Beteiligte
…, Kläger und Revisionsbeklagter |
Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel, Bonn, Niebuhrstraße 5, Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
G r ü n d e :
I
Die Beteiligten streiten um den Anspruch eines Fliesen- und Bodenlegers festzustellen, daß seine Meniskusschäden eine Berufskrankheit (BK) gemäß § 551 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm Nr 2102 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) sind.
Vom 1. Mai 1959 bis zum 15. Februar 1965 war der Kläger als Fliesenleger und anschließend bis zum 15. Mai 1983 als Bodenleger abhängig beschäftigt. Seinen Angaben zufolge litt er seit Herbst 1969 an Schmerzen im rechten Knie. Wegen einer Meniskuserkrankung ließ er sich vom 16. April bis zum 5. Mai 1970 stationär behandeln. Dabei wurde der Innenmeniskus in seinem rechten Kniegelenk operativ entfernt. Bis zum 14. Juni 1970 war er deswegen arbeitsunfähig. Wegen schmerzhafter Beschwerden im rechten Kniegelenk begab er sich im Januar 1982 erneut in ambulante fachärztliche und in der Zeit vom 16. April bis zum 29. April 1982 in stationäre Behandlung. Bis zum 15. Dezember 1982 war der Kläger deswegen arbeitsunfähig krank.
Nachdem die Beklagte bereits mit formlosem Schreiben vom 3. Januar 1983 eine BK-Entschädigung abgelehnt hatte, weil nach damals geltendem Recht Meniskusschäden nur dann entschädigt werden dürften, wenn sie nach einer mindestens dreijährigen regelmäßigen Tätigkeit unter Tage aufgetreten seien, lehnte sie den erneuten Antrag des Klägers vom 24. März 1990 auf Anerkennung seines Meniskusschadens als BK mit Bescheid vom 6. Dezember 1990 ab. Zur Begründung führte sie ua aus, die Anerkennung seines Meniskusschadens als BK, die zwar nach der Neufassung der BKVO durch die Verordnung zur Änderung der BKVO vom 22. März 1988 (ÄndVO 1988 - BGBl I S 400 -) nicht mehr die dreijährige regelmäßige Tätigkeit unter Tage voraussetze, sei aber nach der Rückwirkungsvorschrift des Art 3 Abs 2 der ÄndVO 1988 trotzdem ausgeschlossen, weil bei ihm der Versicherungsfall nicht nach dem 31. Dezember 1976 eingetreten sei.
Das Sozialgericht (SG) München hat die Beklagte "verurteilt, beim Kläger eine Berufskrankheit nach Nr 2102 BKVO anzuerkennen", und die Klage auf Verletztenrente im übrigen abgewiesen (Urteil vom 14. April 1992). Die BK sei anzuerkennen, weil der Versicherungsfall noch nicht iS des § 551 Abs 3 RVO eingetreten sei. Danach gelte bei BKen als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls dann, wenn dies für den Versicherten günstiger sei, der Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Nach dem Gerichtsgutachten des Orthopäden Dr. L. vom 6. März 1992 mit Ergänzung vom 2. April 1992 habe wegen des Meniskusschadens vor dem 1. Januar 1977 noch keine rentenberechtigende MdE vorgelegen; über 10 vH, wie sie gegenwärtig vorliege, sei die MdE bisher nicht hinausgegangen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 26. Juli 1994).
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des Art 3 Abs 2 der ÄndVO 1988. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG SozR 2200 § 551 Nr 35 (2 RU 54/88) sei der Versicherungsfall spätestens im Jahre 1970 eingetreten. Damit schließe Art 3 Abs 2 der ÄndVO 1988 in diesem Fall einen Anspruch auf Entschädigung aus. Entgegen dem nicht überzeugenden Interpretationsversuch des LSG sei davon auszugehen, daß der Verordnungsgeber generell Erkrankungen vor dem 1. Januar 1977 von der Entschädigungspflicht habe ausschließen wollen. Für eine isolierte Feststellung einer BK ohne Entschädigungsmöglichkeit fehle dementsprechend jegliches Feststellungsinteresse.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
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das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben, das angefochtene Urteil des SG zu ändern und die Klage auch insoweit abzuweisen, als sie die Anerkennung einer BK betrifft. |
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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die Revision zurückzuweisen. |
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Unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG habe das LSG zwischen Versicherungsfall und Leistungsfall unterschieden. Zu Recht sei es danach zu dem Ergebnis gekommen, daß nach dem Willen des Verordnungsgebers nur solche Tatbestände von einer Entschädigung ausgeschlossen würden, deren sämtliche Leistungsvoraussetzungen bereits vor dem 1. Januar 1977 erfüllt gewesen seien. Er schließe sich den schlüssigen Argumenten des LSG an.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
II
Die Revision ist unbegründet.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG in dem angefochtenen Urteil, die für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), leidet der Kläger mit seinen Meniskusschäden an einer Krankheit, die erst aufgrund der ÄndVO 1988 als BK anerkannt werden darf. Während die Nr 2102 der Anlage 1 zur BKVO (idF vom 8. Dezember 1976 - BGBl I 721 -) nur "Meniskusschäden nach mindestens dreijähriger regelmäßiger Tätigkeit unter Tage" als BK iS des § 551 Abs 1 RVO bezeichnet hatte, wurde diese BK durch die am 1. April 1988 in Kraft getretene ÄndVO 1988 auf alle "Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten" ausgedehnt. Diese Erweiterung trifft nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) auf den Meniskusschaden des Klägers zu.
Das LSG hat indessen auch festgestellt, daß der Kläger bereits spätestens seit seiner ersten Meniskusoperation im April 1970 an dieser Krankheit leidet und es sich bei den Beschwerden, die im Jahre 1982 zur zweiten Meniskusoperation geführt haben, um eine Wiedererkrankung an derselben Krankheit gehandelt hat. Im Sinne des § 551 Abs 1 RVO iVm der Nr 2102 der Anlage 1 zur BKVO idF der ÄndVO 1988 haben danach alle Tatbestandsmerkmale des Risikos für den Versicherten oder Wagnisses auf seiten des Unfallversicherungsträgers schon vor dem 1. Januar 1977 vorgelegen. Das aber reicht entgegen der Meinung der Beklagten noch nicht aus, um Ansprüche auf Entschädigung derart Erkrankter wegen einer neu in die BKVO aufgenommenen BK in jedem Falle auszuschließen.
Unter welchen Voraussetzungen solche Altfälle nach der ÄndVO 1988 als BK anerkannt und entschädigt werden dürfen, regelt Art 3 Abs 2 Satz 1 ÄndVO 1988. Leidet danach ein Versicherter bei Inkrafttreten der ÄndVO 1988 an einer Krankheit, die erst auf Grund dieser ÄndVO als BK iS von § 551 Abs 1 RVO anerkannt werden kann, so hat er auf Antrag Anspruch auf Entschädigung, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1976 (also vom Inkrafttreten der vorausgegangenen Fassung der BKVO ab ≪Verordnung vom 8. Dezember 1976 - BGBl I 721 -≫) eingetreten ist. Der hier von dem Verordnungsgeber verwendete Begriff "Versicherungsfall" bedarf der Auslegung.
Während der Gesetzgeber des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) den Begriff "Versicherungsfall" für BKen weder in § 551 RVO verwandt noch an anderer Stelle der RVO definiert hat, was unter diesem Begriff bei einer BK zu verstehen ist, hat der jeweilige Verordnungsgeber der verschiedenen Fassungen der BKVO für die betreffenden Übergangsvorschriften den Begriff "Versicherungsfall" gebraucht, anfangs auch definiert und ihn bis zur ÄndVO 1988 auf den Entschädigungsanspruch des Versicherten bezogen (s auch Koch in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 2, Gesetzliche Unfallversicherung, § 35 RdNrn 23 und 24 - im Druck). So lautet schon § 12 der "Dritten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten" vom 16. Dezember 1936 (RGBl I 1117): "Leidet ein Versicherter zur Zeit des Inkrafttretens dieser Verordnung an einer Berufskrankheit, die nicht schon auf Grund der Zweiten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 11. Februar 1929 (RGBl I S 27) zu entschädigen ist, so wird die Entschädigung nach den vorstehenden Vorschriften gewährt, wenn der Versicherungsfall (§ 3 Abs 2 Satz 1) nach dem 30. Januar 1933 eingetreten ist." § 3 Abs 2 Satz 1 dieser Verordnung bestimmt: "Als Zeitpunkt des Unfalls gilt der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, der Beginn der Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Unfallversicherung." Diese Bestimmung enthält somit fast wörtlich diejenige Regelung, die das UVNG in § 551 Abs 3 Satz 2 RVO für den Leistungsfall der BK übernommen hat. Alle folgenden Änderungsverordnungen der BKVO bis einschließlich der ÄndVO 1988 bezogen in ihren Übergangsvorschriften für neuaufgenommene BKen in gleicher Weise den Begriff "Versicherungsfall" auf den Entschädigungsanspruch des Versicherten, allerdings ohne eine zusätzliche Klammerdefinition (s § 5 Abs 2 der VO vom 29. Januar 1943 - RGBl I 85 -; § 2 Abs 3 der VO vom 26. Juli 1952 - BGBl I 395 -; § 4 Abs 2 der VO vom 28. April 1961 - BGBl I 505 -; § 9 Abs 1 der VO vom 20. Juni 1968 - BGBl I 721 -). Erst der Verordnungsgeber der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 (- BGBl I 2343 ≪ÄndVO 1992≫) hat den Wortlaut und den Regelungsinhalt der Übergangsvorschrift geändert (ebenso Koch aaO RdNr 24). Er bezieht in der Übergangsvorschrift des Art 2 Abs 2 für neuaufgenommene BKen, nachdem in der Zwischenzeit das Urteil des Senats vom 27. Juli 1989 vorlag, den Begriff "Versicherungsfall" nicht mehr auf den Anspruch auf Entschädigung, sondern auf den Anspruch des Versicherten auf Anerkennung einer BK iS des § 551 Abs 1 RVO. Nach dem Urteil des Senats vom 27. Juli 1989 (SozR 2200 § 551 Nr 35) stellt § 551 Abs 1 RVO iVm allen Voraussetzungen der betreffenden Nummer in der Anlage 1 zur BKVO die Tatbestandsmerkmale einer BK iS der RVO auf. Die Bezeichnung einer Krankheit als BK besagt, daß sämtliche Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, die das Gesetz als versichertes Risiko (Gefahr) aus der Sicht des Versicherten und Wagnis auf seiten des Unfallversicherungsträgers für eine BK voraussetzt. Damit ist in § 551 Abs 1 RVO iVm der Anlage 1 zur BKVO der Versicherungsfall der BK umschrieben. Somit rechtfertigt es mangels entgegenstehender Anhaltspunkte die Entstehungsgeschichte, Art 3 Abs 2 ÄndVO 1988 dahin auszulegen, daß der dort verwendete Begriff "Versicherungsfall" die Voraussetzungen des Leistungsfalls mitumfaßt (ebenso das Urteil des 8. Senats des BSG vom 20. Juni 1995 - 8 RKnU 2/94 -, zur Veröffentlichung bestimmt), wie sie in § 551 Abs 3 Satz 2 RVO aufgestellt sind: "Als (gemäß Abs 3 Satz 1 aaO auch für BK anzuwendender) Zeitpunkt des Arbeitsunfalls gilt der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung, oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit."
Da im vorliegenden Fall die Meniskuserkrankung des Klägers auch im Sinne der Krankenversicherung spätestens im Jahre 1970 begonnen hat, und der Kläger dadurch von der Entschädigung ausgeschlossen wäre, ist es für ihn günstiger, den Beginn der MdE als Leistungsfall zu wählen. Sein Entschädigungsanspruch und damit auch sein Feststellungsinteresse (§ 55 Abs 1 Nr 1 SGG) an der Anerkennung der BK hängt somit davon ab, ob eine BK-bedingte MdE nicht schon vor dem 1. Januar 1977 vorgelegen hat.
Dies hat das SG aufgrund des von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens verneint. Das LSG hat, wie seine Ausführungen auf Seite 13 des Urteilsabdrucks zeigen, diese Feststellungen übernommen und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Der Feststellungsanspruch des Klägers ist somit begründet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen
Haufe-Index 517722 |
Breith. 1996, 32 |