Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Prüfung der Prozessfähigkeit von Amts wegen. absoluter Revisionsgrund. fehlende Vertretung eines prozessunfähigen Beteiligten
Orientierungssatz
1. Die Frage der Prozessfähigkeit eines Verfahrensbeteiligten ist in jeder Lage des Verfahrens und in jeder Instanz von Amts wegen zu prüfen (vgl BSG vom 5.4.2000 - B 5 RJ 38/99 R = BSGE 86, 107 = SozR 3-1200 § 2 Nr 1).
2. Das LSG hätte deshalb hier nicht über die Berufung des prozessunfähigen Klägers entscheiden dürfen, ohne zuvor einen besonderen Vertreter zu bestellen oder dafür zu sorgen, dass für den Kläger ein Vormund, Betreuer oder Pfleger bestellt wurde. Bis dahin war entweder - bei schon zuvor bestehender Prozessunfähigkeit des Klägers - bereits die Einlegung der Berufung schwebend unwirksam oder das Verfahren gemäß § 202 SGG iVm § 241 Abs 1 Satz 1 ZPO unterbrochen.
3. Fehlende Vertretung eines prozessunfähigen Beteiligten ist nach dem gemäß § 202 SGG auch in sozialgerichtlichen Verfahren anzuwendenden § 547 Nr 4 ZPO ein absoluter Revisionsgrund, bei dessen Vorliegen die Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist.
Normenkette
SGG § 71 Abs. 1, §§ 72, 160a Abs. 5, § 202; BGB § 104 Nr. 2; ZPO § 547 Nr. 4
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 16.08.2005; Aktenzeichen L 6 SB 4908/04) |
SG Reutlingen (Urteil vom 26.08.2004; Aktenzeichen S 8 SB 3002/02) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. August 2005 wird dieser Beschluss aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Streitig ist die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).
Bei dem 1945 geborenen Kläger hatte das beklagte Land zuletzt mit Bescheid vom 25.6.1992 festgestellt, dass der GdB seit Dezember 1990 wegen psychosomatischer Störungen bei depressivem Erschöpfungssyndrom sowie Kopfschmerzen nach Halswirbelsäulen-Schleudertrauma 60 beträgt. Auf den im Mai 2002 gestellten Neufeststellungsantrag holte der Beklagte Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte ein und lehnte nach entsprechender versorgungsärztlicher Stellungnahme mit Bescheid vom 7.8.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2002 den Antrag ab, weil sich der Gesundheitszustand des Klägers nicht wesentlich verändert habe.
Das vom Kläger daraufhin angerufene Sozialgericht Reutlingen (SG) zog seinerseits verschiedene Befund- und Behandlungsberichte bei und holte ein orthopädisches Gutachten von Dr. K. ein. Mit Urteil vom 26.8.2004 hat das SG die Klage abgewiesen. Die schwere ausgeprägte Erschöpfungsdepression mit multiplen psychosomatischen Störungen, die sich nicht erkennbar verschlimmert habe, sowie die von Dr. K. festgestellten Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule und der Gelenke rechtfertigten keinen höheren GdB als 60. Nach Durchführung eines Erörterungstermins durch den Berichterstatter und der Beiziehung eines Befundberichts hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) die Berufung des Klägers durch auf § 153 Abs 4 SGG gestützten Beschluss vom 16.8.2005 zurückgewiesen.
Dagegen hat sich der Kläger persönlich mit Schreiben vom 9.10.2005 an das Bundessozialgericht (BSG) gewandt und die Beiordnung eines Rechtsbeistandes beantragt.
