Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwendige Beiladung des Leistungsempfängers bei Erstattungsstreitigkeiten
Orientierungssatz
1. Ist zwischen den Leistungsträgern ein Erstattungsanspruch nach §§ 102ff SGB 10 nur hinsichtlich der Ausschlußfrist des § 111 SGB 10 streitig, so wird hiervon die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB 10 nicht betroffen.
2. § 107 Abs 1 SGB 10 ist so auszulegen, daß die Erfüllungsfiktion bereits mit der Entstehung des Erstattungsanspruchs auf Dauer eintritt, und auch dann bestehen bleibt, wenn der Erstattungsanspruch durch Ablauf der Ausschlußfrist des § 111 SGB 10 oder durch Erfüllung erlischt.
Normenkette
SGG § 75 Abs. 2 Alt. 1; SGB X §§ 102, § 102 ff., §§ 111, 107
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 25.10.1990; Aktenzeichen L 10 Ar 200/88) |
Gründe
Der klagende Sozialhilfeträger begehrt von der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) Erstattung von 8.413,14 DM wegen an die Familie S. für die Zeit vom 10. Mai 1983 bis zum 31. August 1984 geleisteter Sozialhilfe.
Die BA hatte einen Antrag des S. auf Arbeitslosenhilfe (Alhi) bzw Arbeitslosengeld (Alg) vom 18. Januar 1984 wegen nicht erfüllter Anwartschaftszeit abgelehnt. In dem auf die Klage des S. geführten Rechtsstreit stellte sich heraus, daß S. aufgrund eines nicht entgegengenommenen Antrags vom 28. März 1983 einen Restanspruch auf Alg für die Zeit ab 10. Mai 1983 hatte. Der Kläger machte einen Erstattungsanspruch in Höhe von 11.806,37 DM gegenüber der BA mit Schreiben vom 6. August 1986, eingegangen am 8. August 1986, geltend. Die Beklagte lehnte den Erstattungsanspruch ab, da die einjährige Ausschlußfrist des § 111 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) abgelaufen sei (Schreiben vom 6. August 1986) und gewährte sodann dem S. Alg ab 29. März 1983 und Anschluß-Alhi ab 20. September 1983 bis 31. August 1984 (Bescheid vom 10. September 1986).
Die Klage des Sozialhilfeträgers, mit der dieser geltend machte, die Jahresfrist habe nicht vor Erteilung des Alg/ Alhi-Bescheides begonnen, hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg.
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision war zurückzuweisen.
Soweit die Beklagte eine Abweichung der angefochtenen Entscheidung von dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. Februar 1989 - 3/8 RK 25/87 - (SozR 1300 § 111 Nr 3) geltend macht, fehlt es schon an der in § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geforderten Darlegung der Abweichung.
Nach der Beschwerdebegründung beruht das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) auf dem Rechtssatz, die Ausschlußfrist des § 111 SGB X laufe nicht vor der Bewilligung der Leistung durch den erstattungspflichtigen Leistungsträger.
Demgegenüber habe der 3. Senat in der angeführten Entscheidung vom 9. Februar 1989 entschieden, für den Beginn der Jahresfrist sei die - rückwirkende - Bewilligung des Alg nicht maßgebend. Wenn im Zeitpunkt der Zahlung im Mai 1983 der "Bezug" des Alg, der die vorrangige Leistungspflicht der Beklagten begründe, noch nicht festgestellt war, so führe dieser "Schwebezustand" doch nicht zu einem Hinausschieben des Beginns der Frist nach § 111 SGB X.
Das reicht zur Bezeichnung einer Divergenz nicht aus. Denn die Entscheidung des 3. Senats vom 9. Februar 1989 ist zu einem wesentlich anders liegenden Fall ergangen. Dort hatte die beklagte AOK als "Auftragsgeschäft" für den Träger der Sozialhilfe Krankenhilfe (§ 37 BSHG) und Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen (§ 38 BSHG) erbracht und von ihm vollen Aufwendungsersatz bereits erhalten, ohne daß den Leistungsträgern bekannt war, daß die AOK selbst kraft Gesetzes aus der Krankenversicherung der Arbeitslosen vorrangig leistungspflichtig geworden war, da dem Kläger Alg bewilligt worden war. Das Rückabwicklungsgeschehen zwischen diesen Leistungsträgern hat der 3. Senat ua nach § 104 SGB X und - hieran anschließend - nach § 111 SGB X beurteilt (vgl hierzu BSGE 65, 31, 40 = SozR 1300 § 111 Nr 6). Unter diesen Umständen war es zur Darlegung einer Divergenz unerläßlich, darauf einzugehen, daß der Bewilligung von Alg für einen Erstattungsanspruch gegen eine AOK aus der Krankenversicherung der Arbeitslosen eine andere Bedeutung zukommt als bei einem Erstattungsanspruch gegen die BA.
Im übrigen hat der 3. Senat zum Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegen die Krankenkasse wegen Leistungen für ein nicht ehelich geborenes Kind bei späterer Feststellung der Vaterschaft des Versicherten im Urteil vom 8. März 1990 (SozR 3-1300 § 111 Nr 2) entschieden, die Jahresfrist des § 111 SGB X beginne nach dem Normzweck dann nicht mit der Entstehung des Leistungsanspruchs gegen den erstattungspflichtigen Leistungsträger, wenn dieser aus allgemeinen Rechtsgründen zunächst nicht durchsetzbar war. Die Beklagte hätte sich in ihrer Beschwerdebegründung vom 11. Februar 1991 zur Darlegung der Divergenzfähigkeit der angeführten Entscheidung auch mit vorgenanntem Urteil befassen müssen, das in SozR 3 mit der 345. Lieferung im Oktober 1990 veröffentlicht war.
Soweit die Beklagte den Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend macht und rügt, das LSG habe die notwendige Beiladung des Leistungsberechtigten unterlassen und damit gegen § 75 Abs 2 erste Alternative SGG verstoßen, ist die Beschwerde unbegründet. Bei den Erstattungsansprüchen nach den §§ 102 ff SGB X handelt es sich nicht um von der Rechtsposition des Versicherten abgeleitete, sondern um eigenständige Ansprüche (BSGE 57, 146, 147 = SozR 1300 § 103 Nr 2; SozR 1300 § 104 Nr 6; BSGE 58, 119, 125 f = SozR 1300 § 104 Nr 7; SozR 1300 § 103 Nr 3). Diese sind zwar mit dem Anspruch des Leistungsberechtigten durch die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X eng verbunden. Ist indes - wie vorliegend - zwischen den Leistungsträgern der Erstattungsanspruch nur hinsichtlich der Ausschlußfrist des § 111 SGB X streitig, so wird hiervon die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X nicht betroffen.
Nach § 107 Abs 1 SGB X gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch "besteht". Der Wortlaut der Vorschrift könnte zwar auch dahin verstanden werden, daß die Erfüllungsfiktion nur solange gilt, als ein Erstattungsanspruch besteht und nicht durch Zeitablauf nach § 111 SGB X erloschen ist. Ihr Zweck verlangt jedoch die Auslegung, daß die Erfüllungsfiktion bereits mit der Entstehung des Erstattungsanspruchs auf Dauer eintritt, und auch dann bestehen bleibt, wenn der Erstattungsanspruch durch Ablauf der Ausschlußfrist des § 111 SGB X oder durch Erfüllung erlischt. Die Erfüllungsfiktion soll Doppelleistungen ver- meiden. Sie soll verhindern, daß der Leistungsempfänger seinen Anspruch gegen den zuständigen Leistungsträger noch nach Empfang der Leistung von einem anderen (unzuständigen) Leistungsträger behält und unter Umständen sogar durchsetzt (BSGE 65, 31, 39 = SozR 1300 § 111 Nr 6).
Würde die Erfüllungsfiktion mit Ablauf der Jahresfrist wegfallen, so ließe sich ein Doppelbezug zweckidentischer Leistungen nicht vermeiden. Nach dem Wegfall der Erfüllungsfiktion müßte auch der erstattungsverpflichtete Leistungsträger an den Leistungsberechtigten leisten. Andererseits bewirkt ein Wegfall der Erfüllungsfiktion nicht, daß der erstattungsberechtigte Leistungsträger seine Leistung nunmehr vom Leistungsempfänger zurückfordern kann. Denn es wäre mit dem Sinn des § 111 SGB X, eine schnelle Klarstellung der Verhältnisse zu bewirken (vgl BT-Drucks 9/95 S 26), nicht zu vereinbaren, wenn der Sozialhilfeträger nach Ablauf der Jahresfrist vom Leistungsberechtigten die erbrachte Sozialhilfe zurückfordern könnte (ähnlich Adami/ Schroeter in SGB-SozVers-GesKomm, SGB X § 111 Anm 7). Damit besteht in Fällen, in denen nicht die Entstehung des Erstattungsanspruchs und damit der Eintritt der Erfüllungsfiktion streitig ist, sondern das Erlöschen des Erstattungsanspruchs durch Ablauf der Jahresfrist, nicht die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung im Verhältnis zwischen den Leistungsträgern und dem Versicherten.
Mit der Einschränkung, daß beim Streit um die Ausschlußfrist kein Fall der notwendigen Beiladung vorliegt, weicht der Senat nicht von den Urteilen des 8. und des 5. Senats des BSG (SozR 1500 § 75 Nrn 60 und 80) ab. Beide Entscheidungen zur notwendigen Beiladung im Erstattungsstreit betreffen Fälle, in denen die Ausschlußfrist des § 111 SGB X keine Rolle spielte. Ihnen ist nicht zu entnehmen, daß ein Fall der notwendigen Beiladung auch dann gegeben ist, wenn allein um den Ablauf der Ausschlußfrist gestritten wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 4 SGG in entsprechender Anwendung.
Fundstellen