Verfahrensgang

BSG (Urteil vom 29.01.1991; Aktenzeichen 4 RA 46/90)

 

Tenor

Der Antrag des Klägers, auf seine Gegenvorstellung das Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. Januar 1991 (4 RA 46/90) aufzuheben und ihm wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten dieses Verfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat mit Urteil vom 29. Januar 1991, das den Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 15. März 1991 zugestellt worden ist, in der Rechtssache 4 RA 46/90 die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (LSG) vom 16. Mai 1990 als unzulässig verworfen und seinen Antrag, ihm wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, abgelehnt. Seine Prozeßbevollmächtigten hätten nach ihrem eigenen Vorbringen die Mitarbeit in ihrem Büro im Hinblick auf die Eingangsbearbeitung fristgebundener Mandatssachen nicht ordnungsgemäß organisiert und dadurch die Versäumung der Revisionsfrist schuldhaft verursacht. Aus der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags und der Erklärung der Anwaltsgehilfin F. … ergebe sich nämlich weder, daß die Bevollmächtigten ihren Mitarbeitern eine allgemeine Anweisung erteilt hatten, Auftragsschreiben zur Einlegung von fristgebundenen Rechtsmitteln „sofort” vorzulegen, noch, daß sie dies im Blick auf das Auftragsschreiben des Klägers konkret angeordnet hatten, obwohl sie diesem vorab telefonisch „zugesichert” hatten, das Revisionsmandat zu übernehmen. Hingegen hätten die Bevollmächtigten nach ihrem Vorbringen im Wiedereinsetzungsgesuch die gebotene „sofortige” Vorlage pflichtwidrig hintangehalten, weil sie die Anwaltsgehilfin allgemein beauftragt hatten, ua die Revisionsfrist vor der Aktenvorlage selbst zu errechnen, so daß dieser Arbeitsvorgang die Vorlage der Sache verzögern mußte und es ermöglichte, daß der Vorgang des Klägers in nicht mehr nachvollziehbarer Weise aus dem Geschäftsgang geriet.

Mit seiner am 2. April 1991 beim BSG eingegangenen Gegenvorstellung beantragt der Kläger,

ihm „in Abänderung” des Urteils des BSG vom 29. Januar 1991 wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Er trägt vor, im Büro seiner Prozeßbevollmächtigten bestehe eine grundsätzliche Anweisung iS einer „unbedingten Richtlinie”, alle Neueingänge noch am Tage des Eingangs nach Fristennotierung einem Sachbearbeiter vorzulegen, der die Fristennotierung entsprechend überprüfe. Eine erhöhte Sorgfaltspflicht bei telefonisch angekündigten Mandaten sei organisatorisch nicht durchführbar. Nicht mehr nachvollzogen werden könne, daß es unzulässig sei, die Fristenerrechnung auf eine zuverlässig erprobte und sorgfältig überwachte Anwaltsgehilfin zu übertragen. Es könne von einem Rechtsanwalt letztlich nicht verlangt werden, daß er die Frist auch noch selbst notiere, da er sich dann nämlich seiner eigentlichen Aufgabe – als Organ der Rechtspflege – nicht mehr widmen könne. Die Führung des Fristenbuches dürfe übertragen werden (Hinweis auf: Bundesgerichtshof ≪BGH≫ in: VersR 1976, 1154f).

Die Beklagte beantragt,

den Antrag des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält die Gegenvorstellung des Klägers für unzulässig und meint, ein Wiedereinsetzungsgrund sei nicht dargetan.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Gegenvorstellung des Klägers ist zurückzuweisen.

Über diesen im Gesetz nicht vorgesehenen Antrag, der darauf abzielt, der Senat solle sein im förmlichen Rechtsmittelverfahren nicht mehr abänderbares Urteil vom 29. Januar 1991 aufheben und sodann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren, ist in der für den Erlaß eines Urteils vorgeschriebenen Besetzung der Richterbank (§§ 40 Satz 1, 33 Satz 1 des SozialgerichtsgesetzesSGG), also unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter zu entscheiden, weil das Gesetz – anders als für die Verwerfung einer Revision als unzulässig (§ 169 Satz 2 und 3 SGG) – die Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter nicht ausschließt, und weil der Kläger das rechtliche Gegenstück zum Erlaß eines Urteils, nämlich dessen Aufhebung durch dasselbe Gericht begehrt. Gleichwohl darf der Senat gemäß §§ 165, 153 Abs 1, 142 Abs 1 SGG durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil eine Gegenvorstellung kein das abgeschlossene Revisionsverfahren erneut eröffnendes Rechtsmittel und auch kein Wiederaufnahmeverfahren iS von § 179 SGG ist (vgl Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ in: NJW 1987, 486; im Blick auf Gegenvorstellungen gegen Beschlüsse aA Albers, in: Baumbach/ Lauterbach/ Albers/ Hartmann, ZPO, 47. Aufl 1989, Übersicht § 567 Anm 1 C c; Thomas/ Putzo, ZPO, 16. Aufl 1990, Vorbemerkung § 567 Anm III 2b, c; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl 1987, RdNr 16 vor § 143).

Der – gegenüber dem erneuten Wiedereinsetzungsgesuch vorgreifliche – Antrag des Klägers, das Urteil vom 29. Januar 1991 aufzuheben, ist unstatthaft. Es handelt sich nicht um eine Wiederaufnahmeklage iS von § 179 SGG iVm §§ 579, 580 Nrn 4, 5 ZPO, für die das Revisionsgericht zuständig wäre; denn der Kläger hat seinen Rechtsbehelf ausdrücklich als „Gegenvorstellung” bezeichnet und keine Wiederaufnahmegründe im Sinne der vorgenannten Vorschriften vorgetragen. Die Gegenvorstellung ist nur statthaft, wenn das Gericht nach dem maßgeblichen Prozeßrecht befugt ist, seine Entscheidung von Amts wegen zu ändern (vgl Verwaltungsgerichtshof ≪VGH≫ Kassel, NJW 1987, 1354 mwN). Gemäß § 202 SGG iVm § 318 ZPO, die eine abschließende gesetzliche Abwägung zwischen den Anforderungen der Rechtssicherheit und dem öffentlichen Interesse an der Korrektur inhaltlich unrichtiger End- und Zwischenurteile enthalten, ist der Senat jedoch „an die Entscheidung, die in dem von ihm erlassenen Endurteil (hier: vom 29. Januar 1991) enthalten ist, gebunden” (so für alle der materiellen Rechtskraft fähigen Entscheidungen ua Bundesfinanzhof ≪BFH≫ E 128, 32, 33 mwN; Bundesarbeitsgericht ≪BAG≫ AP Nr 1 zu § 238 ZPO; Nr 7 zu § 519b ZPO; Nr 1 zu § 567 ZPO, jeweils mit zustimmenden Anmerkungen von Grunsky; Schneider, in: Zöller, ZPO, 16. Aufl 1990, § 567 RdNr 21; Thomas/ Putzo, aaO, Vorbemerkung zu § 567 Anm III 2; Albers, aaO, Übersicht § 567 Anm 1 C a; Schellhammer, Zivilprozeß, 4. Aufl 1989, RdNr 1023; Baumgärtel, MDR 1968, 970, 972; ders, JZ 1958, 68f; für Urteile offengelassen vom Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ in: NJW 1984, 625, 626; ohne Begründung aA Kopp, VwGO, 8. Aufl 1989, Vorbemerkung § 124 RdNr 10).

Ob die Gegenvorstellung ausnahmsweise in besonderen Fallgestaltungen aus verfassungsrechtlichen Gründen sogar gegen – uU, wie hier, mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare -Endurteile statthaft ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Zwar liegt es von Verfassungs wegen nahe, Gegenvorstellungen „allgemein” (so BVerfGE 73, 322, 327ff mwN) zuzulassen, wenn die Entscheidung des Gerichts tragend auf einem offenkundigen Verstoß gegen ein Verfahrensgrundrecht (zB Art 19 Abs 4 Satz 1, 101, 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫) oder gegen die verfahrensrechtlichen Garantien eines anderen Grundrechts beruht. Dies ist gegebenenfalls in der Gegenvorstellung schlüssig zu rügen. Jedoch ist die normierende Ausgestaltung des Prozeßrechts der Fachgerichtsbarkeiten vor allem Aufgabe des Gesetzgebers. Daher bestehen erhebliche Bedenken, den Fachgerichten die Befugnis zuzuerkennen, sie bindende (Zwischen- oder End-)Urteile auf Gegenvorstellung abzuändern oder aufzuheben, ohne daß zuvor § 318 ZPO geändert worden oder eine iS von § 31 Abs 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) bindende Entscheidung des BVerfG ergangen wäre.

Hierauf ist nicht näher einzugehen, weil der Kläger nicht schlüssig dargelegt hat, das Urteil des Senats vom 29. Januar 1991 beruhe auf einem offenkundigen Verstoß gegen verfassungsrechtlich gewährleistete Verfahrensgarantien. Er trägt Bedenken gegen die Richtigkeit der Anwendung des Prozeßrechts durch den erkennenden Senat vor: Dieser habe sein Vorbringen über die Bearbeitung von Neueingängen in der Kanzlei seiner Prozeßbevollmächtigten nicht richtig verstanden, die organisatorischen Möglichkeiten zur „Durchführung” erhöhter Sorgfaltspflichten verkannt und unverständlicherweise eine Pflicht des Rechtsanwalts angenommen, Rechtsmittelfristen selbst zu errechnen. Abgesehen davon, daß erstmals in der Gegenvorstellung und somit nach Ablauf der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag (§ 67 Abs 2 Satz 1 SGG; zur Bedeutung verspäteten Vorbringens beim Wiedereinsetzungsantrag: BGH Beschluß vom 28. Februar 1991 – IX ZB 95/90 –; BGH Beschluß vom 27. September 1989 – IV d ZB 73/89 –) vorgetragen worden ist, es sei eine „allgemeine Anweisung” zur sofortigen Vorlage fristgebundener Neueingänge nach Fristennotierung durch die Anwalts- und Notargehilfin erteilt worden, hat der Kläger nur seine Auffassung über die Organisations-und Prüfungspflichten eines Rechtsanwalts wiederholt und vertieft. Ein Verstoß gegen grundgesetzlich verbürgte Verfahrensgarantien ist dadurch weder dargetan noch ersichtlich.

Der – erneute – Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist abzulehnen, weil ihm das – wie ausgeführt – auf die Gegenvorstellung des Klägers nicht abänderbare Urteil des Senats vom 29. Januar 1991 entgegensteht (zur Rechtslage bei einem nach Verwerfung der Revision durch Beschluß fristgerecht gestellten Wiedereinsetzungsantrag: BSG SozR Nrn 6 und 31 zu § 67 SGG; BSG SozR 1500 § 67 Nr 5; BSG Breithaupt 1979, 78, 79).

Die Kostenentscheidung folgt in entsprechender Anwendung von § 193 Abs 1 SGG.

Der Schriftsatz vom 31. Mai 1991, in dem ausschließlich früheres Vorbringen wiederholt wird, gab keinen Anlaß, wieder in die Beratung einzutreten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173761

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