Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrüge. Richter. Befangenheit. Geltendmachung. Rechtzeitigkeit
Orientierungssatz
Auf die Mitwirkung eines befangenen Richters lässt sich eine Verfahrensrüge nicht mehr stützen, wenn die Befangenheit nicht rechtzeitig geltend gemacht worden ist (§ 60 Abs 1 SGG iVm §§ 42, 43 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫).
Normenkette
SGG § 60 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3; ZPO §§ 42-43
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 25.04.2003; Aktenzeichen L 7 P 18/02/L 7 P 56/02) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 28.01.2002; Aktenzeichen S 9 P 86/00) |
Gründe
Die Klägerin begehrt Pflegegeld nach der Pflegestufe II statt nach der bewilligten Pflegestufe I ab 1. Juni 1999. Die Klage blieb in den Vorinstanzen erfolglos, weil der tägliche Grundpflegebedarf nach dem Ergebnis der (erstinstanzlichen) Beweisaufnahme nicht die Mindestdauer von zwei Stunden erreichte. Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts (LSG).
Die Beschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§ 160 Abs 2 und 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) festgelegten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb nach § 169 iVm § 160a Abs 4 Satz 2 SGG ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen.
Die Klägerin macht als Zulassungsgrund Verfahrensfehler geltend. Ein Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) ist aber nur dann formgerecht "bezeichnet", wenn die ihn begründenden Tatsachen im Einzelnen angegeben sind und - in sich verständlich - den behaupteten Verfahrensfehler ergeben (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14); außerdem ist darzulegen, dass und warum die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann. Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
1) Die Klägerin rügt, der Vorsitzende des 7. Senats des LSG habe im Rahmen der - zum (vorläufigen) Vergleich führenden - mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2002 "sinngemäß zum Ausdruck gebracht, man müsse bei der Entscheidung auch die schlechte Finanzlage des Staats berücksichtigen"; damit habe er zu erkennen gegeben, dass er sich bei der Urteilsfindung auch von sachfremden Erwägungen habe leiten lassen. Diese Auffassung habe sich auch auf das am 25. April 2003 ergangene Urteil ausgewirkt.
Unabhängig davon, ob und in welchem Zusammenhang sich der Vorsitzende in der behaupteten Weise geäußert hat, ist damit jedenfalls ein Verfahrensmangel nicht dargelegt worden, auf dem das Urteil beruhen kann. Der dem Vorsitzenden gemachte Vorwurf zielt auf einen Grund, der eine Ablehnung des Richters wegen Befangenheit rechtfertigen könnte. Auf die Mitwirkung eines befangenen Richters lässt sich eine Verfahrensrüge aber nicht mehr stützen, wenn die Befangenheit nicht rechtzeitig geltend gemacht worden ist (§ 60 Abs 1 SGG iVm §§ 42, 43 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫).
2) Mit ihrem Vorbringen, das LSG habe sich nicht allein auf das aus ihrer Sicht unzureichende Gutachten des Sachverständigen Dr. G. stützen dürfen, sondern zur Aufklärung des tatsächlich erforderlichen täglichen Hilfebedarfs ein weiteres Gutachten einholen müssen (§ 106 Abs 3 Nr 5 SGG), macht die Klägerin eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) geltend. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann eine Verfahrensrüge auf eine Verletzung des § 103 SGG aber nur gestützt werden, wenn der Beschwerdeführer sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass sie einen entsprechenden Beweisantrag gestellt hat.
Soweit die Klägerin dem Vorsitzenden ein sachwidriges Verhalten in Form der Verletzung von Hinweispflichten im Vorfeld des - von ihr nicht genehmigten und damit gegenstandslos gewordenen - Vergleichs vom 25. Oktober 2002 vorwirft, ist die Verfahrensrüge schon deshalb nicht formgerecht vorgetragen, weil nicht verdeutlicht wird, in welcher Weise sich die dem Vergleich vorausgegangene und für dessen Abschluss angeblich ursächliche Verfahrensbehandlung auf das spätere Verfahren und das Urteil vom 25. April 2002 ausgewirkt haben könnte. Die Verletzung der Hinweispflicht im Zusammenhang mit der Sachaufklärung begründet im Übrigen für sich nicht die Zulassung der Revision (BSG SozR 1500 § 160 Nr 13).
3) Mit ihrer Rüge, bei zutreffender Würdigung aller pflegerelevanten tatsächlichen Umstände (Rechenfehler beim Hilfebedarf im Bereich der Mobilität; erheblicher Hilfebedarf im Zusammenhang mit der Harn- und Stuhlinkontinenz; mindestens drei Stunden täglicher Hilfebedarf allein wegen der Folgen der Schizophrenie) hätte das LSG die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II als erfüllt ansehen müssen, greift die Klägerin die Beweiswürdigung des Gerichts (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) an. Hiermit kann die Zulassung der Revision aber schon deshalb nicht erreicht werden, weil nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG der geltend gemachte Verfahrensfehler nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann.
4) Mit ihrem Vorbringen, das LSG habe entgegen der Ladung auf 11.45 Uhr mit der mündlichen Verhandlung bereits um 11.35 Uhr begonnen, sodass ihr als "gerichtlicher Beistand" (§ 73 Abs 5 SGG) fungierender Schwager Dr. F. E. bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage nicht zugegen sein konnte, macht die Klägerin eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG), § 62 SGG geltend. Es wird aber nicht verdeutlicht, inwieweit die Klägerin durch den vorzeitigen Beginn der mündlichen Verhandlung gehindert worden ist, ihre prozessualen Rechte wahrzunehmen. Da diese Rechte nur der Klägerin selbst oder einem von ihr mit ihrer Vertretung beauftragten Bevollmächtigten (§ 73 Abs 1 SGG) zustehen, die Klägerin und ihre als Betreuerin (mit den Aufgabengebieten Aufenthaltsbestimmung, Unterbringung und Gesundheitsfürsorge) bestellte Schwester G. E. aber nicht zu der Verhandlung angereist sind, hätte vorgetragen werden müssen, dass ihr Schwager nicht nur als Prozessbeobachter oder "gerichtlicher Beistand" auftreten sollte, sondern von ihr Vertretungsmacht (als Prozessbevollmächtigter oder Terminsbevollmächtigter) erhalten hat. Eine solche Stellung hatte er nach ausdrücklicher Erklärung der Klägerin nicht. Eine Bevollmächtigung befindet sich auch nicht in den Akten; sie muss in schriftlicher Form erteilt werden und bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vorliegen (§ 73 Abs 2 Satz 1 SGG). Ein "gerichtlicher Beistand" ist kein Prozessbevollmächtigter (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 73 RdNr 19). In dieser Funktion hätte ihr Schwager an der Verhandlung nur teilnehmen und ihr zurechenbare Erklärungen abgeben dürfen, wenn die Klägerin ebenfalls an der Verhandlung teilgenommen hätte (§ 73 Abs 5 SGG). Dazu hatte sie trotz vorzeitigen Beginns der Verhandlung bei pünktlichem Eintreffen noch Gelegenheit, weil die Verhandlung bis 11.50 Uhr gedauert hat. Soweit erforderlich, hätte das Gericht den durch den vorzeitigen Beginn versäumten Teil der Verhandlung wiederholen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen