Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsätze der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und der freien Beweiswürdigung
Leitsatz (amtlich)
- Die Grundsätze der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und der freien Beweiswürdigung erfordern, dass sich alle die Entscheidung treffenden Richter einen persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder dem Beteiligten gemacht haben, wenn sie über die Glaubwürdigkeit dieser Person befinden.
- Der persönliche Eindruck, den andere Richter einer früheren Verhandlung gewonnen haben, ist nur dann verwertbar, wenn er protokolliert oder auf sonstige Weise aktenkundig ist und sich die Beteiligten dazu äußern konnten (Anschluss an BSG vom 15.8.2002 – B 7 AL 66/01 R = SozR 3-1500 § 128 Nr 15).
Normenkette
SGG §§ 117, 128-129
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 24.06.2003; Aktenzeichen L 15 U 56/01) |
SG Gelsenkirchen (Urteil vom 30.01.2001; Aktenzeichen S 13 U 103/97) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Juni 2003 wird dieses Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger beansprucht die Entschädigung von Gesundheitsstörungen, die er auf einen von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall im Februar 1979 (Sturz auf das linke Handgelenk) zurückführt. Insbesondere ist streitig, ob die beim Kläger vorliegende Kahnbeinpseudarthrose und der ihr zwingend vorausgegangene Kahnbeinbruch durch den Arbeitsunfall oder durch einen früheren unversicherten Unfall hervorgerufen worden sind.
Nachdem die Beklagte mit Bescheid vom 17. April 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. August 1997 die Gewährung von Rente wegen des Arbeitsunfalles abgelehnt hatte, weil die Erwerbsfähigkeit des Klägers über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus nicht in dem rentenberechtigenden Grade gemindert sei, hat das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Januar 2001). Es sei nicht erwiesen, dass der angeschuldigte Arbeitsunfall den Kahnbeinbruch verursacht habe. Das Landessozialgericht (LSG) hat im Erörterungstermin am 30. November 2001 durch seinen Berichterstatter Richter am LSG We… …Herrn Wi… sowie die Ehefrau des Klägers als Zeugen vernommen. Nach Einholung eines fachchirurgischen Gutachtens und weiterer ärztlicher Stellungnahmen hat es in der mündlichen Verhandlung am 8. Oktober 2002, in der der Vorsitzende Richter am LSG K…, Richter am LSG We…, Richterin am LSG J… sowie die ehrenamtlichen Richter S… und Ka… anwesend waren, den Kläger persönlich befragt und die Verhandlung zur Durchführung weiterer Ermittlungen vertagt. Der Kläger hatte insbesondere angegeben, außer durch den angeschuldigten Arbeitsunfall keine weitere Handverletzung erlitten zu haben. In der mündlichen Verhandlung am 4. Februar 2003, an der der Vorsitzende Richter am LSG K…, Richter am LSG Dr. Ku…, Richter am LSG We… sowie die ehrenamtlichen Richter S… und Wei… teilgenommen haben, unterbreitete das LSG den Beteiligten einen Vergleichsvorschlag, den der Berichterstatter mit Schreiben vom 7. Februar 2003 “wiederholte”. Der Senat vertagte die Entscheidung erneut, weil das Protokoll der letzten Sitzung nicht übersandt worden war. Wie schon in dieser Verhandlung lehnte die Beklagte den wiederholten Vergleichsvorschlag des Berichterstatters ab. Auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2003, in der der Vorsitzende Richter am LSG K…, Richter am LSG Dr. Ku…, Richter am LSG W… … sowie die ehrenamtlichen Richter Sch… und E… anwesend waren, hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, es sei nicht feststellbar, dass der stattgefundene Kahnbeinbruch Folge des von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfalles im Februar 1979 sei. Es sei davon überzeugt, dass sich der Kläger bei einem anderen – unversicherten – Unfall das Kahnbein gebrochen habe. Die anders lautenden Aussagen des Klägers sowie der Zeugin St… seien unglaubwürdig bzw unglaubhaft.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger als Verfahrensfehler geltend, dass das LSG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Er habe aufgrund des Vergleichsvorschlages den Eindruck gewinnen müssen, dass das Gericht seine Aussage für glaubwürdig erachte. Das Gericht sei gemäß § 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) daher verpflichtet gewesen, eine Änderung seiner Beweiswürdigung den Beteiligten mitzuteilen. Das sei unterblieben. Zudem habe das LSG gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gemäß §§ 117, 129 SGG verstoßen. Nach diesen Vorschriften dürften über die Glaubwürdigkeit von Zeugen und Beteiligten nur die Richter entscheiden, die die persönliche Anhörung durchgeführt hätten. Das sei in der letzten mündlichen Verhandlung am 24. Juni 2003, in der der Kläger nicht einmal anwesend gewesen sei, nicht geschehen. Auf diesem Verfahrensfehler beruhe das angefochtene Urteil. Hätte das LSG den Kläger nochmals in der den Rechtsstreit entscheidenden Besetzung angehört, hätte es sich von seiner Glaubwürdigkeit überzeugen lassen und seiner Berufung stattgegeben.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde des Klägers ist begründet.
