Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 17.11.1988) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. November 1988 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger beansprucht Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Seinen Rentenantrag vom 17. März 1983 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. November 1983 ab.
Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 22. Oktober 1986 und 17. November 1988). Er sei nicht einmal berufsunfähig, so hat das LSG ausgeführt. Aufgrund seiner „bisherigen Berufstätigkeit” iS des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gehöre er zur Gruppe der ungelernten Arbeiter. Er sei noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten in vollen Schichten zu verrichten. Die beim Kläger anlagebedingt bestehende Persönlichkeitsstörung sei nicht so schwerwiegend, daß sie seine Eingliederungsfähigkeit als solche in Frage stelle oder ihn hindere, sich aus eigener Willenskraft am Arbeitsplatz akzeptabel zu verhalten. Ein Einsatz als Bürobote, Pförtner, Sortierer, Verpacker leichterer Gegenstände, Montierer, Entgrater von Kunststoffpreßteilen, Bohrer von Werkstücken, Spritzgießer von Kunststoffteilen oder als Bohrer von Zylindermänteln könne ihm noch ganztags zugemutet werden. Das am 17. November 1988 verkündete Urteil des LSG ist dem Kläger am 4. Januar 1990 zugestellt worden.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Die angefochtene Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen, da zwischen der Verkündung und der Ausfertigung des Urteils am 27. Dezember 1989 ein Zeitraum von mehr als einem Jahr vergangen sei.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts sowie den Bescheid vom 30. November 1983 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger ab 1. April 1983 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren;
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte äußert sich nicht zum Revisionsvorbringen des Klägers und stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist iS des über § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren anzuwendenden § 551 Nr 7 ZPO nicht mit Gründen versehen.
Nach der genannten Vorschrift ist eine Entscheidung, die nicht mit Gründen versehen ist, „stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen”. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird die verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils dem Fehlen von Gründen gleichgestellt, weil dann das Urteil nicht mit hinreichender Sicherheit das Beratungsergebnis wiedergibt (vgl BSGE 53, 186, 188 mwN). Der 10. Senat des BSG hat am 22. Januar 1981 (BSGE 51, 122, 124 f) entschieden, liege zwischen der Entscheidung und ihrer schriftlichen Verlautbarung etwa ein Jahr, so seien die Gründe nicht mehr hinzunehmen. Ein solcher Verfahrensmangel ist im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachten (vgl BSG Urteil vom 22. Januar 1981 aaO 125 und SozR 1750 § 551 Nrn 9 und 12).
Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Der Bundesgerichtshof (BGH) sieht die Voraussetzungen des absoluten Revisionsgrundes aus § 551 Nr 7 ZPO als erfüllt an, wenn das mit Gründen versehene, vollständige Berufungsurteil erst nach Ablauf der in § 552 ZPO genannten fünf Monate zur Geschäftsstelle gelangt. Diese starre Grenze sei ua zur Vermeidung von Fehlerinnerung festgelegt worden (vgl BGHR ZPO § 551 Nr 7 Urteilsabfassung, verspätete 1 und 2). In seiner neueren Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Urteil vom 3. August 1990 – 7 C 41-43/89 – entschieden, jedenfalls sei bei schwierigen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen ein Urteil, das erst sechs Monate und zwölf Tage nach seiner Verkündung vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle übergeben werde und bei dem die Unterschrift des Vorsitzenden ersetzt worden sei, iS des § 138 Nr 6 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht mit Gründen versehen. Ob unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung ein kürzerer Zeitraum als eine um ein Jahr verzögerte Absetzung des Urteils zum absoluten Revisionsgrund des § 551 Nr 7 ZPO auch im sozialgerichtlichen Verfahren führen kann, bedarf hier keiner Erörterung. Wann im Falle des Klägers das vollständige Urteil zur Geschäftsstelle gelangt ist, läßt sich den Akten des LSG nicht entnehmen. Die Entscheidung vom 17. November 1988 ist erst am 15. Dezember 1989 geschrieben und am 28. Dezember 1989 an die Beteiligten abgesandt worden. Das Urteil wurde der Beklagten am 3. und dem Kläger am 4. Januar 1990 zugestellt. Damit ist die vom BSG bislang gesetzte Grenze von einem Jahr zwischen Verkündung und Zustellung der Entscheidung (so BSGE 51, 122) beim Kläger überschritten worden.
Der erkennende Senat ist somit von Amts wegen verpflichtet, das angefochtene Urteil aufzuheben, ohne daß es darauf ankommt, ob es auf der verspäteten Begründung beruht.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen