Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. unzulässige Revision. LSG. Beifügung einer Rechtsmittelbelehrung ohne Zulassungsentscheidung im Urteil. nachträgliche Zulassung der Revision im Beschluss- fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung. Handlungsverbot eines abgelehnten Richters gem § 60 SGG iVm § 47 Abs 1 ZPO
Leitsatz (amtlich)
Eine vom LSG nicht in dem Urteil, sondern nachträglich in einem Beschluss zugelassene Revision ist unzulässig.
Orientierungssatz
1. Die bewusste oder unbewusste Beifügung einer Rechtsmittelbelehrung, nach der die Revision zugelassen ist, obwohl das Urteil weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen eine Zulassungsentscheidung enthält, ist keine Zulassung.
2. Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Bindung des BSG an die Zulassung des LSG nach § 160 Abs 3 SGG ist in Übereinstimmung mit der Literatur dann anzunehmen, wenn bei der Entscheidung über die Zulassung deren Grundvoraussetzungen, wie insbesondere die richtige Entscheidungsform "in dem Urteil" nach § 160 Abs 1 SGG, nicht eingehalten wurden, sondern die Zulassung nachträglich durch einen Beschluss erfolgte.
3. Das den abgelehnten Richter treffende Handlungsverbot nach § 47 Abs 1 ZPO beginnt mit der Stellung des Ablehnungsantrags und endet mit dessen rechtskräftiger Erledigung. Auf die Kenntniserlangung des abgelehnten Richters kommt es nicht an.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 1, § 160a Abs. 4; ZPO § 313 Abs. 3; SGG § 160 Abs. 3, § 60 Abs. 1; ZPO § 47 Abs. 1
Verfahrensgang
Sächsisches LSG (Entscheidung vom 12.12.2007; Aktenzeichen L 1 U 190/99 LW) |
SG Dresden (Gerichtsbescheid vom 30.09.1999; Aktenzeichen S 5 U 377/97 LW) |
Tatbestand
Umstritten ist die Gewährung einer Verletztenrente.
Die im Jahre 1954 geborene Klägerin erlitt am 1. August 1973 auf dem Weg von der Arbeit nach Hause einen Arbeitsunfall, indem sie als Fußgängerin von einem Kleintransporter erfasst wurde. Wegen einer dabei zugezogenen Oberarmfraktur wurde sie anschließend mehrere Tage in einem Krankenhaus behandelt.
Im Jahr 1995 beantragte die Klägerin bei der beklagten Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund dieses Arbeitsunfalls, auf den sie ihre seit Jahren bestehenden Halswirbelsäulenbeschwerden zurückführte. Die Beklagte erkannte den Unfall als Arbeitsunfall sowie eine "Bewegungseinschränkung des linken Schultergelenkes" als Unfallfolge an, die mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit vom 10 vH zu bewerten sei. Sie lehnte aber die Gewährung einer Verletztenrente ab, die krankhaften Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule seien keine Unfallfolgen (Bescheid vom 24. Oktober 1996, Widerspruchsbescheid vom 12. November 1997).
Das angerufene Sozialgericht hat nach weiteren medizinischen Ermittlungen die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30. September 1999). Das Landessozialgericht (LSG) hat weitere Ermittlungen durchgeführt. Mit Verfügung vom 9. November 2007 ist Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 12. Dezember 2007 anberaumt und gleichzeitig Dr. M als medizinischer Sachverständiger unter Beifügung einer Beweisanordnung geladen worden. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2007 an den Präsidenten des Landessozialgerichts persönlich, eingegangen dort am 10. Dezember 2007, hat sich die Klägerin gegen den Ablauf ihres Verfahrens gewandt und den Vorsitzenden des für den Rechtsstreit zuständigen Senats als befangen abgelehnt. In der Sitzung vom 12. Dezember 2007, in der die Klägerin nicht erschienen und auch nicht vertreten war, erging nach Vernehmung des Sachverständigen unter dem Vorsitz des abgelehnten Richters durch Verlesen der Urteilsformel folgendes Teilurteil: "I. Die Klage wird abgewiesen, soweit die Klägerin beantragt festzustellen, dass sie organische Verletzungen im Bereich der Halswirbelsäule und daraus resultierende Folgen erlitten hat. II. Die weitergehenden Anträge auf Feststellung weiterer Unfallfolgen und auf Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Verletztenrente sowie die Kostenentscheidung bleiben dem Schlussurteil vorbehalten." Es erfolgte keine mündliche Urteilsbegründung.
Nach einem Aktenvermerk des Vorsitzenden Richters des Senats Dr. E vom 30. Dezember 2007 hat er von dem Schreiben der Klägerin vom 10. Dezember 2007 nicht vor Beginn der Sitzung am 12. Dezember 2007 Kenntnis erlangt, weil er am 11. Dezember 2007 ganztags auf einer Dienstreise war und das Schreiben in sein "Verwaltungspostfach", das er in seiner Funktion als Vizepräsident des LSG hat, gelegt worden war, welches er vor der Sitzung nicht durchgesehen habe. Nach seiner dienstlichen Stellungnahme sieht er sich nicht als befangen an, und der Befangenheitsantrag gegen ihn wurde durch Beschluss vom 16. Januar 2008 zurückgewiesen.
Nach einem handgeschriebenen Blatt unter dem Datum "20.12.07" (Bl 373 der Gerichtsakte) hat am LSG eine "Nachberatung über die Zulassung der Revision wegen der erst nach der mündlichen Verhandlung am 12. Dezember 2007 bekannt gewordenen Ablehnung des VPräsLSG Dr. E wegen Befangenheit" stattgefunden, die zu dem Ergebnis führte: "Die Revision wird zugelassen" und mit fünf nicht lesbaren Unterschriften versehen ist. In dem abgesetzten und von den drei Berufsrichtern unterschriebenen Text des Urteils vom 12. Dezember 2007 wird der Tenor des Urteils in der Fassung wiedergegeben, in der er am 12. Dezember 2007 verkündet wurde. In den Entscheidungsgründen wird ua ausgeführt: Der Senat habe aufgrund der Beratung am 20. Dezember 2007 unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter dieses Sitzungstages beschlossen, die Revision nachträglich zuzulassen, nachdem der schon am 10. Dezember 2007 gestellte Befangenheitsantrag erst nach Verkündung des Urteils bekannt geworden sei. Der Senat sehe sich an einer nachträglichen Revisionszulassung nicht gehindert, weil er im Tenor des Teilurteils nicht über die Zulassung der Revision entschieden habe und eine mündliche Urteilsbegründung nicht erfolgt sei. Die Rechtsmittelbelehrung in dem Urteil vom 12. Dezember 2007 entspricht der, wie sie bei einer zugelassenen Revision verwendet wird.
Zur Einlegung einer Revision gegen das ihr am 12. Februar 2008 zugestellte Teilurteil hat die Klägerin am 12. März 2008 beim Bundessozialgericht (BSG) die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt. Nach der beigefügten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erhalten die Klägerin und ihr Ehemann aufstockende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Entscheidungsgründe
Nach § 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann einem Beteiligten für die Durchführung eines Revisionsverfahrens vor dem BSG nur dann Prozesskostenhilfe bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Eine solche ist jedoch nicht gegeben. Denn eine Revision der Klägerin gegen das Teilurteil des LSG hat voraussichtlich keinen Erfolg, weil die Revision unzulässig ist.
Gegen das Urteil eines LSG steht den Beteiligten die Revision an das BSG nur zu, wenn sie in dem Urteil des LSG oder in einem Beschluss des BSG nach § 160a Abs 4 SGG zugelassen worden ist. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Eine wirksame Zulassung der Revision ist weder im Urteil des LSG (dazu 1.) noch durch einen Beschluss des BSG in einem Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160a SGG (dazu 2.) ergangen.
1. Das LSG hat die Revision nicht in seinem Teilurteil zugelassen, sondern durch einen nachträglichen Beschluss. Dies ergibt sich aus dem handgeschriebenen Blatt 373 der Gerichtsakte mit dem Datum "20.12.07" und den entsprechenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des schriftlichen Teilurteils unter "C".
Diese Verfahrensweise steht im Widerspruch zum Wortlaut des § 160 Abs 1 SGG, der eine Zulassung "in dem Urteil" vorschreibt. Auch nach der einschlägigen Handbuch- und Kommentarliteratur muss die Zulassung der Revision im Urteil erfolgen (vgl nur Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, I RdNr 18, Lüdtke in HK SGG, 2. Aufl 2006, § 160 RdNr 24; Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 160 RdNr 4). Dies bedeutet nicht, dass der Ausspruch über die Zulassung unbedingt in den zu verkündenden Tenor aufgenommen werden muss, auch wenn dies aus Gründen der Klarheit zu empfehlen ist. Es genügt eine Aufnahme in die Entscheidungsgründe, die die Erwägungen, auf denen die Entscheidung beruht, dokumentieren sollen (vgl § 313 Abs 3 ZPO).
Schweigt das Urteil des LSG über die Zulassung der Revision, so ist sie nicht zugelassen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 52). Die bewusste oder unbewusste Beifügung einer Rechtsmittelbelehrung, nach der die Revision zugelassen ist, obwohl das Urteil weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen eine Zulassungsentscheidung enthält, ist keine Zulassung (BSGE 5, 92, 95; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1, 3). Eine nachträgliche Zulassung der Revision durch Beschluss des LSG ist nicht zulässig, weil dieses Vorgehen alleine dem BSG in dem Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160a SGG vorbehalten ist (vgl BSG Urteil vom 22. Januar 1998 - B 14/10 KG 17/96 R ), ebenso wenig eine Zulassung durch Ergänzungsurteil (BSG SozR Nr 4 zu § 140 SGG).
Aus der grundsätzlichen Bindung des BSG an die Zulassung des LSG nach § 160 Abs 3 SGG folgt nichts anderes. Sie will nur verhindern, dass das BSG prüft, ob das LSG zu Recht einen der Zulassungsgründe nach § 160 Abs 2 SGG angenommen hat, und eine Zurückweisung der Revision nach § 202 SGG in Verbindung mit § 552a ZPO ausschließen (Behn in Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand April 2007, § 160 RdNr 500; Lüdtke in HK SGG, § 160 RdNr 25; Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 160 RdNr 26 f). Eine Ausnahme von der Bindung nach § 160 Abs 3 SGG ist in Übereinstimmung mit der Literatur (Behn, aaO, § 160 RdNr 502; Meyer-Ladewig, aaO, RdNr 27) anzunehmen, wenn bei der Entscheidung über die Zulassung deren Grundvoraussetzungen, wie insbesondere die richtige Entscheidungsform "in dem Urteil" nach § 160 Abs 1 SGG, nicht eingehalten wurden, sondern die Zulassung nachträglich durch einen Beschluss erfolgte. Von daher unterscheidet sich auch die vorliegende Fallkonstellation von der, die der Entscheidung des Großen Senats zur Besetzung des SG bei Zulassung einer Sprungrevision zugrunde lag (GrS BSGE 51, 23, 29 = SozR 1500 § 161 Nr 27 S 56). Denn die nachträgliche Zulassung einer Sprungrevision durch Beschluss des SG ist in § 161 Abs 1 Satz 1 SGG vorgesehen, die nachträglich Zulassung der Revision durch Beschluss des LSG jedoch nicht. Eine solche Vorgehensweise ist dem LSG schlechthin verwehrt, eine Zulassung der Revision nachträglich durch Beschluss ist allein dem BSG in dem Verfahren nach § 160a SGG vorbehalten.
Die gegenteilige Auffassung von May (Die Revision, 2. Aufl 1997, IV, RdNr 148) überzeugt nicht, weil nicht jede Entscheidung einer Behörde oder eines Gerichts außerhalb der jeweiligen Zuständigkeit zwingend zu beachten ist und nicht nur dem einen Beteiligten des Gerichtsverfahrens durch eine nachträgliche Revisionszulassung ein - möglicher - Vorteil eingeräumt wird, sondern dem anderen Beteiligten hierdurch gleichzeitig der zuvor bestehende rechtskräftige Abschluss des Verfahrens genommen wird. Neben dieser Beachtung der Rechtsposition beider Beteiligter des Verfahrens spricht gegen die Zulassung einer Revision in einem dafür nicht vorgesehenen Verfahren das Gebot der Rechtsmittelklarheit (vgl dazu nur BVerfG Plenums-Beschluss vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395 = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1).
2. Ein Beschluss des BSG nach § 160a Abs 4 SGG, in dem auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hin die Revision zugelassen worden ist, liegt nicht vor. Die Klägerin hat - zumindest bisher - auch keine entsprechende Beschwerde erhoben, zumal sie hierfür im Hinblick auf die dem Urteil des LSG beigefügte Rechtsmittelbelehrung, nach der die Revision gegen dieses Urteil zulässig sei, keine Veranlassung hatte. Die Klägerin kann eine Nichtzulassungsbeschwerde bzw einen Antrag auf Prozesskostenhilfe zur Einlegung einer solchen wegen der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung aber noch einlegen.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat auch Aussicht auf Erfolg, denn bei dem Teilurteil vom 12. Dezember 2007 hat in der Gestalt des Vizepräsidenten Dr. E ein Richter mitgewirkt, gegen den ein Befangenheitsantrag gestellt worden war, über den zum Urteilszeitpunkt noch nicht entschieden war. Nach § 60 Abs 1 SGG in Verbindung mit § 47 Abs 1 ZPO darf ein abgelehnter Richter vor Erledigung eines Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vornehmen, die keinen Aufschub dulden. Diese Voraussetzung war hinsichtlich des ergangenen Teilurteils nicht erfüllt, zumal das Verfahren schon zu diesem Zeitpunkt rund acht Jahre am LSG anhängig war. Die Sonderregelung für Ablehnungsgesuche während der Verhandlung (§ 47 Abs 2 ZPO) ist nicht einschlägig, weil der Ablehnungsantrag der Klägerin schon am 10. Dezember 2007 bei dem LSG eingegangen war.
Dass dem Vizepräsidenten persönlich zum Entscheidungszeitpunkt das Ablehnungsgesuch nicht bekannt war, ändert an diesem Ergebnis nichts. Das den abgelehnten Richter treffende Handlungsverbot nach § 47 Abs 1 ZPO beginnt mit der Stellung des Ablehnungsantrags und endet mit dessen rechtskräftiger Erledigung (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 66. Aufl 2008, § 47 RdNr 4; Vollkommer in Zöller, ZPO, 26. Aufl 2007, § 47 RdNr 2). Auf die Kenntniserlangung des abgelehnten Richters kommt es nicht an (Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, aaO; Vollkommer, aaO; OLG Frankfurt, NJW 1998, 1238). Im Übrigen waren vorliegend ausweislich der dienstlichen Stellungnahme des Richters seine mangelnde Kenntnis durch die Ablage des Befangenheitsgesuchs in sein "Verwaltungspostfach" bedingt und anscheinend auch keine weiteren Maßnahmen im Hinblick auf den bevorstehenden Termin ergriffen worden, sodass Organisationsmängel auf Seiten des Gerichts und nicht der Klägerin ausschlaggebend waren.
Die Ausführungen der Klägerin in der Sache können dahingestellt bleiben, weil ihre Revision aus den dargelegten Gründen unzulässig ist.
Da die Klägerin keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat, ist auch ihr Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts abzulehnen (§ 73a SGG in Verbindung mit § 121 ZPO).
Fundstellen