Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente - Einkommensanrechnung - Anrechenbarkeit eines durch den Arbeitgeber gewährten Ruhegeldes auf die Hinterbliebenenrente - Betriebsrente
Leitsatz (amtlich)
Ruhe- und Überbrückungsgelder, die in der Zeit zwischen der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses und dem Beginn einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden, sind grundsätzlich dem Arbeitsentgelt vergleichbare Leistungen und damit als Erwerbseinkommen auf die Hinterbliebenenrente anzurechnen.
Normenkette
SGB IV § 14 Abs. 1, § 18a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3, § 18b Fassung: 1996-12-12; SGB VI § 97 Abs. 1 S. 1, §§ 107, 314
Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Juli 2000 aufgehoben. Das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 5. März 1998 wird abgeändert.
Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob auf die Witwerrente des Klägers ein vorzeitiges Ruhegeld, das nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses am 31. Juli 1994 in der Übergangszeit bis zum Beginn der Altersrente am 1. Dezember 1995 von der bisherigen Arbeitgeberin, der H. E. AG (HEW), gezahlt worden war, als dem Arbeitsentgelt „vergleichbares Einkommen” anzurechnen ist.
Nach dem Tod seiner Ehefrau am 20. Juli 1994 gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 17. August 1995 ab 20. Juli 1994 die große Witwerrente, verweigerte jedoch nach Ablauf des sog Sterbevierteljahres ab 1. November 1994 die laufende Zahlung wegen der Anrechung des Ruhegeldes sowie einer Überbrückungszulage der HEW. Den Widerspruch des Klägers, mit dem er seine Wiederheirat am 25. August 1995 anzeigte und deshalb nur noch die ungekürzte Rente bis 31. August 1995 sowie eine Rentenabfindung (§ 107 SGB VI) begehrte, wies die Beklagte mit Bescheid vom 2. Mai 1996 zurück.
Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 5. März 1998 in Abänderung der ergangenen Bescheide verpflichtet, dem Kläger sowohl die Witwerrente für die Zeit vom 1. November 1994 bis 31. August 1995 als auch die Rentenabfindung „ohne Berücksichtigung des Ruhegeldes der HEW als Einkommen” zu gewähren. Im übrigen hat es – soweit die Überbrückungszulage angerechnet wurde – die Klage abgewiesen. Die nur von der Beklagten eingelegte Berufung hat das LSG mit Urteil vom 12. Juli 2000 zurückgewiesen. Beide Gerichte haben die Auffassung vertreten, daß die im streitigen Zeitraum von der HEW auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung bezogene monatliche Zahlung (bis Juni 1995 DM 4.213,08 Ruhegeld und DM 837,23 Überbrückungszulage, zusammen DM 5.050,31; ab Juli 1995 DM 4.356,33 Ruhegeld und DM 865,69 Überbrückungszulage, zusammen DM 5.222,02) nur hinsichtlich der Überbrückungszulage als dem Arbeitsentgelt vergleichbares und damit anrechenbares Einkommen (§ 18a Abs 1 Nr 1, § 18a Abs 2 Satz 1 SGB IV) anzusehen sei. Das Ruhegeld selbst sei dagegen als typische Betriebsrente anrechnungsfrei, denn es zähle nicht zu den im abgeschlossenen Katalog des § 18a Abs 3 Satz 1 Nr 1 bis 8 SGB IV aufgeführten Erwerbsersatzeinkommen (§ 18a Abs 1 Nr 2 SGB IV). Der Gesetzgeber habe bewußt Leistungen der privatrechtlichen Vorsorge von der Anrechnung ausgenommen. Unbeachtlich sei, daß die HEW das Ruhegeld nach der zugrundeliegenden Betriebsvereinbarung auch für einen Zeitraum vor Beginn der Altersrente gewährt habe. Die Leistung nehme damit noch nicht den Charakter eines an die Stelle des Arbeitsentgelts tretenden Überbrückungsgeldes oder Vorruhestandsgeldes an. Vielmehr handle es sich bei dem Ruhegeld der HEW vor und nach dem Beginn der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung um ein und dieselbe Betriebsrente.
Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 97 Abs 1 SGB VI iVm § 18a Abs 1 Nr 1 und Abs 2 Satz 1 SGB IV. Es sei zwar richtig, daß ein betriebliches Ruhegeld, soweit es der Aufstockung einer Rente diene, nicht anzurechnen sei. Das dem Kläger gewährte Ruhegeld vor Beginn der Rente sei dagegen eine dem Arbeitseinkommen vergleichbare Leistung und damit anrechenbar. Entgegen der Meinung der Vorinstanzen sei es nicht ausreichend, daß das Ruhegeld in erster Linie zu einem späteren Zeitpunkt der Aufstockung der Rente diene. Zudem seien nur Leistungen, die auf einer eigenverantwortlichen privaten Vorsorge für das Alter beruhten, anrechnungsfrei gestellt worden, die Leistungen im hier streitigen Zeitraum habe jedoch allein die HEW erbracht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 12. Juli 2000 und das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 5. März 1998 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er macht geltend, die anrechenbaren Erwerbsersatzeinkommen auf öffentlich-rechtlicher Grundlage seien in § 18a Abs 3 SGB IV abschließend angeführt und alle übrigen privatrechtlichen Vorsorgeformen nach dem Willen des Gesetzgebers von der Anrechnung ausgenommen. Es komme nicht darauf an, daß das Ruhegeld allein von der HEW finanziert werde. Der Charakter einer privatrechtlich zugesicherten Betriebsrente, auf die sich der Kläger bei der Ausgestaltung seiner privaten Vorsorge habe verlassen können, bleibe davon unberührt. Es sei allein die Entscheidung des Arbeitgebers, ob und unter welchen Voraussetzungen er das Ruhegeld bereits vor Beginn der Altersrente auszahle.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie hat ohne Rechtsverstoß mit Bescheid vom 17. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 1996 für den Leistungszeitraum vom 1. November 1994 bis 31. August 1995 infolge der Anrechnung von Erwerbseinkommen die Zahlung der Witwerrente eingestellt und die Rentenabfindung nach Wiederheirat verweigert (hierzu im Folgenden unter 1).
Im hier streitigen Leistungszeitraum vom 1. November 1994 bis 31. August 1995 sind auf die Witwerrente des Klägers nach Maßgabe des § 97 SGB VI die im Zeitraum vom 1. Oktober 1994 bis 30. Juni 1995 von der HEW bezogenen monatlichen Leistungen in Höhe von DM 5.050,31, zusammengesetzt aus einem monatlichen Ruhegeld von DM 4.213,08 und einer monatlichen Überbrückungszulage von DM 837,23, anzurechnen. Für die etwas höhere Gesamtleistung von DM 5.222,02 für die Monate Juli und August 1995 gilt dies gleichermaßen. Entgegen der Rechtsauffassung der Vorinstanzen ist die Anrechnung hinsichtlich der Gesamtleistung geboten – und nicht nur hinsichtlich der Überbrückungszulage (hierzu im Folgenden unter 2).
1a) § 97 Abs 1 Satz 1 SGB VI verweist hinsichtlich des zu berücksichtigenden Einkommens auf die §§ 18a bis 18e SGB IV. Nach § 18a Abs 1 Nr 1 SGB IV sind bei einer Rente wegen Todes ua Erwerbseinkommen anzurechnen, die in § 18a Abs 2 Satz 1 SGB IV näher als Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen und vergleichbares Einkommen definiert sind. Maßgebend ist nach § 18b Abs 1 SGB IV in der bis zum 30. Juni 2001 gültigen, hier maßgeblichen Fassung grundsätzlich das monatliche Einkommen, bei Erwerbseinkommen allerdings das des letzten Kalenderjahres, geteilt durch die Zahl der Kalendermonate, in denen es erzielt wurde (§ 18b Abs 2 Satz 1 SGB IV). Erfolgt eine „erstmalige Feststellung der Rente”, ist nach § 18b Abs 4 SGB IV vom laufenden Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen auszugehen, falls dieses um wenigstens 10 vH niedriger ist als die Einkommen des letzten Kalenderjahres. Einkommensänderungen sind erst vom Zeitpunkt der nächsten Rentenanpassung zu berücksichtigen (§ 18d Abs 1 Satz 1 SGB IV). Mit „erstmaliger Feststellung der Rente” ist die erstmalige Berücksichtigung von Einkommen bei Feststellung der zu zahlenden Rente gemeint, also der Bezugszeitraum der Witwerrente ab November 1994 (nach Ablauf des sog Sterbevierteljahres – vgl § 97 Abs 1 Satz 2 iVm § 67 Nr 6 SGB VI).
Anzurechnen sind nicht die (höheren) Gesamteinkünfte des Kalenderjahres 1993, sondern die – um mehr als 10 vH niedrigeren – laufenden Einkünfte zum Zeitpunkt der erstmaligen Einkommensanrechnung in Höhe von wenigstens monatlich DM 5.050,31, zusammengesetzt aus Ruhegeld und Überbrückungszulage (die Behandlung von ggf erfolgten Sonderzahlungen kann dahingestellt bleiben). Die Anrechnung dieses nach Maßgabe des § 18b Abs 5 Nr 1 SGB IV auf fiktive Nettobeträge gekürzten, dem Arbeitsentgelt vergleichbaren Einkommens (abzüglich 35 %, es verbleiben DM 3.282,70) führt unter Berücksichtigung der Freibeträge nach § 97 Abs 2 Satz 1 Nr 1 und Satz 2 SGB VI (DM 1.729,60) und Anrechnung des verbleibenden Restes (DM 1.553,10) mit einer Quote von 40 vH (§ 97 Abs 2 Satz 3 SGB VI) zum Abzug von DM 621,24 von der ab November 1994 zu zahlenden Witwerrente in Höhe von DM 421,29 und damit zu einer Minderung des Zahlbetrages auf „Null”. Auch die ab 1. Juli 1995 auf DM 423,40 erhöhte Witwerrente wird damit egalisiert, ungeachtet der Tatsache, daß die Erhöhung der Gesamtleistung der HEW ab 1. Juli 1995 auf DM 5.222,02 erst bei der nächsten Rentenanpassung zu berücksichtigen wäre (vgl BSG Urteil vom 25. Januar 2001 – B 4 RA 110/00 R und Senatsurteil vom 16. Mai 2001 – B 5 RJ 46/00 R – jeweils zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
b) Aus der Übergangsregelung des § 314 Abs 3 Satz 1 SGB VI folgt keine andere Berechnung. Danach werden bei Todesfällen in den Jahren 1986 bis 1995 (hier 20. Juli 1994) und einer Eheschließung vor dem 1. Januar 1986 (hier 17. November 1967) bis zum Ablauf von zwölf Kalendermonaten nach dem Todedes Versicherten die Vorschriften über die Einkommensanrechnung auf Renten wegen Todes nicht angewendet. Im Folgejahr (hier der Monat August 1995) erfolgt nach § 314 Abs 3 Satz 2 SGB VI die Einkommensanrechnung nur mit einer Quote von 10 vH. Diese Regelung begünstigt in abgestufter Fortführung der bisherigen Rechtslage in einer Übergangszeit nur Witwen. Witwer können sie nach § 314 Abs 4 SGB VI ebenfalls beanspruchen, jedoch nur auf Antrag und wenn die Ehefrau im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor ihrem Tod den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hatte. Denn unter diesen Voraussetzungen hatte nach altem Recht auch ein Ehemann Anspruch auf eine Witwerrente ohne Einkommensanrechnung. Einen entsprechenden Antrag hat der Kläger aber nicht gestellt. Im übrigen bestand nach den bekannten Einkommensverhältnissen des Klägers kein Anhalt dafür, daß seine Ehefrau den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hatte – und damit für die Beklagte auch kein Anlaß, einen entsprechenden Antrag anzuregen.
c) Auch die Rentenabfindung bei Wiederheirat, über die im Widerspruchsbescheid mitentschieden wurde, steht dem Kläger nicht zu. Die Abfindung beträgt nach § 107 Abs 1 Satz 1 SGB VI das 24-fache des Monatsbetrags der Witwerrente. Letzterer ist in § 107 Abs 2 Satz 1 SGB VI als der Durchschnitt der in den letzten zwölf Kalendermonaten geleisteten – dh nach durchgeführter Einkommensanrechnung – Witwerrente definiert. Das sog Sterbevierteljahr, in dem der Kläger die ungekürzten Leistungen bezogen hat, ist jedoch nach § 107 Abs 2 Satz 2 SGB VI bei Wiederheirat vor Ablauf des 15. Monats nach dem Tode des Versicherten auszuklammern. Damit errechnet sich keine Rentenabfindung.
2. Entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen sind nicht nur das im Anrechnungszeitraum gezahlte Überbrückungsgeld (DM 837,23, ab Juli 1995 DM 865,69), sondern auch das gezahlte Ruhegeld (DM 4.213,08, ab Juli 1995 DM 4.356,33) anrechenbare Erwerbseinkommen iS des § 18a Abs 1 Nr 1 SGB IV, denn es handelt sich bei der Gesamtleistung der HEW um dem Arbeitsentgelt vergleichbare Einkünfte (§ 18a Abs 2 Satz 1 SGB IV).
a) Dabei ist auf die allgemeine und bewußt sehr weit gefaßte Begriffsbestimmung des § 14 Abs 1 SGB IV zurückzugreifen, die unter Arbeitsentgelt alle laufenden und einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung versteht, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung und in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Dem Arbeitsentgelt aus einem bestehenden Beschäftigungsverhältnis vergleichbar sind deshalb auch Leistungen des Arbeitgebers, die in Nachwirkung des Beschäftigungsverhältnisses – aufgrund einer einseitigen Zusage, tarifvertraglicher Regelungen oder auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung, jedoch weiterhin basierend auf den Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis – zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards in der Übergangszeit zwischen der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses und dem Beginn einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden. Auf die Bezeichnung (Überbrückungsgeld, Übergangsgeld, Vorruhestandsgeld, Ruhegeld, vorgezogene Betriebsrente oder – wie hier – die Kombination dieser Begriffe) kommt es nicht an. In der Begründung zum Gesetzentwurf des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes (HEZG), mit dessen Art 7 die Regelungen zur Anrechnung von Einkommen bei Zusammentreffen mit einer Hinterbliebenenrente eingeführt wurden, ist deshalb dargelegt, daß unter den Begriff des „vergleichbaren Einkommens” insbesondere Bezüge aus einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis und Entschädigungen für Abgeordnete sowie vom Arbeitgeber gezahlte „Überbrückungsgelder und Vorruhestandsgelder” fallen (BT-Drucks 10/2677 S 44 zu Art 7 § 18a des Entwurfs).
Um Vorruhestandsgelder im engeren Sinne des Vorruhestandsgesetzes (VRG) vom 13. April 1984 (BGBl I 601, zuletzt geändert durch Art 94 des Gesetzes vom 5. Oktober 1994, BGBl I 2911) muß es sich dabei nicht handeln. Das VRG ist zwar ein zeitlich befristetes (vgl § 14 VRG) Subventionsgesetz zur Steuerung des Arbeitsmarktes, das zum einen Arbeitgebern Zuschüsse zu den Vorruhestandsleistungen für einen bestimmten Personenkreis gewährt und zum anderen die soziale Absicherung der Begünstigten sicherstellt. Auch ohne die Zuschüsse, die Beitragsentrichtung zur gesetzlichen Rentenversicherung und die Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben in der Zwischenzeit bis zum Beginn der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung Zahlungen des Arbeitgebers in Fortführung des bisherigen Einkommens – sogar in verstärktem Maße und unabhängig von der Bezeichnung – Vorruhestandsleistungen aus dem Arbeitsverhältnis und damit dem Arbeitseinkommen vergleichbare Einkünfte. Deshalb tritt das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach § 118b AFG wegen Bezugs von Vorruhestandsgeld bei endgültigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben unabhängig vom zeitlichen Geltungsbereich des VRG ein (BSG Urteil vom 26. November 1992 – 7 RAr 46/92 – BSGE 71, 265 = SozR 3-4100 § 118b Nr 1). Diese Rechtsprechung wurde vom Gesetzgeber des SGB III aufgegriffen. Nach § 142 Abs 4 SGB III (früher § 142 Abs 5 SGB III) ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld auch während der Zeit, für die der Arbeitslose wegen seines Ausscheidens aus dem Erwerbsleben Vorruhestandsgeld oder eine vergleichbare Leistung mindestens in Höhe von 65 Prozent des Bemessungsentgelts bezieht.
b) An die vom LSG vorgenommene Auslegung der betreffenden Betriebsvereinbarung ist der Senat nicht gebunden. Denn bei der Betriebsvereinbarung der HEW handelt es sich um normative Regelungen (vgl dazu im einzelnen BAG Urteil vom 8. November 1988 – 1 AZR 721/87 – BAGE 60, 94, 99 = AP Nr 48 zu § 112 BetrVG; Richardi, Komm zum BetrVG, 7. Aufl, 1998, § 77 RdNr 107, 109 ff, 207); deren Geltung sich – wie der vorliegende Rechtsstreit zeigt – nicht nur auf den Bezirk des Berufungsgerichts beschränkt (vgl § 162 SGG). Die Leistungen der HEW, die bei Inanspruchnahme des „vorzeitigen betrieblichen Ruhestandes” (so die Überschrift der ab 1. Januar 1994 gültigen Betriebsvereinbarung Nr 93.03) gewährt werden und mit dem endgültigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verbunden sind, sind nach Ausgestaltung und prägenden Merkmalen einheitliche Vorruhestandsleistungen, die sich lediglich aus zwei Komponenten zusammensetzen. Während des vorzeitigen betrieblichen Ruhestandes wird Ruhegeld zuzüglich einer Überbrückungszulage in Höhe der Differenz zwischen Ruhegeld und der Grenze der Gesamtversorgung gezahlt. Die Dauer des vorzeitigen Ruhestandes (Vorruhestandes) ist bis zum Tag des frühestmöglichen Bezuges einer Rente aus der gesetzlichen Sozialversicherung begrenzt. So war es auch im Falle des Klägers. Er konnte als Schichtgänger mit mindestens 20 Jahren Schichtdienst und mindestens 36 Dienstjahren mit einer garantierten Gesamtversorgung in Höhe von 67,5 % des bisherigen Einkommens den vorzeitigen betrieblichen Ruhestand in Anspruch nehmen. Jedenfalls bis zum Beginn der frühestmöglichen Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung waren die Leistungen des Arbeitgebers unabhängig von ihrer Zusammensetzung dem Arbeitseinkommen vergleichbare Vorruhestands- bzw Überbrückungszahlungen. Sie haben mit dem regulären Ruhegeld der HEW, das – wie die Vorinstanzen insoweit zutreffend ausgeführt haben – mit dem Eintritt eines Versicherungsfalles der gesetzlichen Rentenversicherung als Zusatzleistung zur jeweiligen Rente zu deren Aufstockung bis zu einem Grenzbetrag gewährt wird (vgl Betriebsvereinbarung Nr 93.03 iVm der zusammenfassenden Betriebsvereinbarung vom 1. Juli 1986 ≪zu den Nrn 75.14, 82.06, 82.07, 82.08, 84.13 und 86.05≫ 2. Abschnitt 1.1 und 1.2), nichts gemein und sind davon abgrenzbar. Denn nur ausnahmsweise werden ohne einen parallelen Rentenbezug vorläufige und befristete Ruhestandsleistungen gewährt: aus gesundheitlichen Gründen (zB aa0 2. Abschnitt 1.2.c) und aus besonderen betrieblichen Gründen (aa0 2. Abschnitt 1.3 und 1.4 – Fortfall des Arbeitsplatzes, Förderung des Nachwuchses) sowie an Schichtgänger wie den Kläger. Nur für diese sind zusätzlich zum Ruhegeld die Überbrückungszulagen vorgesehen (aaO 5. Abschnitt 3.); der gleichzeitige Bezug von Arbeitslosengeld, –hilfe oder vorgezogenem Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit und Ruhegeld bzw Überbrückungszulage ist ausgeschlossen bzw bei dennoch erfolgter Inanspruchnahme dieser Sozialleistungen wird der jeweilige Zahlbetrag bzw ein gegenüber der HEW geltend gemachter Erstattungsbetrag in voller Höhe angerechnet (aaO 6. Abschnitt 4.).
c) Es ist unerheblich, daß die Leistungen der HEW infolge des vorzeitigen betrieblichen Ruhestandes auf privatrechtlicher Grundlage erbracht wurden; entscheidend ist die Charakterisierung als dem Arbeitsentgelt vergleichbare Leistung.
Zwar sind Ruhegelder auf privatrechtlicher Grundlage grundsätzlich kein anrechenbares Erwerbsersatzeinkommen iS des § 18a Abs 1 Nr 2 SGB IV. Denn darunter sind nach der Legaldefinition nur solche in § 18a Abs 3 Nr 1 bis 8 SGB IV abschließend aufgeführte Leistungen zu verstehen, die auf Grund oder in entsprechender Anwendung öffentlich-rechtlicher Vorschriften Erwerbseinkommen ersetzen. Es entsprach dem Willen des Gesetzgebers, Leistungen der Arbeitgeber auf privatrechtlicher Grundlage unabhängig von der Finanzierung bei der Anrechnung auszuklammern (sog zweite Säule der Altersversorgung). Aber auch die private Vorsorge für das Alter in jeder beliebigen Anlageform sollte unangetastet bleiben (sog dritte Säule der Altersversorgung). Im Allgemeinen Teil der Begründung zum Gesetzentwurf des HEZG ist dazu ausgeführt:
„Die Beschränkung des zu berücksichtigenden Erwerbsersatzeinkommens auf öffentlich-rechtliche Regel- und Sondersysteme ergibt sich aus der Systemvorgabe der gesetzlichen Rentenversicherung, aber auch aus der Überlegung, Versorgungssysteme, die auf privatrechtlicher Grundlage beruhen, nach Möglichkeit aus Anrechnungsbestimmungen im Rahmen des öffentlichen Rechts herauszuhalten. In die privatrechtliche Vorsorge soll durch die Regelungen im öffentlich-rechtlichen Bereich auch nicht mittelbar eingegriffen werden. Dies bedeutet, daß zum Beispiel Leistungen der betrieblichen Altersversorgung (einschließlich der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst) und der privaten Lebensversicherung, auch soweit letztere als Erwerbsersatzeinkommen ausgestaltet sind, unberücksichtigt bleiben. Dies gilt auch für die sog. befreiende Lebensversicherung……” (BT-Drucks 10/2677, S 26, A I 3 e bb).
Konsequent werden selbst Zusatzleistungen zur Rente auf öffentlich-rechtlicher Grundlage ausgeklammert (§ 18a Abs 1 Nr 2 letzter Halbsatz SGB IV iVm § 18a Abs 4 SGB IV). Hierzu bemerkt der Allgemeine Teil der Begründung zum Gesetzentwurf des HEZG:
„Leistungen, die Zusatzcharakter haben, sollen entsprechend ihrer Funktion zusätzlich zu den Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erbracht werden, so daß es gerechtfertigt ist, sie unberücksichtigt zu lassen. Auch unter diesem Gesichtspunkt gehören Leistungen der betrieblichen Altersversorgung (einschließlich der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst) nicht zu dem zu berücksichtigenden Einkommen” (BT-Drucks 10/2677, S 26, A I 3 e cc).
Soweit eine betriebliche Altersversorgung als Zusatzleistung zu einer (auch vorzeitigen) gesetzlichen Rente oder anstelle einer gesetzlichen Rente erbracht wird, hat diese deshalb anrechnungsfrei zu bleiben. Dies entspricht auch der Legaldefinition der betrieblichen Altersversorgung in § 1 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes zu Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG) vom 19. Dezember 1974 (BGBl I 3610, zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Juni 2001 ≪BGBl I 1310≫), wonach unter diesem Begriff Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung zu versehen sind, die ein Arbeitnehmer aus Anlaß seines Arbeitsverhältnisses zugesagt erhält. Leistungen des Arbeitgebers im Vorfeld der Rente, die nur den Zweck haben, die Zeit bis zum Beginn der Rente zu überbrücken, sind dagegen bereits nach der Legaldefinition keine Betriebsrenten (zu den Abgrenzungskriterien mwN Blomeyer/Otto, Kommentar zum BetrAVG, 2. Aufl 1997, Einleitung RdNr 6, 47 und 69). Dafür spricht auch die Einfügung des Satzes 2 in § 1 Abs 1 BetrAVG (idF bis 31. Dezember 2000) durch Art 8 VRG. Ein Arbeitnehmer behält danach seine Anwartschaft (auf die Betriebsrente) auch dann, wenn er auf Grund einer Vorruhestandsregelung ausscheidet und ohne das vorherige Ausscheiden die Wartezeit und die sonstigen Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung hätte erfüllen können. Dieser Regelung hätte es nicht bedurft, wenn Vorruhestandsleistungen oder sonstige Überbrückungszahlungen bereits Bestandteil der betrieblichen Altersversorgung wären.
Leistungen des Arbeitgebers auf der Grundlage eines Tarifvertrages, einer Betriebsvereinbarung oder einer Einzelzusage, die zur Überbrückung der Übergangszeit zwischen dem Ausscheiden aus dem Betrieb und dem Beginn der gesetzlichen Rente erbracht werden, sind zwar grundsätzlich anrechnungsfreie Erwerbsersatzeinkommen auf privatrechtlicher Grundlage (vgl § 18a Abs 1 Nr 2 SGB IV), jedoch ungeachtet dessen stets dann anrechenbar, wenn und solange sie – wie hier – den Charakter eines dem Arbeitsentgelt vergleichbaren Einkommens (§ 18a Abs 2 Satz 1 SGB IV) haben. Das eine schließt das andere nicht aus. Der Unterschied zu Einkünften aus Kapitalvermögen, einer privat finanzierten Rente mit beliebigem Auszahlungsbeginn oder einer fälligen Lebensversicherung mit Auszahlung in Form einer Rente mit beliebigem Beginn liegt auf der Hand: Jene Einkünfte unterfallen mangels eines Bezugs zum vorangegangenen Beschäftigungsverhältnis nicht dem Begriff des dem Arbeitsentgelt vergleichbaren Einkommens.
Schließlich ist das gewonnene Ergebnis auch vom Sinn und Zweck der Einkommensanrechnung gedeckt. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß Hinterbliebenenrenten Unterhaltsersatzfunktion haben. Mit der Einkommensanrechnung wird sach- und systemgerecht die auch für den Unterhaltsanspruch vor dem Tode des Versicherten maßgebliche Unterhaltsbedürftigkeit des Rentenberechtigten in pauschalierender Form berücksichtigt (BT-Drucks 10/2677, S 23 f, A I 3 c bb). Wenn der Gesetzgeber die dritte Säule der Alterssicherung vollständig und die zweite Säule, die betriebliche Altersversorgung und die tarifvertragliche Zusatzversorgung, soweit sie als Zusatzleistung zur gesetzlichen Rente ausgestaltet ist, von der Anrechnung freistellt, so stellt dies bereits eine weitreichende Vergünstigung dar. Es besteht indes keine Veranlassung, diese Vergünstigung auch auf Zahlungen auszuweiten, die in Ausfluß des Arbeitsverhältnisses in der Übergangszeit zwischen vorzeitiger Beendigung der Tätigkeit und dem Beginn der gesetzlichen Rente gezahlt werden und dazu führen, daß in dieser Zeit Unterhaltsbedürftigkeit nicht oder nur gemindert besteht. Unter welcher Bezeichnung diese Leistungen erbracht werden, kann dabei keine Rolle spielen, sonst wäre der Manipulation Tür und Tor geöffnet.
Dieses Ergebnis und die Gesamtregelung der Einkommensanrechnung auf Hinterbliebenenrenten verstoßen im übrigen auch nicht gegen die Verfassung. Insoweit wird auf das Senatsurteil vom 15. November 1989 – 5 RJ 60/88 – (SozR 2200 § 1281 Nr 1), das Urteil des BSG vom 16. August 1990 – 4 RA 27/90 – (SozR 3-2200 § 1281 Nr 1) sowie die Entscheidung des BVerfG vom 18. Februar 1998 – 1 BvR 1318/1484/86 – (BVerfGE 97, 271, 283 ff = SozR 3-2940 § 58 Nr 1) Bezug genommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NWB 2001, 3223 |
ZAP 2001, 1254 |