Zwar hat er den behaupteten Verstoß des LSG gegen sein Recht auf rechtliches Gehör letztlich nicht schlüssig dargestellt, weil er nicht behauptet hat, das LSG habe zur Begründung des vorgeschlagenen Vergleichs die Glaubwürdigkeit des Klägers herangezogen und jeden anderen Unfall als den angeschuldigten Arbeitsunfall als Ursache des Kahnbeinbruchs ausgeschlossen (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 70, wonach nur konkrete Äußerungen des Gerichts im Hinblick auf eine bestimmte Beweiswürdigung, von denen das Gericht später ohne entsprechende Hinweise in der Entscheidung abrückt, die Verletzung des rechtlichen Gehörs begründen können). Seine diesbezüglich geschilderte Annahme, wegen des gerichtlich unterbreiteten Vergleichsvorschlags müsse das LSG von seiner – des Klägers – Glaubwürdigkeit ausgegangen sein, reicht insoweit nicht aus, denn dem erkennenden Senat ist aufgrund der tatrichterlichen Erfahrung seiner Mitglieder bekannt, dass ein gerichtlicher Vergleichsvorschlag oftmals gerade zur Ausräumung rechtlicher oder insbesondere tatsächlicher Unsicherheiten gemacht wird. Indes erübrigen sich insoweit weitere Ausführungen, weil die vom Kläger schlüssig gerügte Verletzung des § 117 SGG vorliegt.
Das LSG hat die Aussagen des Klägers als unglaubwürdig, die seiner Ehefrau ausdrücklich als unglaubhaft bezeichnet. Obwohl es diese begriffliche Differenzierung nicht näher erläutert hat, scheint es den Begriff der Glaubwürdigkeit auf die persönliche Beurteilung, ob der Befragte wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen ausgesagt hat – oder nicht –, zu beziehen. Dem Begriff der Glaubhaftigkeit scheint das LSG dagegen einen objektiven Bezug zu geben in dem Sinne, dass eine durchaus glaubwürdige Aussage eines Beteiligten oder Zeugen aus bestimmten objektiven Gründen dennoch als unzutreffend angesehen werden muss. Legt man dies zugrunde, hat das LSG im Kern auch die Zeugenaussage der Ehefrau des Klägers als nicht glaubwürdig beurteilt, denn es hat formuliert “…, wie die Zeugin sich zu erinnern vorgibt oder glaubt”.
Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Person setzt zwingend voraus, dass sich das Gericht einen persönlichen Eindruck von dieser Person verschafft. Wie inzwischen auch das Bundessozialgericht (BSG) entschieden hat, ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG) nur gewahrt und eine sachgerechte Beweiswürdigung nur möglich, wenn sich alle die Entscheidung treffenden Richter einen persönlichen Eindruck von der zu beurteilenden Person machen (BSG Urteil vom 15. August 2002 – B 7 AL 66/01 R – SozR 3-1500 § 128 Nr 15 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesfinanzhofs und des Bundesgerichtshofs; vgl Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 117 RdNr 2a und § 129 RdNr 2b jeweils mwN). Dies gilt nur dann nicht, wenn der persönliche Eindruck, den die Richter in einer früheren mündlichen Verhandlung von einem Zeugen bzw Beteiligten gewonnen haben, protokolliert oder auf sonstige Weise aktenkundig gemacht worden ist und sich die Beteiligten dazu erklären konnten (BSG, aaO, mwN). Gerade dies ist im vorliegenden Verfahren nicht geschehen. Dass die Aussagen der Zeugin St… sowie die des Klägers jeweils protokolliert worden sind, diese Protokolle den Beteiligten zugeleitet worden sind und sie ausreichend Zeit hatten, sich dazu zu äußern, reicht nicht aus. Einen persönlichen Eindruck von der Zeugin und dem Kläger konnten sich nicht sämtliche an der Entscheidung in der mündlichen Verhandlung vom 24. Juni 2003 beteiligten fünf Richter machen, sondern lediglich ein Richter bzw zwei, die bereits an dem Erörterungstermin am 30. November 2001 und der mündlichen Verhandlung am 8. Oktober 2002 teilgenommen hatten. Deren persönlicher Eindruck war zudem gerade nicht protokolliert, sondern konnte von ihnen allenfalls mündlich an die übrigen an der abschließenden mündlichen Verhandlung teilnehmenden Richter weitergegeben werden. Ob das geschehen ist, ist nach Aktenlage nicht ersichtlich, würde aber auch zur Wahrung des § 117 SGG nicht ausreichen, da die Beteiligten zur Schilderung dieser Eindrücke nicht Stellung nehmen konnten.
Dass das LSG auch in Bezug auf die Person des Klägers, der im sozialgerichtlichen Verfahren nicht förmlich als Partei vernommen werden kann (vgl § 118 Abs 1 SGG, der nicht auf § 445 der Zivilprozessordnung ≪ZPO≫ verweist), gegen § 117 SGG verstoßen hat, ergibt sich daraus, dass die für Zeugen maßgeblichen Grundsätze für die Befragung von Verfahrensbeteiligten entsprechend gelten (BSG, aaO, unter Hinweis auf BSG Beschluss vom 26. Januar 1983 – 9b RU 56/82 –, USK 8341). Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Verstoß gegen das Gebot der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gemäß § 295 Abs 1 ZPO geheilt sein kann, weil es sich um einen Fehler bei der Urteilsfällung handelt, von dem der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der – letzten – mündlichen Verhandlung noch keine Kenntnis haben konnte (vgl BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 15).
Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG bei Beachtung des § 117 SGG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil bzw den gemäß § 158 Satz 3 SGG einem Urteil gleichstehenden Beschluss des LSG aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn – wie hier – die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen