Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 03.05.1994) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. Mai 1994 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist die Entschädigung des Unfalles vom 26. Dezember 1987, insbesondere unter Berücksichtigung einer Versteifung der rechten Schulter als Unfallfolge, streitig.
Die Klägerin war als Krankenschwester in der Medizinischen Klinik der Universität Erlangen beschäftigt. Als sie sich am Morgen des 26. Dezember 1987 auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte befand, rutschte sie auf einer vereisten Treppenstufe außerhalb ihres Wohnhauses aus und stürzte, wobei sie mit dem Gesäß auf der Treppe aufschlug.
In der Chirurgischen Universitätsklinik Erlangen, in die sie sich am Unfalltag anschließend zur Behandlung begab, wurde eine Prellung der rechten Gesäßseite diagnostiziert. Trotz des Sturzes nahm die Klägerin am Unfalltag ihren Dienst in der Klinik auf und arbeitete bis 6. Januar 1988. Anschließend hatte sie arbeitsfreie Tage und brachte vom 18. Januar 1988 bis 28. März 1988 ihren Urlaub ein. Ab dem 14. Januar 1988 trat sie eine mehrmonatige Seereise an. Gegen Ende dieser Reise seien – nach den Angaben der Klägerin – Schulterbeschwerden aufgetreten.
Am 26. Oktober 1988 suchte sie wegen Schmerzen in der rechten Schulter die Chirurgische Universitätsklinik Erlangen auf. Nach dem Bericht dieser Klinik vom 27. Oktober 1988 stünden diese Beschwerden in keinem Zusammenhang mit dem Unfall vom 26. Dezember 1987.
Mit Schreiben vom 14. April 1989 machte die Klägerin bei dem Beklagten die eingetretene Schultersteife (rechts) als Folge dieses Unfalles geltend.
Gestützt auf ein Gutachten des Chirurgen Dr. R. … in Nürnberg vom 12. Januar 1990 lehnte es der Beklagte mit Bescheid vom 22. Februar 1990 ab, die Schultergelenkserkrankung (rechts) der Klägerin zu entschädigen, weil diese Erkrankung nicht Folge eines Arbeitsunfalles sei. Nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen ergäben sich keine Hinweise für eine unfallbedingte Verletzung an der rechten Schulter. Wenn sich die Klägerin – entsprechend ihren Angaben – beim Sturz mit dem rechten Arm nach hinten aufgestützt hätte, hätten am Unfalltag oder kurzfristig danach entsprechende Beschwerden auftreten müssen, wofür es aber keine Hinweise gebe. Selbst wenn man unterstelle, daß es bei dem Sturz am 26. Dezember 1987 auch zu einer Schulterprellung (rechts) gekommen sei, könnte das bestehende Beschwerdebild damit nicht in Zusammenhang gebracht werden. Vielmehr seien die Ursachen für die Bewegungseinschränkung in der rechten Schulter und die Kapselschrumpfung des rechten Schultergelenkes nicht endgültig feststellbar. Es könne daher nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß die Schulterbeschwerden (rechts) ursächlich auf den Unfall vom 26. Dezember 1987 zurückzuführen seien.
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, wegen der Folgen des Unfalles vom 26. Dezember 1987 der Klägerin eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH zu gewähren (Urteil vom 30. März 1992). Es stützte sich dabei insbesondere auf Gutachten des Medizinaloberrats Dr. O. … vom 8. Juli 1991 sowie des Orthopäden Dr. G. … vom 28. Januar 1992.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 3. Mai 1994). Es ist zu dem Ergebnis gelangt, der Anspruch der Klägerin sei unbegründet, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall (Sturz auf dem Weg zur Arbeitsstätte) und einer Schultersteife (rechts) nicht nachgewiesen sei. Insbesondere sei nicht nachgewiesen, daß sich die Klägerin bei dem Sturz neben einer Prellung im Bereich der rechten Gesäßhälfte auch eine Verletzung im Bereich der rechten Schulter zugezogen habe. Insoweit sei der Nachweis im Maße der Gewißheit (Vollbeweis) erforderlich. Die Folgen des Nicht-festgestellt-Seins habe die Klägerin nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu tragen. Es sei nirgends belegt, daß bei der Klägerin unmittelbar nach dem Sturz Schmerzen im Bereich der rechten Schulter aufgetreten seien. Zwar sei gut vorstellbar, daß sich die Klägerin bei dem Sturz mit einer Abstützreaktion der Arme habe abfangen wollen, wobei naheliegend sei, daß die Schulterregion dabei in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Selbst wenn man aber einen solchen – nicht erwiesenen – Sachverhalt zugunsten der Klägerin unterstellen würde, fehle es an nachgewiesenen Symptomen für eine Schultergelenksverletzung (Gewebeschädigung der Gelenkkapsel). Den für die Klägerin günstigen Beurteilungen der im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen Dr. O. … und Dr. G. … lägen insoweit nur Mutmaßungen zugrunde; es fehle jedoch an einem Nachweis, wie er hier zu fordern sei. Zu folgen sei deshalb den Gutachten von Dr. F. … und Dr. B. …, die eine Schulterverletzung mangels belegbarer Befunde (Brückensymptome) für nicht vorstellbar gehalten hätten.
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision (Beschluß vom 16. März 1995) rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das LSG habe die Vorschriften der §§ 548, 550 und 580 Reichsversicherungsordnung (RVO) verletzt. Entgegen der Auffassung des LSG sei die bestehende Schultersteife eine Folge ihres Sturzes auf einer vereisten Treppe auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte. Der Auffassung des LSG, daß die bei ihr bestehende Schultersteife keine Folge des Unfalles sei, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Körperschaden und dem Unfall nicht erwiesen sei, könne jedoch nicht gefolgt werden. Mit der Forderung des Vollbeweises des ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Unfall am 26. Dezember 1987 und der bestehenden Schultererkrankung weiche das LSG von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab. So fordere das BSG lediglich für die den Arbeitsunfall begründenden Tatsachen den Vollbeweis, während für das Vorliegen der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität die hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreiche (vgl BSGE 58, 76, 78).
Das LSG habe ferner verfahrensfehlerhaft entgegen der gemäß § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bestehenden Sachaufklärungspflicht zur Feststellung des ursächlichen Zusammenhanges, insbesondere der für erforderlich gehaltenen Brükensymptome die von der Klägerin schriftsätzlich am 15. April 1993, 15. Oktober 1993 und 12. April 1994 angebotenen Zeugen, nämlich Kapitän U. O., den Mitpassagier C. … F. …, den H. E. F. … und ihre Tochter K. … N. … -W. … nicht vernommen. Das LSG hätte nicht auf die beantragte Vernehmung der Zeugen verzichten dürfen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. Mai 1994 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30. März 1992 zurückzuweisen;
hilfsweise,
den Rechtsstreit unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Er hält einen Verstoß des LSG gegen die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Beweisanforderungsgrundsätze nicht für gegeben. Das LSG habe diese Grundsätze durchaus richtig erkannt und angewandt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist – im Sinne des Hilfsantrags – insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen für eine Entscheidung, ob der geltend gemachte Entschädigungsanspruch der Klägerin zu verneinen oder zu bejahen ist, nicht aus.
Nach den nicht angegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat die Klägerin am 26. Dezember 1987 auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte durch einen Sturz auf einer vereisten Treppe einen Arbeitsunfall gemäß § 550 Abs 1 RVO erlitten. Sie hat sich dabei nach den Feststellungen des LSG eine Prellung sowie ein Hämatom im Bereich des rechten Gesäßes zugezogen. Die Klägerin begehrt Verletztenrente unter Berücksichtigung einer Versteifung der rechten Schulter als Folge dieses Unfalles.
Nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO wird, so lange infolge des Arbeitsunfalles die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, als Verletztenrente der Teil der Vollrente gewährt, der dem Grade der MdE entspricht (Teilrente). Voraussetzung für eine Einbeziehung der rechtsseitigen Schultersteife bei der Bemessung der unfallbedingten MdE für den Entschädigungsanspruch ist jedoch, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dieser Gesundheitsstörung gegeben ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG sowie der darauf gestützten überwiegenden Meinung im Schrifttum reicht für die Bejahung der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (vgl BSGE 45, 285, 286; 58, 76, 79; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 480m mwN). Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung alle Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so daß darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 45, 285, 286). Abweichend von diesen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG reduzierten Beweisanforderungen für den ursächlichen Zusammenhang ist das LSG von dem Rechtssatz ausgegangen, daß der ursächliche Zusammenhang (haftungsausfüllende Kausalität) zwischen dem Unfall und der geltend gemachten Versteifung des rechten Schultergelenkes im Sinne der an den Vollbeweis zu stellenden Anforderungen erwiesen sein müsse. Zwar ist für die Feststellung der übrigen entscheidungserheblichen Tatsachen der volle Beweis erforderlich; dh alle sonstigen Voraussetzungen des Arbeitsunfalles müssen in so hohem Grade wahrscheinlich sein, daß bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis als erbracht angesehen werden kann (BSGE 61, 127, 128; Brackmann aaO, S 244k VIII und 244l). Dies gilt aber nicht für die kausale Verknüpfung (BSGE 61, 127, 129). Das angefochtene Urteil wäre möglicherweise anders ausgefallen, wenn das LSG von der Rechtsprechung des BSG ausgegangen wäre (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 160 RdNr 14 mwN).
Damit fehlt es im vorliegenden Fall an der entscheidungserheblichen Feststellung, ob der behauptete ursächliche Zusammenhang zwischen der Versteifung der rechten Schulter und dem schädigenden Ereignis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit besteht oder nicht. Da das LSG in dem angefochtenen Urteil von anderen Beweisgrundsätzen ausgegangen ist, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben werden.
Das Revisionsgericht kann in der Sache selbst nicht entscheiden. Die Feststellung, ob die Versteifung des rechten Schultergelenkes mit dem Unfallereignis in einem ursächlichen Zusammenhang steht, hat das Tatsachengericht zu treffen (§ 128 Abs 1 SGG). Daher mußte der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Es wird die entsprechende Feststellung nachzuholen haben.
Unter diesen Umständen kann im Revisionsverfahren dahinstehen, ob die von der Klägerin desweiteren geltend gemachten Verfahrensmängel vorliegen und zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils führen würden.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 1173483 |
SozSi 1997, 358 |