Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 29.06.1994) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1994 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Entschädigung einer chronisch-myeloischen Leukämie sowie eines Leberparenchymschadens als Berufskrankheit (BK) bzw als Folge einer BK.
Der im Jahre 1941 geborene Kläger wurde vom 1. März 1958 bis zum 2. Februar 1961 als Schriftsetzer- und vom 1. März 1961 bis zum 28. Februar 1963 als Buchdruckerlehrling in einer Buch- und Kunstdruckerei ausgebildet. In der Zeit vom 1. März 1963 bis zum 30. September 1963 arbeitete er dort als Buchdruker.
Am 3. Juni 1983 zeigte der Kläger bei der Beklagten an, daß er seit dem 3. Mai 1979 an Leukämie erkrankt sei, die er auf seine frühere berufliche Tätigkeit in der Buch- und Kunstdruckerei zurückführe. Aufgrund eines arbeitsmedizinisch-internistischen Gutachtens vom 9. April 1984 durch Prof. Dr. H. V. … /Dr. R. … mit radiologischem Zusatzgutachten vom 27. Februar 1984 durch Dr. S. … und einer Stellungnahme des Gewerbearztes Dr. med. Dipl.-Chemiker R. M. … vom 4. Oktober 1984 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger wegen einer BK zu entschädigen (Bescheid vom 27. November 1984).
Das Sozialgericht (SG) hat über die Schadstoffexposition des Klägers Zeugen vernommen, von dem Arzt für innere Krankheiten – Arbeitsmedizin – Dr. P. … ein Gutachten vom 26. März 1985 mit ergänzender Stellungnahme vom 30. September 1985 eingeholt und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Januar 1986).
Das Landessozialgericht (LSG) hat schriftliche Auskünfte eingeholt, Krankenunterlagen über den Kläger beigezogen, Zeugen vernommen sowie von Amts wegen von Prof. Dr. med. Dipl.-Chemiker T. … ein arbeitsmedizinisches Gutachten vom 22. Mai 1990 und gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Prof. Dr. H. … ein internistisches Gutachten vom 7. April 1992 mit ergänzender Stellungnahme vom 12. August 1992 erstatten lassen. In der mündlichen Verhandlung vom 21. Juli 1993 überreichte der Kläger dem LSG eine schriftliche Stellungnahme des Prof. Dr. B., … Arzt für innere Medizin – Hämatologie, Onkologie – vom 12. Juli 1993, in der dieser ua die bisher noch nicht in das Verfahren eingeführten Blutwerte des Klägers aus den Jahren 1967 bis 1972 erstmals gutachterlich auswertete. Das LSG nahm Fotokopien dieser Blutwerte im Anschluß an den Erörterungstermin vom 6. Oktober 1993 erstmals zu den Akten. Dazu hat Prof. Dr. B. … bereits in seiner Stellungnahme vom 12. Juli 1993 ausgeführt, die Blutwerte bewiesen seit Januar 1970 quantitative Veränderungen, die nach den Unterlagen bis zum Oktober 1972 (seitdem fehlen weitere Blutanalysen) fortbestanden hätten. Es handele sich um eine konstante Verminderung der Granulozyten, und eine relative Vermehrung der Lymphozyten. Diese Verschiebungen seien sehr typisch für eine Benzolintoxikation. Das LSG hat in der letzten mündlichen Verhandlung am 29. Juni 1994 den Hilfsantrag des Klägers zu Protokoll genommen: „hilfsweise Beweis darüber zu erheben, daß die bei ihm festgestellten Blutbildveränderungen nur durch Benzolintoxikation zu erklären seien, durch Einholung eines Gutachtens des Prof. Dr. F. … (Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg)”. Sodann hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 29. Juni 1994). Es hat ausgeführt, die beim Kläger vorliegende chronisch-myeloische Leukämie und sein Leberschaden seien nicht die wahrscheinliche Folge von Schadstoffeinwirkungen in Form von Benzol oder Halogenkohlenwasserstoff während seiner Tätigkeit als Schriftsetzer- und Buchdruckerlehrling. Der Senat habe insbesondere Zweifel daran, ob und in welchem Umfang der Kläger der Einwirkung von Benzol ausgesetzt gewesen sei. Die umfangreiche Beweisaufnahme habe hierfür nicht den entsprechenden Nachweis erbracht. Aber selbst wenn der Senat – zugunsten des Klägers – unterstelle, daß sich sowohl in den Waschschüsseln zum Putzen von Messinglinien als auch in der als „eiserne Ration” im Schrank des Maschinensetzers R. … aufbewahrten Flasche Benzol befunden habe, könne der Nachweis einer wahrscheinlichen Verursachung der chronisch-myeloischen Leukämie des Klägers durch schädigende Einwirkungen (haftungsausfüllende Kausalität) nicht erbracht werden. Dabei ist das LSG nicht auf die Blutwerte des Klägers aus den Jahren 1967 bis 1972 eingegangen. Zu dem Hilfsantrag des Klägers hat es ausgeführt: „Der Senat hat davon abgesehen, ein weiteres Gutachten gemäß § 109 einzuholen, da zum einen der Sachverhalt aufgeklärt ist und zum anderen mit Prof. Dr. K.P. H. … bereits ein ärztlicher Sachverständiger gemäß § 109 SGG gehört worden ist.”
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision (Beschluß vom 16. März 1995) macht der Kläger geltend, daß das LSG einem (hilfsweise) gestellten Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Der Beweisantrag sei gestellt worden, weil das LSG eine sachverständige medizinisch-wissenschaftliche Beurteilung seiner dem Gericht zur Verfügung gestellten Blutwerte aus den Jahren 1967 bis 1972 im Zusammenhang mit dem Klageanspruch nicht veranlaßt habe. Das LSG habe verkannt, daß der Beweisantrag nicht auf § 109 SGG gestützt, sondern nach den §§ 103, 106 SGG gestellt worden sei. Zu der Ablehnung dieses Antrages fehle im Urteil jegliche Begründung. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, den Beweis zu erheben. Die Verschiebungen im Blutbild hätten ergeben, daß solche Veränderungen nur nach einer Einwirkung durch Benzol entstehen. Der Beweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Benzolkontakt in der Firma H. … und seiner Erkrankung an Leukämie wäre gegeben gewesen. Das LSG wäre auch verpflichtet gewesen, die Unterlagen über die Untersuchung anläßlich der Einstellung bei der Firma H. … beizuziehen. Das LSG hätte desweiteren aufklären müssen, in welchem Umfang 1958 Druckereien üblicherweise Benzol zum Reinigen des Materials verwendet hätten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1994 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1994 zurückzuweisen.
Sie schließt sich den Ausführungen des LSG an. Eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht liege nicht vor. Den Blutbildwerten könne hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität keine Bedeutung zukommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Das angefochtene Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensmangel, daß das LSG unter Verletzung seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), festgestellt hat, beim Kläger liege keine BK in Form einer Erkrankung durch Halogenkohlenwasserstoffe oder durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol vor, weil die bei ihm bestehende chronisch-myeloische Leukämie und sein Leberschaden nicht die wahrscheinliche Folge von Schadstoffeinwirkungen in Form von Benzol oder Halogenkohlenwasserstoffen während seiner Tätigkeit als Schriftsetzer- und Buchdruckerlehrling seien. Es fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen, um den Rechtsstreit in der Sache abschließend entscheiden zu können.
Zutreffend rügt der Kläger, daß das LSG den medizinischen Sachverhalt unzureichend erforscht hat, in dem es den in der mündlichen Verhandlung vom 29. Juni 1994 hilfsweise gestellten Beweisantrag abgelehnt hat. Entgegen der Ansicht des LSG hat es sich bei diesem Antrag um keinen Antrag nach § 109 SGG gehandelt. Zwar ist es für einen derartigen Antrag nicht erforderlich, daß er ausdrücklich als solcher bezeichnet wird (BSG SozR Nr 26 zu § 109 SGG). Es gibt aber im vorliegenden Fall keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Kläger einen ausschließlich auf § 109 SGG gegründeten Beweisantrag gestellt hat. Es war bereits ein Gutachten nach § 109 SGG eingeholt worden. Der Kläger hat sich bei dem dazu gestellten Antrag entsprechend dem Schriftsatz vom 21. September 1990 hinsichtlich der beantragten gutachterlichen Anhörung von Prof. Dr. H. … – anders als später in seinem Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung Prof. Dr. F. … zu hören – ausdrücklich auf § 109 SGG bezogen. Die bloße Benennung eines Sachverständigen mit vollem Namen beschränkt dagegen den Antrag nicht allein auf § 109 SGG. Eine derartige Benennung kann auch lediglich als Anregung verstanden werden, das Beweisthema im Rahmen der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht von einem bestimmten Arzt klären zu lassen. Damit hat das LSG für die Ablehnung des Beweisantrages in der Sache keine Ablehnungsgründe angeführt. Eine Klärung mit dem Antragsteller in der mündlichen Verhandlung gemäß § 106 SGG ist nicht erfolgt.
Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Diese das sozialgerichtliche Verfahren beherrschende Untersuchungsmaxime ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterläßt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen (allgemeine Meinung, vgl BSG SozR § 103 SGG Nr 40; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 103 RdNrn 5 und 20). Aus der sachlich-rechtlichen Sicht des LSG ist es darauf angekommen festzustellen, ob der Kläger während der Zeit seiner Tätigkeit als Schriftsetzer-und Buchdruckerlehrling sowie als Buchdrucker in der Firma Buch- und Kunstdrukerei J. … H. … der Einwirkung von Benzol ausgesetzt war und ob die im Mai 1979 festgestellte chronisch-myeloische Leukämie sowie der Leberparenchymschaden ursächlich auf diese Einwirkung zurückzuführen sind. Dabei hätte es sich im Rahmen seiner Pflicht gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen. Denn in der mündlichen Verhandlung vom 21. Juli 1993 hat der Kläger eine Stellungnahme des Prof. Dr. B., … Arzt für innere Medizin – Hämatologie, Onkologie – vom 12. Juli 1993 überreicht, in der dieser ua die bis dahin noch nicht in das Verfahren eingeführten Blutwerte des Klägers aus den Jahren 1967 bis 1972 erstmals auswertete. Prof. Dr. B. … hat dazu ausgeführt, die Blutwerte bewiesen seit Januar 1970 quantitative Veränderungen, die nach den Unterlagen bis zum Oktober 1972 (seitdem fehlen weitere Befunde über Blutanalysen) fortbestanden hätten. Es handele sich um eine konstante Verminderung der Granulozyten und eine relative Vermehrung der Lymphozyten. Das LSG hat Fotokopien dieser Blutwerte im Anschluß an den Erörterungstermin vom 6. Oktober 1993 erstmals zu den Akten genommen. Eine weitere sachverständige medizinisch-wissenschaftliche Beurteilung dieser Blutwerte im Zusammenhang mit dem Klageanspruch ist nicht erfolgt. Dazu hätte sich das LSG im Hinblick auf die Ausführungen von Prof. Dr. B. … gedrängt fühlen müssen. Die bis dahin gemäß § 103 SGG oder § 109 SGG gehörten Sachverständigen haben diese Blutwerte nicht berücksichtigen können, weil sie erst nach der jeweiligen Gutachtenserstattung zu den Akten gelangt sind. Die vorher beauftragten Sachverständigen sind dazu auch nicht ergänzend gehört worden. Das LSG hat sich in den Entscheidungsgründen des Urteils nicht mit den Ausführungen von Prof. Dr. B. … und seiner Auswertung der Blutwerte des Klägers auseinandergesetzt, sondern nur pauschal ausgeführt, die Schlußfolgerung von Prof. Dr. B. … sei nach Auffassung des LSG nicht geeignet, die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nachzuweisen. Eine Begründung dafür, warum seine Schlußfolgerung ungeeignet sei, hat das LSG nicht gegeben. Auch hat es nicht dargelegt, worauf seine Sachkunde – etwa eigenen medizinischen Sachverstand – für eine derartige Beurteilung beruht, nachdem medizinische Sachverständige dazu nicht gehört wurden.
Angesichts der Ausführungen von Prof. Dr. B. … hätte sich aber das LSG vor der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens nach § 128 Abs 1 SGG gedrängt fühlen müssen, dem Beweisantrag des Klägers zumindest hinsichtlich des genannten Beweisthemas zu folgen und ein weiteres Gutachten zur Frage der Blutbildveränderungen oder wenigstens eine dahingehende Gutachtensergänzung einzuholen. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß das LSG, auch wenn es unterstellt hat, „daß sich sowohl in den Waschschüsseln als auch in der Flasche im Schrank des Maschinensetzers J. R. … Benzol befand,” den Nachweis einer wahrscheinlichen Verursachung der chronisch-myeloischen Leukämie des Klägers durch schädigende Einwirkungen nicht als erbracht angesehen hat. Denn die Blutwerte und die daraus abzulesenden Veränderungen können sowohl Bedeutung haben für die Frage, ob der Kläger Einwirkungen des Benzols ausgesetzt war, als auch für dessen gesundheitlichen Auswirkungen. Damit stellt sich der abgelehnte Beweisantrag als eine Verletzung des § 103 SGG dar.
Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG nach Einholung eines weiteren Gutachtens oder ergänzender gutachterlicher Stellungnahmen zu einer anderen Gesamtwürdigung des Ermittlungsergebnisses gelangt wäre.
Die Sache war daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen