - juris RdNr 7). Dies ist nicht dargetan.
2. Auch der Zulassungsgrund der Divergenz wird nicht formgerecht bezeichnet.
Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, nämlich das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt sind. Zur ordnungsgemäßen Bezeichnung einer Divergenz sind ein oder mehrere entscheidungstragende Rechtssätze aus der Berufungsentscheidung und zu demselben Gegenstand gemachte und fortbestehende aktuelle abstrakte Aussagen aus einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG einander gegenüberzustellen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 25.10.2018 - B 9 V 27/18 B - juris RdNr 8 mwN). Hieran fehlt es. Die Klägerin benennt weder einen abstrakten Rechtssatz aus Entscheidungen dieser Gerichte bzw Spruchkörper noch stellt sie diesem einen divergierenden abstrakten Rechtssatz des LSG aus dem angefochtenen Urteil gegenüber.
3. Soweit die Klägerin meint, dass das LSG seiner Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) nicht nachgekommen sei, erfüllt ihr Vorbringen nicht die notwendigen Darlegungsanforderungen einer Sachaufklärungsrüge (s hierzu allgemein BSG Beschluss vom 21.12.2017 - B 9 SB 70/17 B - juris RdNr 3). Auf den Verfahrensmangel einer unterlassenen Sachaufklärung (§ 103 SGG) kann sich die Klägerin schon deshalb nicht mit Erfolg berufen, weil sie bereits nicht dargelegt hat, einen ordnungsgemäßen Beweisantrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG gestellt und bis zuletzt aufrechterhalten zu haben. Ein solcher Antrag muss grundsätzlich in prozessordnungsgerechter Weise formuliert sein, sich regelmäßig auf ein Beweismittel der ZPO beziehen, das Beweisthema möglichst konkret angeben und insoweit wenigstens umreißen, was die Beweisaufnahme ergeben soll (BSG Beschluss vom 6.8.2019 - B 13 R 233/18 B - juris RdNr 8 mwN). Diese Anforderungen verfehlt der Hilfsantrag der Klägerin, im Wege der Parteivernehmung ihren damaligen Ehemann sowie seine Arbeitskollegen anzuhören. Dieser enthält weder ein Beweisthema noch einen Hinweis darauf, was die Beweisaufnahme ergeben soll. Darüber hinaus ist eine Parteivernehmung auf Antrag oder von Amts wegen im sozialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehen, weil § 118 Abs 1 Satz 1 SGG nicht auf die §§ 445 ff ZPO verweist (BSG Beschluss vom 15.8.2018 - B 13 R 387/16 B - juris RdNr 6 mwN). Schließlich ist auch nicht erkennbar, dass der damalige Ehemann der Klägerin oder dessen Arbeitskollegen "Partei" bzw Beteiligte des Rechtsstreits der Klägerin gegen das beklagte Land Niedersachsen sind.
4. Dass die Klägerin die Berufungsentscheidung inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 17.4.2019 - B 13 R 83/18 B - juris RdNr 5 mwN).
5. Der Senat war nicht verpflichtet, den Prozessbevollmächtigten der Klägerin entsprechend ihrer Bitte in der Beschwerdebegründung um einen rechtlichen Hinweis "soweit weitere Ausführungen als nötig erachtet werden", vorab auf die Unzulänglichkeit des Beschwerdevortrags aufmerksam zu machen. Das Gesetz unterstellt, dass ein Rechtsanwalt in der Lage ist, Formerfordernisse einzuhalten; gerade dies ist ein Grund für den Vertretungszwang vor dem BSG gemäß § 73 Abs 4 SGG. § 106 Abs 1 SGG gilt insoweit nicht. Ein Rechtsanwalt muss in der Lage sein, ohne Hilfe durch das Gericht eine Nichtzulassungsbeschwerde ordnungsgemäß zu begründen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 29.5.2019 - B 9 V 15/19 B - juris RdNr 15 mwN).
6. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
7. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (vgl § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).
8. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14902360 |