Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. Juli 2020 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger für das Revisionsverfahren.
Gründe
I
Im Streit ist ein Anspruch der Kläger auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) noch für die Zeit vom 1.2. bis 31.3.2017.
Die Kläger sind bulgarische Staatsangehörige; sie halten sich seit 2012 (Kläger zu 1 und 2) bzw seit ihrer Geburt (Kläger zu 3 und 4, die Kinder der Kläger zu 1 und 2) in der Bundesrepublik Deutschland auf. Ihren Antrag (vom November 2016) auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII lehnte der Beklagte ab. Während das Sozialgericht (SG) Kassel den Beklagten verurteilt hat, den Klägern Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII zu zahlen, hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und den Beklagten verurteilt, den Klägern "Überbrückungsleistungen" für die Zeit vom 1.3. bis 14.3.2017 zu zahlen und die Berufung des Beklagten im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 1.7.2020).
Gegen das Urteil des LSG, dem Beklagten zugestellt am 22.7.2020, wendet sich dieser mit seiner am 21.8.2020 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangenen und vom LSG zugelassenen Revision, die noch nicht begründet ist. Mit Fax, datiert auf den 22.9.2020, beim BSG eingegangen am 23.9.2020 um 10:19 Uhr, beantragte der Beklagte "aufgrund akuter Erkrankung der juristischen Sachbearbeitung" die Verlängerung der Frist zur Abgabe der Revisionsbegründung bis zum 12.10.2020. Auf den Hinweis des Gerichts, dass die Frist zur Begründung der Revision am 22.9.2020 geendet habe und der Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist damit verspätet gestellt worden sei, beantragte der Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die sachbearbeitende Mitarbeiterin sei aufgrund eines allergiebedingt anschwellenden Gesichts mit Beeinträchtigung der Sehfähigkeit daran gehindert gewesen, die Revisionsbegründung fristgemäß einzureichen. Sie habe sich aufgrund akuter Erkrankung am 22.9.2020 nicht im Dienst befunden und die Dienststelle nur aufgesucht, um nach erfolgtem Arztbesuch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abzugeben, den Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist zu fertigen und zu unterzeichnen. Die Frist zur Abgabe der Revisionsbegründung sei daher krankheitsbedingt nicht eingehalten worden. Die Revision hat der Beklagte am 15.10.2020 begründet.
II
Die Revision ist nach § 169 Satz 2 und 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht fristgerecht begründet worden ist.
Nach § 164 Abs 2 Satz 1 SGG ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision zu begründen. Dies ist hier nicht geschehen. Die Frist zur Begründung der Revision begann mit der Zustellung des Urteils an den Beklagten am 22.7.2020 zu laufen und endete am 22.9.2020, einem Dienstag (§ 64 Abs 1 und 2 SGG). Innerhalb dieser Frist ist eine Begründung der Revision nicht erfolgt; entgegen § 164 Abs 2 Satz 2 SGG ist erst nach Ablauf der Frist, nämlich am 23.9.2020, der Antrag des Beklagten auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Revision eingegangen und damit verspätet.
Der Antrag des Beklagten, ihm wegen Versäumens der Revisionsbegründungsfrist nach § 67 Abs 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, ist abzulehnen. War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, ist ihm danach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Versäumnis der Frist muss auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht vermeidbar gewesen sein (BSG vom 10.12.1974 - GS 2/73 - BSGE 38, 248 = SozR 1500 § 67 Nr 1). Der Beklagte war nicht ohne Verschulden gehindert, die Frist einzuhalten.
Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht sind für Behörden - wie den Beklagten - die gleichen wie für Rechtsanwälte (vgl nur BSG vom 18.1.2006 - B 6 KA 41/05 R, juris, mwN), dh das Verschulden eines Justiziars sowie der weiteren von ihr beschäftigten, zur Vertretung im Prozess bevollmächtigten Personen, ist der Behörde stets zuzurechnen. Bei der Prüfung von Wiedereinsetzungsgründen ist zugleich zu berücksichtigen, dass das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör, das in Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) garantiert ist, in einem funktionellen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie steht. Die Gerichte dürfen durch ihre Auslegung und Anwendung des Prozessrechts den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Daher dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl zusammenfassend BSG vom 12.4.2018 - B 12 KR 10/17 R, juris, mwN).
Eine (eigene) Krankheit kann das Verschulden an einer Fristversäumnis grundsätzlich entfallen lassen. Das ist aber nur dann der Fall, wenn die Erkrankung in verfahrensrelevanter Form Einfluss auf die Entschluss-, Urteils- und Handlungsfähigkeit des Beteiligten hat. Die Erkrankung muss demnach so schwer sein, dass der Beteiligte selbst nicht handeln kann und auch zur Beauftragung eines Dritten nicht in der Lage ist (vgl BSG vom 20.1.1989 - 5 BJ 281/88 - juris RdNr 3; Senger in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 67 RdNr 48). Dies war hier nach dem eigenen Vortrag des Beklagten nicht der Fall. Zwar war die sachbearbeitende und den Beklagten insoweit vertretende Juristin wegen einer plötzlichen allergischen Reaktion am Tag des Fristablaufs, dem 22.9.2020, arbeitsunfähig, jedoch nach dem Arztbesuch sowohl in der Lage, die Dienstbehörde persönlich aufzusuchen, um die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abzugeben als auch einen Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist zu fertigen und selbst zu unterzeichnen. Von fehlender Handlungsfähigkeit infolge Krankheit ist folglich nicht auszugehen.
Dass der Beklagte den an sich fristwahrenden Verlängerungsantrag vom 22.9.2020 erst am 23.9.2020 und damit verspätet an das BSG per Fax versandt hat, ist seinem organisatorischen Verantwortungsbereich zuzurechnen. Der Prozessbevollmächtigte einer Partei - und damit auch der Justiziar einer Behörde - muss wegen der verfahrensrechtlichen Bedeutung von Fristen dafür Sorge tragen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig hergestellt und auch innerhalb der Frist bei dem zuständigen Gericht eingereicht wird (stRspr; vgl nur BGH vom 28.11.1990 - XII ZB 19/90 - NJW 1991, 1178; BFH vom 7.7.2003 - II B 5/03 - juris; BVerwG vom 4.10.2002 - 5 C 47/01, 5 B 33/01 - FEVS 54, 390; BSG vom 19.5.2005 - B 10 EG 3/05 B - juris; vgl im Einzelnen auch BSG vom 18.1.2006 - B 6 KA 41/05 R - juris). Gründe dafür, warum auch unter Berücksichtigung der bei voller Ausschöpfung der Frist ohnehin bestehenden erhöhten Sorgfaltspflichten (vgl nur BSG vom 8.12.2016 - B 6 KA 25/16 R - juris RdNr 3) die verantwortliche Mitarbeiterin des Beklagten nicht in der Lage war, noch am 22.9.2020 und damit fristgerecht selbst den Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist per Fax an das BSG zu senden, durch eine dritte Person senden zu lassen oder bereits vor dem Arztbesuch eine Kollegin/einen Kollegen mit der Bearbeitung fristgebundener Schriftsätze zu beauftragen, sind nicht vorgetragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14226209 |