Aufgrund von Zweifeln an der Prozessfähigkeit des Klägers, der sich selbst für prozessunfähig hält (s § 71 Abs 6 SGG iVm § 56 Abs 1 ZPO; BSGE 86, 107 = SozR 3-1200 § 2 Nr 1), hat der erkennende Senat zunächst verschiedene Befund- und Behandlungsberichte ua des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. (V.) vom 18.5.2006 mit beigefügtem psychiatrischem Gutachten beigezogen und sodann ein psychiatrisches Gutachten des Sachverständigen Dr. P. vom 16.4.2007 eingeholt. Dieser ist zu der Beurteilung gelangt, dass sich der Kläger - jedenfalls soweit es das Führen des vorliegenden Rechtsstreits betrifft - wegen einer wiederkehrend depressiven Störung sowie einer paranoiden Persönlichkeitsstörung seit mindestens 2005 in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet.
Nach entsprechender Mitteilung des Senats hat das Amtsgericht Villingen-Schwenningen durch Beschluss vom 12.12.2008 (FR XVII 309/07) den Rechtsanwalt U. H., V., als Betreuer des Klägers bestellt. Der Betreuer hat am 15.1.2009 Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Beschluss des LSG eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur weiteren Prozessvertretung hat er Rechtsanwalt K. und Rechtsanwältin H., R., bevollmächtigt.
Durch Beschluss vom 4.3.2009, zugestellt am 11.3.2009, hat der Senat dem Kläger wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 3.4.2009, eingegangen am 6.4.2009, die Nichtzulassungsbeschwerde begründet. Er rügt insbesondere die Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör durch das LSG. Weiter macht er geltend: Der Gesundheitszustand des Klägers hätte im Wege der Amtsermittlung auf dem Gebiet der Psychiatrie aufgeklärt werden müssen. Jedenfalls hätte im Verfahrensstand der ersten und der zweiten Instanz nicht entschieden werden dürfen. Die Rechte/Belange des Klägers seien übergangen worden, obwohl die krankhafte Situation offenkundig gewesen sei. Insbesondere wäre es geboten gewesen, spätestens in der zweiten Instanz von § 72 SGG (Bestellung eines besonderen Vertreters) Gebrauch zu machen. Insgesamt habe der Kläger somit kein faires Verfahren gehabt. Einen zunächst gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat der Kläger später zurückgenommen.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist begründet. Sie führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Es muss nicht erörtert werden, ob die vom Kläger ausdrücklich gerügten Verfahrensmängel schlüssig vorgetragen sind und auch vorliegen. Denn jedenfalls die vom Kläger sinngemäß vorgebrachte Rüge der Verletzung der Vorschriften über die Prozessfähigkeit (§ 71 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB, § 72 SGG) greift durch. Der Kläger war in dem Verfahren vor dem LSG im Jahre 2005 nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten, denn er war prozessunfähig (§ 71 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB) und es war für ihn weder ein gesetzlicher noch ein besonderer Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG bestellt. Da die Frage der Prozessfähigkeit in jeder Lage des Verfahrens und in jeder Instanz von Amts wegen zu prüfen ist (BSGE 86, 107, 108 = SozR 3-1200 § 2 Nr 1 S 2), hätte das LSG nicht über die Berufung des Klägers entscheiden dürfen, ohne zuvor einen besonderen Vertreter zu bestellen oder dafür zu sorgen, dass für den Kläger ein Vormund, Betreuer oder Pfleger bestellt wurde (Littmann in Hk-SGG Lüdtke, 3. Aufl 2009, § 72 RdNr 5). Bis dahin war entweder - bei schon zuvor bestehender Prozessunfähigkeit des Klägers - bereits die Einlegung der Berufung schwebend unwirksam oder das Verfahren gemäß § 202 SGG iVm § 241 Abs 1 Satz 1 ZPO unterbrochen.
Fehlende Vertretung eines prozessunfähigen Beteiligten ist nach dem gemäß § 202 SGG auch in sozialgerichtlichen Verfahren anzuwendenden § 547 Nr 4 ZPO ein absoluter Revisionsgrund, bei dessen Vorliegen die Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist. Da die Beurteilung des Klagebegehrens weitere Tatsachenfeststellungen voraussetzt, macht der Senat von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 SGG Gebrauch.
Im nunmehr wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen