Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosenversicherung. Bemessung des Insolvenzgelds. Gesetzesänderung zum 01.01.2004. Begrenzung des Bruttoarbeitsentgelts auf die monatliche Beitragsbemessungsgrenze. Insolvenzzeitraum im Jahr 2003. Verfassungsgeleitete Anwendung der bis Ende 2003 geltenden Regelung. Kein Insolvenzschutz bei Umwandlung von Entgeltansprüchen in Versorgungsanspruch. Sozialgerichtliche Kostenfreiheit bei gesetzlichem Forderungsübergang
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Wege der verfassungsgeleiteten Interpretation ist für die Berechnung des Insolvenzgelds der für den Arbeitnehmer günstigere § 185 SGB III in der bis Ende 2003, nicht aber schon in der ab 01.01.2004 geltenden Fassung maßgeblich, wenn das Insolvenzereignis nach dem 1. Januar 2004 eintritt, der Insolvenzgeld-Zeitraum aber noch im Jahr 2003 liegt. Dem steht die Übergangsregelung des § 434j Abs. 12 Nr. 5 SGB III nicht entgegen, denn diese regelt nur diejenigen Fälle ausdrücklich, in denen das Insolvenzereignis vor dem 1. Januar 2004 liegt.
2. Die Ersetzung des Arbeitsentgeltsanspruchs im Sinn eines Barauszahlungsanspruchs durch eine Zusage des Arbeitgebers zur Aufbringung der Prämien für eine Direktversicherung führt zum Verlust des Arbeitsentgeltscharakters i.S.v. § 183 Abs. 1 SGB III. Der umgewandelte Anspruch auf Barauszahlung ist endgültig untergegangen und durch einen Versorgungsanspruch ersetzt worden (Anschluss an Rechtsprechung des BAG, u.a. Urteil vom 17.2.1998, 3 AZR 611/97).
3. Wenn der Arbeitnehmer seine Ansprüche auf Arbeitsentgelt einem Dritten übertragen hat und der Zessionar kraft Gesetzes in die Rechtsstellung des Arbeitnehmers eintritt, also selbst unmittelbar einen Insolvenzgeldanspruch erwirbt, tritt Kostenpflichtigkeit des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht ein, weil der Dritte kraft Gesetzes Leistungsempfänger i.S.v. § 183 SGG geworden ist.
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Bemessung des Insolvenzgeldes ist die monatliche Beitragsbemessungsgrenze noch nicht zu berücksichtigen, wenn der Insolvenzgeld-Zeitraum im Jahr 2003 liegt.
2. Vor der Ergänzung des § 183 SGB 3 um eine Regelung zur Entgeltumwandlung unterlagen umgewandelte Entgeltansprüche nicht dem Schutz der Insolvenzgeld-Versicherung.
Normenkette
SGB III § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 5 Fassung: 2006-12-02, Abs. 2, § 185 Abs. 1 Fassung: 1997-03-24, Abs. 1 Fassung: 2003-12-23, § 188 Abs. 1, § 434j Abs. 12 Nr. 5 Fassung: 2003-12-24; BetrAVG § 1 Abs. 2 Fassung: 2001-06-26; SGB IV § 14 Abs. 1 S. 2, § 115; SGG § 183 Sätze 1-2, § 197a Abs. 1 S. 1; GG Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Sprungrevision der Klägerin wird die Beklagte unter Änderung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 27. Januar 2005, des Bescheids vom 17. März 2004 sowie des Änderungsbescheids vom 5. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. August 2004 verurteilt, der Klägerin höheres Insolvenzgeld für die Arbeitnehmer Wolfram B… und Bodo S… ohne Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zu zahlen.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin zwei Drittel der Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Höhe des der Klägerin aus übergegangenem Recht zustehenden Insolvenzgelds (Insg) für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 2003.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Ch… vom 1. Januar 2004 wurde über das Vermögen der B… M… und M… GmbH & Co. KG. (im Folgenden: Arbeitgeber) das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Klägerin finanzierte während des Insg-Zeitraums mit Zustimmung der Beklagten das Arbeitsentgelt für die Arbeitnehmer des Arbeitgebers vor. Hierzu schloss die Klägerin mit den Arbeitnehmern Forderungskaufverträge über deren Ansprüche gegen den Arbeitgeber auf Zahlung des Netto-Arbeitsentgelts für die Monate Oktober bis Dezember 2003 und ließ sich diese Ansprüche im Gegenzug abtreten.
Auf Antrag der Klägerin, mit dem sie Insg in Höhe von insgesamt 225.210,84 € begehrte, bewilligte die Beklagte Insg in Höhe von 219.143,95 € (Bescheid vom 17. März 2004). Dabei ließ sie im Hinblick auf drei Arbeitnehmer “Entgeltansprüche in Höhe einer erfolgten Entgeltumwandlung zu Gunsten einer betrieblichen Altersversorgung” in Höhe von jeweils 150 € unberücksichtigt. Bei den Insg-Ansprüchen für zwei weitere Arbeitnehmer (Wolfram B… und Bodo S…) kürzte die Beklagte die über die Beitragsbemessungsgrenze für das Jahr 2003 hinausgehenden Entgeltansprüche.
Auf den Widerspruch der Klägerin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 5. August 2004 weiteres Insg in Höhe von 106 € für die Arbeitnehmer B… und S…, indem deren Entgeltansprüche nunmehr bis zur Höhe der Beitragsbemessungsgrenze für das Jahr 2004 berücksichtigt wurden. Im Übrigen wies die Beklagte den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 9. August 2004).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 2005) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe zu Recht entschieden, dass der Klägerin kein höheres Insg zustehe. Künftige Entgeltansprüche, die auf Grund von Vereinbarungen in eine wertgleiche Anwartschaft auf Versorgungsleistungen einer betrieblichen Altersversorgung umgewandelt würden, verlören dadurch den Charakter eines insolvenzgeldfähigen Arbeitsentgelts, weil der Anspruch des Arbeitnehmers auf Barauszahlung insoweit endgültig untergehe und durch einen Versorgungsanspruch ersetzt werde. Da das Insolvenzereignis erst mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Beschluss vom 1. Januar 2004 eingetreten sei, habe die Klägerin nach den §§ 185 Abs 1, 434j Abs 12 Nr 5 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) idF des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt auch keinen Anspruch auf höheres Insg ohne Begrenzung des Bruttoarbeitsentgelts durch die monatliche Beitragsbemessungsgrenze. Soweit mit der Neuregelung eine sog unechte Rückwirkung verbunden sei, sei diese auch nicht auf Grund des im Rechtsstaatsprinzip begründeten Vertrauensschutzes verfassungswidrig. Denn die vorzunehmende Abwägung ergebe, dass das Anliegen des Gesetzgebers, zum Wohl der Allgemeinheit die in den vorausgegangenen Jahren stark angestiegenen Ausgaben für das Insg zu begrenzen, das schutzwürdige Interesse des betroffenen Personenkreises an einem Fortbestand der bisherigen Rechtslage überwiege.
Mit der Sprungrevision rügt die Klägerin eine Verletzung materiellen Rechts. Die Kürzung des Insg wegen der Entgeltumwandlung sei zu Unrecht erfolgt, weil alle im maßgeblichen Insg-Zeitraum erarbeiteten Ansprüche auf Arbeitsentgelt geschützt seien. Auch im Falle einer Entgeltumwandlung stehe dem Arbeitnehmer ein bereits erarbeiteter Anspruch gegen den Arbeitgeber zu. Finde insolvenzbedingt eine Umwandlung des Entgeltanspruchs in einen Versorgungsanspruch nicht statt, so liege auch insoweit ein ausgefallener Arbeitsentgeltanspruch vor. Die Kürzung des Insg wegen der Anwendung der Beitragsbemessungsgrenze sei zu Unrecht erfolgt, weil die Erstreckung des § 185 SGB III in der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung auf Sachverhalte, in denen eine Vorfinanzierung des Insg bereits vor der Verkündung der Gesetzesänderung verbindlich vereinbart worden sei, gegen das Verbot der rückwirkenden Inkraftsetzung von Rechtsnormen verstoße.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts vom 27. Januar 2005 sowie des Bescheids vom 17. März 2004 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 5. August 2004 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. August 2004 zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 1. Oktober 2003 bis 31. Dezember 2003 aus übergegangenem Recht der Arbeitnehmer Wolfram B…, Maria R…, Roland H…, Renate S… und Bodo S… höheres Insolvenzgeld unter Einbeziehung der Beträge für die Entgeltumwandlung zu Gunsten der betrieblichen Altersversorgung sowie ohne Begrenzung durch die Beitragsbemessungsgrenze zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Sprungrevision ist begründet, soweit die Klägerin aus abgetretenem Recht der Arbeitnehmer Wolfram B… und Bodo S… höheres Insg ohne Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze fordert (1.). Im Übrigen ist die Sprungrevision unbegründet (2.).
Die Klägerin ist zur Geltendmachung der fraglichen Ansprüche aktiv legitimiert. Überträgt der Arbeitnehmer vor seinem Antrag auf Insg Ansprüche auf Arbeitsentgelt einem Dritten, steht der Anspruch auf Insg diesem zu (§ 188 Abs 1 SGB III). Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des SG ist eine Übertragung der Ansprüche auf Arbeitsentgelt durch Forderungskauf und Abtretung erfolgt (vgl zur Wirksamkeit der Abtretungen BSGE 70, 265 = SozR 3-4100 § 141k Nr 1). Ferner hat die Beklagte die nach § 188 Abs 4 Satz 1 SGB III erforderliche Zustimmung erteilt.
In welchem Umfang die Klägerin Insg beanspruchen kann, richtet sich nach den §§ 183 Abs 1 Satz 1, 185 Abs 1 SGB III. Nach § 183 Abs 1 Satz 1 SGB III haben Arbeitnehmer Anspruch auf Insg, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei Eintritt eines Insolvenzereignisses für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Das SG hat zu Recht angenommen, dass für die hier fraglichen Ansprüche auf Insg von einem Eintritt des Insolvenzereignisses am 1. Januar 2004 auszugehen ist, da an diesem Tag mit Beschluss des Amtsgerichts C… das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers eröffnet worden ist. Damit sind die auf die Klägerin übergeleiteten Ansprüche auf Insg erst im Jahr 2004 entstanden, obwohl der Insg-Zeitraum für alle betroffenen Arbeitnehmer noch vollständig im Jahr 2003 liegt.
1. Die Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Insg-Ansprüche hinsichtlich der Arbeitnehmer B… und S… durch die Beitragsbemessungsgrenze begrenzt werden. Vielmehr ist für die Berechnung des Insg § 185 SGB III in der bis Ende 2003 geltenden Fassung des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes vom 24. März 1997 (BGBl I S 594) anzuwenden.
§ 185 Abs 1 SGB III in der hier maßgebenden – bis 31. Dezember 2003 geltenden – Fassung bestimmt, dass Insg in Höhe des Nettoarbeitsentgelts geleistet wird, das sich ergibt, wenn das Arbeitsentgelt um die gesetzlichen Abzüge vermindert wird. Soweit die Vorschrift den Begriff des Arbeitsentgelts verwendet, entspricht dieser dem Begriff des Arbeitsentgelts iS des § 183 Abs 1 SGB III. Zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt gehören grundsätzlich alle Ansprüche auf Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis. Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis sind alle Leistungen des Arbeitgebers, die eine Gegenleistung für die Leistung des Arbeitnehmers darstellen (BSGE 55, 62 = SozR 4100 § 141b Nr 26; BSG SozR 3-4100 § 141b Nr 1; BSG SozR 4-4300 § 183 Nr 6). An dem Arbeitsentgeltcharakter der geltend gemachten Ansprüche auf Weihnachtsgeld sowie Urlaubsgeld besteht danach kein Zweifel. Auch hinsichtlich der Zuordnung der Ansprüche zum Insg-Zeitraum (zur zeitlichen Zuordnung von Sonderzahlungen vgl zuletzt Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 23. März 2006 – B 11a AL 65/05 R, veröffentlicht in juris) bestehen auf Grund der Feststellungen des SG und der ergänzenden Erklärung der Beklagten im Termin vom 5. Dezember 2006 keine Zweifel.
§ 185 Abs 1 SGB III in der ab 1. Januar 2004 (Art 124 Abs 1) geltenden Fassung des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I S 2848) ist für die Berechnung der übergeleiteten Ansprüche auf Insg noch nicht anzuwenden. Dieses Gesetz hat § 185 Abs 1 SGB III in der Weise geändert, dass das Insg (nur) noch in der Höhe des Nettoarbeitsentgelts geleistet wird, das sich ergibt, wenn das auf die monatliche Beitragsbemessungsgrenze (§ 341 Abs 4 SGB III) begrenzte Bruttoarbeitsentgelt um die gesetzlichen Abzüge vermindert wird. Die Anwendung der neuen Fassung der Vorschrift wird entgegen der Auffassung der Beklagten (so wohl auch Peters-Lange in Gagel, SGB III, § 185 RdNr 7a) nicht durch das Übergangsrecht geboten. Nach dem Wortlaut des § 434j Abs 12 Nr 5 SGB III sind § 185 und § 208 SGB III in der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung weiter anzuwenden, wenn das Insolvenzereignis vor dem 1. Januar 2004 liegt. Damit besagt der Wortlaut der Übergangsregelung nur, wie zu verfahren ist, wenn das Insolvenzereignis vor dem 1. Januar 2004 liegt. Nicht ausdrücklich geregelt ist hingegen, was in Fällen zu gelten hat, in denen das Insolvenzereignis nach dem 1. Januar 2004 eintritt, der Insg-Zeitraum aber noch im Jahr 2003 liegt.
Die Entstehungsgeschichte der Norm ergibt keinen eindeutigen Hinweis darauf, ob der Gesetzgeber über ihren Wortlaut hinaus die Anwendung des neuen Rechts für alle Fälle anordnen wollte, in denen das Insolvenzereignis nach dem 31. Dezember 2003 liegt. § 434j Abs 12 Nr 5 SGB III wurde im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens erst auf den Vorschlag des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit in das Gesetz eingefügt (BT-Drucks 15/1728 S 95). Die “Stichtagsregelung” soll nach der Begründung des Ausschusses der Rechtssicherheit dienen und die Anwendung unterschiedlichen Rechts bei der Erbringung von Insg in demselben Insolvenzverfahren vermeiden (BT-Drucks 15/1749 S 26). Dieses Ziel kann nicht allein dadurch verwirklicht werden, dass die Vorschrift iS der erweiternden Auslegung der Beklagten interpretiert wird. Vielmehr legt es gleichfalls ein Verständnis des § 434j Abs 12 Nr 5 SGB III iS einer Begünstigung der betroffenen Arbeitnehmer nahe. Denn in den Fällen des § 183 Abs 2 SGB III können Zeiträume des berücksichtigungsfähigen Arbeitsentgelts schon in das Jahr 2004 fallen, obwohl das Insolvenzereignis noch im Jahr 2003 eingetreten ist. In einem solchen Fall erhält § 434j Abs 12 Nr 5 SGB III den Sinn, dem Arbeitnehmer noch die Anwendung der günstigeren früheren Fassung zuzubilligen, obwohl die Insg-Zeiträume bereits im Jahr 2004 liegen (in diesem Sinne Becker in Eicher/Schlegel, SGB III, § 434j RdNr 50). Diese, den Anwendungsbereich der Übergangsregelung einschränkende Auslegung entspricht auch am ehesten den systematischen Zusammenhängen, denn mit der in den sonstigen, unterschiedlichen Tatbeständen des § 434 j Abs 12 SGB III angeordneten Weitergeltung bisherigen Rechts wollte der Gesetzgeber dem Vertrauensschutz der Betroffenen Rechnung tragen.
Der Senat schließt sich der zuletzt genannten Auffassung an und legt die Übergangsregelung im Wege der verfassungsgeleiteten Interpretation dahin aus, dass die für den Arbeitnehmer günstigere Fassung des § 185 SGB III noch zur Anwendung kommt, wenn der Insg-Zeitraum im Jahr 2003 liegt. Nach der sog verfassungsgeleiteten Interpretation ist – unterstellt die anzuwendende Gesetzesvorschrift lässt mehrere Deutungen zu – diejenige zu wählen, die der grundgesetzlichen Wertordnung die stärkste Wirkung verleiht (Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ Urteil vom 25. Februar 1975 – 1 BvF 1/74 ua – BVerfGE 39, 1, 38 sowie Beschlüsse vom 3. April 1979 – 1 BvR 994/76 – BVerfGE 51, 97, 110 und vom 9. Februar 1982 – 1 BvR 799/78 – BVerfGE 59, 330, 334, jeweils mwN; vgl auch BSG SozR 3-2600 § 243 Nr 8). Zu Recht macht die Revision geltend, dass eine Anwendung der neuen Fassung des § 185 SGB III für den Arbeitnehmer und den das Insg vorfinanzierenden Dritten eine unechte Rückwirkung bewirken würde. Eine unechte Rückwirkung (oder tatbestandliche Rückanknüpfung) liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich eine Rechtsposition nachträglich entwertet (BVerfGE 43, 291, 391; 79, 29, 45 f). Zwar ist dem Rechtsstaatsgrundsatz ein absolutes Verbot unechter Rückwirkung nicht zu entnehmen. Jedoch ist die unechte Rückwirkung von Gesetzen unter Berücksichtigung der Schranke des Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzips iS des Art 20 Grundgesetz nur innerhalb sachlicher Grenzen zulässig, die sich aus dem Gebot der Rechtssicherheit und dem daraus folgenden Vertrauensschutz ergeben. Bei der Bestimmung der Grenzen sind das schutzwürdige Interesse des betroffenen Personenkreises an einem Fortbestand der bisherigen Rechtslage und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen (BVerfGE 43, 291, 391; BSG SozR 3-4100 § 242q Nr 1).
Bei der Bewertung der Vertrauensposition der von der Neuregelung unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer mit einem Arbeitseinkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze ist in Rechnung zu stellen, dass diese davon ausgehen konnten, dass sie einen Insg-Anspruch in Höhe des (vollen) Anspruchs auf Nettoentgelt erwerben würden. Die Klägerin, die das Insg nach § 188 SGB III gegen Abtretung der Arbeitsentgeltansprüche ab Oktober 2003 vorfinanziert hat, hat ihr Vertrauen in den Fortbestand der bisherigen Regelung sogar in der Weise betätigt, dass sie bereits Zahlungen an die betroffenen Arbeitnehmer ohne Berücksichtigung der fraglichen Begrenzung geleistet hat. Demgegenüber hat sich der Gesetzgeber zu der hier strittigen Änderung des § 185 Abs 1 SGB III vor dem Hintergrund der durch das Gemeinschaftsrecht eröffneten Möglichkeit einer Begrenzung der Leistungen bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers veranlasst gesehen, weil er es auch im Hinblick auf das starke Ansteigen der Ausgaben für das Insg nicht mehr für vertretbar gehalten hat, Insg ohne beitragsmäßige Begrenzung auch für sehr hohe Nettoarbeitsentgelte zu zahlen (Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks 15/1515 S 89; vgl hierzu auch BT-Drucks 15/1637 S 10 und 14). Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang bereits, ob der Gesetzgeber das Übergangsrecht (§ 434j Abs 12 Nr 5 SGB III) überhaupt unter dem Blickwinkel der für geboten erachteten Einsparung gestalten wollte, denn die Materialien enthalten – wie bereits ausgeführt wurde – insoweit lediglich einen Hinweis auf die angestrebte Rechtssicherheit bei der Anwendung des Insg-Rechts. Unabhängig davon musste sich für den Gesetzgeber jedenfalls aufdrängen, dass das angestrebte Ziel einer sofortigen Begrenzung der Insg-Ausgaben einer besonderen Begründung bedurft hätte und eine geeignete Übergangsregelung auf die Interessen der Betroffenen, die sich auf die durch eine Gesetzesänderung entstehende nachträgliche Entwertung ihrer Ansprüche nicht einstellen konnten, Rücksicht zu nehmen hatte. Einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen kann insoweit auch nicht entgegengehalten werden, dass der Insg-Anspruch – wie eingangs bereits ausgeführt – erst mit dem Insolvenzereignis im Jahr 2004 entstanden und fällig geworden ist.
Entgegen der Auffassung der Beklagten setzt sich der Senat mit der vorstehenden Auffassung im Übrigen nicht in Widerspruch zu seiner Entscheidung vom 14. September 2005 – B 11a/11 AL 83/04 R – (= SozR 4-4300 § 208 Nr 1). Zwar hat der Senat in der damaligen Entscheidung bei der Anwendung des § 434j Abs 12 Nr 5 SGB III darauf abgestellt, dass es um einen Anspruch ging, der auf ein nach dem 1. Januar 2004 liegendes Insolvenzereignis zurückzuführen war. Die Ausführungen bezogen sich allerdings nur auf das mit der vorliegenden Fragestellung nicht vergleichbare Problem, ob über die Vorschrift des § 208 SGB III weiterhin die Geltendmachung von Säumniszuschlägen und sonstigen Nebenforderungen gegenüber der Bundesagentur für Arbeit möglich war.
2. Die Sprungrevision der Klägerin ist unbegründet, soweit sie höhere Insg-Ansprüche aus übergegangenem Recht der Arbeitnehmer H…, R… und S… wegen Berücksichtigung einer Entgeltumwandlung von je 150 € als Arbeitsentgelt iS des § 183 Abs 1 SGB III geltend macht.
Der Senat hat die Frage, ob die Ersetzung des Arbeitsentgeltsanspruchs (iS eines Barauszahlungsanspruchs) durch eine Zusage des Arbeitgebers zur Aufbringung der Prämien für eine Direktversicherung zum Verlust des Arbeitsentgeltscharakters iS des § 183 Abs 1 SGB III führt, bisher ausdrücklich offen gelassen (BSG, Urteil vom 23. März 2006 – B 11a AL 65/05 R – RdNr 21, veröffentlicht in juris). Er beantwortet die Frage im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in dem Sinne, dass auf Grund der Entgeltumwandlung in Höhe der fraglichen Beiträge keine durch Insg geschützten Ansprüche auf Arbeitsentgelt vorliegen (ebenso Braun/Wierzioch, ZIP 2003, 2001, 2004; Roeder in Niesel, SGB III, 3. Aufl, § 183 RdNr 74; aA Voelzke in Hauck/Noftz, SGB III, § 183 RdNr 95a). Demgemäß hat die Klägerin insoweit auch keinen Anspruch auf Insg erworben.
Nach § 1 Abs 2 Nr 3 des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG) vom 19. Dezember 1974 (BGBl I S 3610 in der hier maßgebenden Fassung durch das Gesetz vom 26. Juni 2001, BGBl I S 1310) liegt eine betriebliche Altersversorgung auch vor, wenn künftige Entgeltansprüche in eine wertgleiche Anwartschaft auf Versorgungsleistungen umgewandelt werden. Mit der Umwandlung verfolgen die Betriebspartner steuerrechtliche und beitragsrechtliche Vergünstigungen (dazu etwa Werner in jurisPK SGB IV § 115 RdNr 6 ff). In seiner grundlegenden Entscheidung vom 26. Juni 1990 (BAGE 65, 215, 219 ff = AP Nr 11 zu § 1 BetrAVG Lebensversicherung) hat das BAG zum Wesen einer Versicherung nach Gehaltsumwandlung ausgeführt, dass die vom Arbeitgeber zu zahlenden Versicherungsbeiträge im Verhältnis zum Arbeitnehmer keine Leistungen zur Erfüllung der Gehaltsansprüche seien. Vielmehr solle die Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien zum Zwecke einer Pauschalierung der Lohnsteuer nach § 40b Einkommensteuergesetz bewirken, dass der Anspruch auf Barauszahlung endgültig untergehe und durch einen Versorgungsanspruch ersetzt werde. Die Arbeitnehmer setzten bei einer Gehaltsumwandlung daher auch keine Eigenmittel ein, sondern verzichteten vielmehr auf die für eine eigene Vorsorge nötigen Vermögensrechte (Gehaltsansprüche) und verließen sich auf die aus dem Betriebsvermögen finanzierte Vorsorge des Arbeitgebers. Nach dieser Entscheidung fehlt es an dem für eine Arbeitsvergütung erforderlichen unmittelbaren Bezug zur Arbeitsleistung, wenn der Arbeitgeber während des Bestandes des Arbeitsverhältnisses durch laufende Beitragszahlung für die vereinbarte Altersversorgung zu sorgen habe, und zwar unabhängig davon, ob Arbeitsvergütung zu leisten sei. An der Auffassung, dass bei einer Gehaltsumwandlung der Anspruch auf laufende Vergütung endgültig beseitigt werde, hat das BAG in späteren Entscheidungen festgehalten (BAGE 73, 209, 214 f = AP Nr 3 zu § 1 BetrAVG Unverfallbarkeit; BAGE 88, 28, 30 = AP Nr 14 zu § 850 ZPO).
Die arbeitsrechtliche Konsequenz der Entgeltumwandlung, die den Anspruch auf Auszahlung des Arbeitsentgelts endgültig untergehen lässt, schließt eine abweichende Beurteilung auf der Grundlage des hier maßgeblichen Insg-Rechts aus. Denn es genügt für eine Anerkennung der Arbeitsentgelteigenschaft nach dem zum Zeitpunkt der Insolvenz geltenden Recht nicht, dass der Arbeitnehmer – wirtschaftlich gesehen – die Versorgungsanwartschaft finanziert.
