Entscheidungsstichwort (Thema)

Analogie. Auge. Auslegung. Berechnungsfähigkeit. Erosio corneae. Gebühr. Gebührenordnungsbestimmung. Grenze. Hautdefekt. Honorarberichtigung. Interpretation. Zurückhaltung

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Begriff der “kleinen Wunde” iS der Nr 2000 BMÄ/E-GO.

 

Normenkette

SGB V § 87; BMÄ Nr. 2000

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 01.09.1992; Aktenzeichen L 6 Ka 30/91)

SG Kiel (Urteil vom 06.02.1991; Aktenzeichen S 8 Ka 102/89)

 

Tenor

Auf die Revisionen der Beklagten und des Beigeladenen zu 6) wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 1. September 1992 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 6. Februar 1991 wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat der Beklagten deren Aufwendungen für das Revisionsverfahren zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Behandlung einer Hornhautabtragung am Auge (Erosio corneae) den Leistungsinhalt der Gebührenposition 2000 BMÄ/E-GO (Erstversorgung einer kleinen Wunde) erfüllt. Der Kläger, der als Augenarzt an der kassen- und vertragsärztlichen (seit 1. Januar 1993 einheitlich: vertragsärztlichen) Versorgung teilnimmt, wendet sich dagegen, daß die Beklagte die betreffenden Leistungsansätze von seiner Honoraranforderung für das zweite Quartal 1989 mit der Begründung abgesetzt hat, eine Erosion der Hornhaut stelle keine Wunde im Sinne des Gebührentatbestandes dar.

Während Widerspruch und Klage ohne Erfolg geblieben sind, hat das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Klägers mit dem angefochtenen Urteil vom 1. September 1992 den Honorarberichtigungsbescheid aufgehoben. Mit dem in der Leistungslegende der Nr 2000 BMÄ/E-GO verwendeten Begriff der Wunde könne vom Wortsinn her jeder Hautdefekt und nicht nur – wie die Beklagte meine – eine mit einer Verletzung von Lymph- oder Blutgefäßen einhergehende Läsion gemeint sein. Nach dem Sinnzusammenhang müsse auch die Erosio corneae darunter fallen, denn die Erstversorgung kleiner Wunden diene dazu, Infektionsrisiken vorzubeugen und die Heilung zu beschleunigen, was bei Hornhautverletzungen am Auge mindestens so wichtig sei wie bei sonstigen kleinen, “nässenden” Wunden.

Gegen dieses Urteil haben sowohl die Beklagte als auch der zu 6) beigeladene Ersatzkassenverband die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Beide rügen eine Verletzung des § 87 Abs 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) und des einschlägigen Gebührenrechts. Das LSG habe nicht beachtet, daß den Gerichten bei der Interpretation von Gebührenordnungsbestimmungen Zurückhaltung auferlegt sei. Nach allgemeinem Sprachgebrauch werde unter einer Wunde eine blutende Verletzung mit gewisser Tiefenausdehnung verstanden, während es sich bei der Erosio corneae um einen oberflächlichen Defekt an der Hornhaut handele, der ohne Narbe abheile. Indem es von der durch den Sprachgebrauch festgelegten Bedeutung des Begriffs “Wunde” abgewichen sei und diesen unter Berufung auf den vermuteten Sinn und Zweck der Gebührenbestimmung extensiv interpretiert habe, habe das Berufungsgericht die Grenzen zulässiger Auslegung überschritten.

Die Beklagte und der Beigeladene zu 6) beantragen,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 1. September 1992 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 6. Februar 1991 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die übrigen Beteiligten haben im Revisionsverfahren keine Anträge gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revisionen sind begründet und führen zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die streitigen Honorarberichtigungen sind rechtmäßig. Die Beklagte und ihr folgend das SG haben zutreffend entschieden, daß die Gebühr nach Nr 2000 BMÄ/E-GO bei der Behandlung einer Hornhautabtragung am Auge nicht berechnungsfähig ist.

Das LSG überschreitet mit seiner gagenteiligen Entscheidung die den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bei der Auslegung von Bewertungs- und Gebührenvorschriften gezogenen Grenzen. Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, gebieten es der vertragliche Charakter der Bewertungsmaßstäbe und Gebührenordnungen und der damit einhergehende Vorrang der Vertragspartner der gemeinsamen Selbstverwaltung bei der Festlegung des Inhalts und des Umfangs der vertragsärztlichen Leistungen, daß sich die Gerichte bei der Interpretation solcher Vorschriften Zurückhaltung auferlegen. Die Auslegung hat sich am Wortlaut zu orientieren und sich bei Unklarheiten auf die Heranziehung solcher Hilfsmittel zu beschränken, die eindeutige Rückschlüsse auf das von den Vertragspartnern Gewollte zulassen. Eine ausweitende Interpretation der Leistungsbeschreibungen und -bewertungen, etwa im Wege analoger Anwendung auf nicht erfaßte Sachverhalte, ist danach nicht zulässig (BSGE 58, 35, 37 f = SozR 5557 Nr 1; BSGE 69, 166, 167 f = SozR 3-2500 § 87 Nr 2). Mit diesen Grundsätzen ist die Erstreckung des Leistungsinhalts der Nr 2000 BMÄ/E-GO auf die Behandlung von Hornhauterosionen nicht zu vereinbaren.

Entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch wird in den Kommentierungen zum vertragsärztlichen Gebührenrecht unter einer Wunde im Sinne der Leistungslegenden der Nrn 2000 bis 2005 BMÄ/E-GO eine durch Verletzung entstandene Unterbrechung der Unversehrtheit der Haut- bzw Schleimhautoberfläche mit einer gewissen Tiefenausdehnung verstanden, die mindestens die Epidermis einbezieht, so daß, von Verbrennungen und Verätzungen abgesehen, die Wunde blutet (Kölner Kommentar zum EBM, Stand April 1993, S 387; ebenso Wezel/Liebold, Handkommentar BMÄ, E-GO und GOÄ, Stand Oktober 1991, S 10-503: Unterbrechung der Gewebekontinuität an einer Körperober- oder -innenfläche mit Eröffnung von Lymphspalten und Blutgefäßen). Durch die Nr 2000 BMÄ/E-GO sollen die Maßnahmen zur Behandlung einer frischen Wunde wie Wundrevision, Wundreinigung und Blutstillung abgegolten werden, während die Versorgung bloß oberflächlicher Kratzer nicht darunter fällt (Kölner Kommentar, aaO, S 387, 389). In dem vorgenannten Sinne sind der Begriff der Wunde und der Leistungsinhalt der in Rede stehenden Gebührenziffer bisher auch von den Augenärzten selbst verstanden worden, wie sich aus der vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten Stellungnahme des Augenarztes Dr. R.… von 8. März 1990 ergibt. Wenn das Berufungsgericht bei dieser Sachlage unter Berufung auf einen von ihm vermuteten Sinn und Zweck der Gebührenordnungsbestimmung auch die Behandlung oberflächlicher Schürfungen oder Kratzer auf der Hornhaut des Auges in den Leistungsinhalt der Nr 2000 BMÄ/E-GO einbezieht, weitet es diesen in unzulässiger Weise über den vom Bewertungsausschuß und den Partnern der Vertragsgebührenordnungen erkennbar gewollten Umfang hinaus aus. Diesen selbst muß es überlassen bleiben, im Falle eines von ihnen gesehenen Handlungsbedarfs eine entsprechende Erweiterung vorzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dessen Absatz 4 ist für das Revisionsverfahren in der seit 1. Januar 1993 geltenden Fassung des Art 15 Nr 2 des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266) anzuwenden, während es für das vor diesem Zeitpunkt anhängig gewordene Berufungsverfahren bei der früheren, bis zum 31. Dezember 1992 maßgebenden Fassung verbleibt (BSGE 72, 148, 156 ff = SozR 3-2500 § 15 Nr 1).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI913327

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