Gegen die Annahme, dass auf Grund der Entgeltumwandlung keine durch Insg geschützten Ansprüche auf Arbeitsentgelt vorliegen, kann nicht eingewendet werden, dass nach § 14 Abs 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) Arbeitsentgelt auch Entgeltteile sind, die durch Entgeltumwandlung nach § 1 Abs 2 BetrAVG für betriebliche Altersversorgung in den Durchführungswegen Direktzusage oder Unterstützungskasse verwendet werden. Denn diese Regelung, zu der § 115 SGB IV eine bis zum 31. Dezember 2008 geltende Rückausnahme trifft, bezieht die Entgeltumwandlung im Wege der Fiktion in den beitragsrechtlichen Entgeltbegriff ein (Seewald in KassKomm § 14 SGB IV RdNr 68; Werner in jurisPK-SGB IV § 14 RdNr 206). Im Übrigen ist der Arbeitsentgeltbegriff des § 183 Abs 1 SGB III unabhängig davon, ob der fragliche Anspruch der Lohnsteuer- bzw der Beitragspflicht unterliegt (LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. März 2005 – L 19 (9) AL 188/04 = ZIP 2005, 1567 f; Peters-Lange in Gagel, SGB III, § 183 RdNr 90; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB III, § 183 RdNr 79).
Die weitere Rechtsentwicklung bestätigt die Auffassung des Senats. Mit der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes und anderer Gesetze vom 18. Oktober 2006 ist vorgeschlagen worden, dem § 183 Abs 1 SGB III einen zusätzlichen Satz anzufügen. Danach gilt eine Entgeltumwandlung für die Berechnung des Insg als nicht vereinbart, wenn der Arbeitnehmer einen Teil seines Arbeitsentgelts gemäß § 1 Abs 2 Nr 3 des Betriebsrentengesetzes umgewandelt hat und dieser Entgeltteil in den Durchführungswegen Pensionsfonds, Pensionskasse oder Direktversicherung verwendet wird, soweit der Arbeitgeber keine Beiträge an den Versorgungsträger abgeführt hat. Zur Begründung für diese durch das Gesetz vom 2. Dezember 2006 (BGBl I 2742) mit Wirkung vom 12. Dezember 2006 eingeführte Neuregelung hat der Ausschuss auf die bereits erwähnte Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 26. Juni 1990 – 3 AZR 641/88 –) verwiesen, wonach durch die Vereinbarung der Entgeltumwandlung der Anspruch des Arbeitnehmers auf Barauszahlung des umgewandelten Arbeitsentgelts endgültig untergeht und durch einen Versorgungsanspruch ersetzt wird (BT-Drucks 16/3007 zu Art 2 Nr 1). Diese arbeitsrechtliche Betrachtungsweise werde dem Schutzzweck des Insg nicht gerecht, weil der Arbeitnehmer die Entgeltumwandlung aus seinem Gehalt finanziert habe. Deshalb werde durch die Neuregelung einer gesetzlichen Fiktion erreicht, dass der Entgeltteil wie Arbeitsentgelt behandelt werde. Die der Neuregelung zu Grunde liegenden Erwägungen bestätigen mithin die Auffassung des Senats, dass für den Zeitraum vor Wirksamwerden der Neuregelung die umgewandelten Entgeltbestandteile nicht dem Schutz der Insg-Versicherung unterfielen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1 SGG. Die Regelung des 197a Abs 1 Satz 1 SGG ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Denn die Klägerin ist Leistungsempfängerin im Sinne des § 183 SGG. Dies folgt aus § 188 Abs 1 SGB III, wonach der Anspruch auf Insg durch die Übertragung der Ansprüche auf Arbeitsentgelt dem Dritten zusteht. Damit tritt der Dritte (Zessionar) kraft Gesetzes in die Rechtsstellung des Arbeitnehmers ein und erwirbt kraft Gesetzes selbst unmittelbar einen Anspruch auf Insg (Schmidt in Praxiskommentar SGB III, 2. Aufl 2004, § 188 RdNr 9; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB III, § 188 RdNr 22). Folglich liegt kein Fall der “sonstigen Rechtsnachfolge” nach § 183 Satz 2 SGG vor, der die Gerichtskostenfreiheit auf das Verfahren in dem jeweiligen Rechtszug beschränkt.
Fundstellen
Haufe-Index 1707368 |
BSGE 2008, 5 |